TEILEN
Länder

Straßen, Dämme und Bergwerke – für wen?

Von Thadeus Pato | 01.11.2011

Der geplante Bau einer Straße durch das Gebiet der Indígenas in einem bolivianischen Naturreservat im Amazonastiefland, TIPNIS ( Territorio Indígena del Parque Nacional Isiboro Sécure), könnte eine Art Lackmustest dafür werden, wie ernst es die Regierung des Präsidenten Evo Morales mit dem von ihr selbst in der Verfassung verankerten Schutz von „Mutter Erde“ nimmt.

Der geplante Bau einer Straße durch das Gebiet der Indígenas in einem bolivianischen Naturreservat im Amazonastiefland, TIPNIS ( Territorio Indígena del Parque Nacional Isiboro Sécure), könnte eine Art Lackmustest dafür werden, wie ernst es die Regierung des Präsidenten Evo Morales mit dem von ihr selbst in der Verfassung verankerten Schutz von „Mutter Erde“ nimmt.

Aber nicht nur in Bolivien kommt es derzeit zu harten Konfrontationen zwischen Regierung, ausländischen Banken- und Konzerninteressen und der indigenen Bevölkerung.
Was ist geschehen?
Bereits im Jahr 2000 gab es ein Abkommen zwischen den zwölf südamerikanischen Ländern, ein Netz von Infrastruktur (Straßen, Eisenbahnen, Wasserwege) aufzubauen, um die regionale Integration zu fördern und eine Verbindung zwischen atlantischer und pazifischer Küste zu schaffen. Diese „Iniciativa para la Integración de la Infraestructura Regional Sudamericana“ (IIRSA- Initiative für die Integration der regionalen südamerikanischen Infrastruktur) wurde führend von Brasilien angestoßen, und es existiert ein Vertrag, in dem für den Bau einer Straße durch das bolivianische Amazonasgebiet 300 Millionen Real Kredit seitens der brasilianischen Bank BNDES (Nationale Bank für ökonomische und soziale Entwicklung) vorgesehen sind. Nutznießer ist die brasilianische Firma OAS, die den Zuschlag für das Projekt bekam.
Verbinden soll die 306 km lange Straße das Departement Cochabamba, das im Andenhochland liegt, mit dem Amazonastiefland, konkret dem Departement Beni. Und dabei treffen auch in Bolivien widerstreitende Interessen aufeinander: Die indigene Bevölkerung von TIPNIS wehrt sich mit allen Kräften gegen das Projekt, während die Cocabauern des Altiplano und ein Teil der Bauern des Tieflandes dafür sind. Im September eskalierte dann die Situation: Ein Protestmarsch der Indígenas auf La Paz wurde von den Bauern blockiert, die Polizei, die eigentlich die Indígenas schützen sollte, half de facto dabei, den Marsch aufzuhalten. Als der Kanzler, David Choquanca, am 24. September vermitteln wollte, behauptete die Polizei, er sei als Geisel genommen worden, überfiel am 25.9. das Camp der Indígenas, brannte es nieder und versuchte, sie mit Gewalt nach TIPNIS zurückzuschaffen. Das misslang – die örtliche Bevölkerung solidarisierte sich, und der Sturm der Entrüstung führte zu Rücktrittsforderungen an 4 Minister und fünf Abgeordnete der Regierungspartei MAS, der Innenminister trat aus Protest gegen das Vorgehen der Polizei zurück.

Der Marsch auf La Paz wurde fortgesetzt und Evo Morales machte zunächst einen Rückzieher: Er erklärte, er habe die Repression nicht angeordnet, beschuldigte die Polizei, absichtlich eskaliert zu haben, um ihn in Misskredit zu bringen, suspendierte die Arbeiten auf dem inkriminierten Streckenabschnitt und kündigte eine Befragung der Bevölkerung an. So ist es im Übrigen auch in der Verfassung vorgesehen. Aber Morales versucht zu tricksen: Es sollen auch die Bewohner außerhalb von TIPNIS befragt werden, die von der Straße profitieren würden….
Gemengelage
Die fünf großen Indigenaorganisationen Boliviens, die bei den letzten Wahlen alle in mehr oder weniger großem Maße Morales unterstützten (über 60 % der bolivianischen Bevölkerung sind indigener Abstammung) zogen noch bei der Erarbeitung der neuen Verfassung an einem Strang. Inzwischen gibt es Differenzen. Drei davon, die Morales und dem MAS näher stehen, unterstützen die Position der Regierung, aber Conamaq, die einen Teil der Hochlandbewohner vertritt, unterstützte die TIPNIS-Bewohner von Beginn an und die Organisation der indigenen Völker des Ostens, Cidop, organisierte den Protestmarsch.

Aber auch in den erstgenannten drei Organisationen gibt es interne Diskussionen, die bei den erfolgreichen Protesten gegen die inzwischen zurückgenommene Benzinpreiserhöhung ihren Anfang nahmen. Zum Beispiel gibt es bei den Cocabauern ein klares ökonomisches Interesse am Bau der Straße, und sie versuchten, die Protestbewegung dadurch zu diffamieren, dass sie ihr Kontakte zur US-Botschaft nachsagten.
Daneben gibt es massiven Druck seitens Brasiliens, die unterschriebenen Kontrakte umzusetzen. Brasilien hat ein strategisches Interesse an der Straßenverbindung und ist in der Durchsetzung von Infrastrukturprojekten auf Kosten der Umwelt noch nie zimperlich gewesen.
Das grundsätzliche Problem
Der derzeitige Konflikt um den Straßenbau in Bolivien ist nur ein Beispiel von vielen für den grundlegenden Widerspruch zwischen der Notwendigkeit der Erhaltung der natürlichen Umwelt, dem Klimaschutz und der Berücksichtigung der Lebensinteressen der indigenen Bevölkerung auf der einen Seite und den von staatlicher Seite geplanten ökonomischen und infrastrukturellen Konzepten auf der anderen.
Entgegen den öffentlichen Beteuerungen und den genannten Verfassungsartikeln basieren diese Konzepte in praktisch allen lateinamerikanischen Staaten auf ungebremstem Produktivismus, Extraktivismus und extensiver Industrialisierung. Einige aktuelle Beispiele:

  • Morales kündigte in einer Rede im Januar 2010 an, bis 2014 Wasserkraftwerke und petrochemische Anlagen zu bauen, außerdem soll die Lithiumförderung intensiviert werden. Die Mittel für die Entwicklung stammen ebenfalls aus der Ausbeutung der Bodenschätze, in erster Linie dem Erdgas. Sein Vizepräsident, Alvaro Garcia Linera benutzte für das Konzept explizit den Begriff „andiner Kapitalismus“.
  • Brasilien setzt ebenfalls auf die ungebremste Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, mit dem Staudamm von Belo Monte wird ein weiteres Kapitel der Zerstörung des Regenwaldes geschrieben.
  • In Ecuador plant ein kanadisches Bergbauunternehmen in der Provinz Azuay den Abbau von 3,3 Millionen Unzen Gold, 10 Millionen Unzen Silber und 79 Millionen Pfund Kupfer.
  • In Peru gibt es permanente Meldungen zu von den Minenunternehmen verursachten Umweltproblemen, so aktuell in Piura, Ayacucho und Tacna.

Widerstand
Die Aufnahme des Umweltschutzes in die Verfassungen von Bolivien und Ecuador kam nicht von ungefähr. Der Druck der indigenen Organisationen in beiden Ländern und die teilweise auch militant geführten Kämpfe gegen die internationalen Minen- und Ölkonzerne haben darin ihren Niederschlag gefunden.

Aber, wie man an der geschilderten Auseinandersetzung um TIPNIS wieder sehen kann, ist Papier ausgesprochen geduldig. Hinzu kommt, dass die Durchsetzungskraft der indigenen Organisationen unterschiedlich stark ist und ihre Interessen teilweise divergieren. Au&s
zlig;erdem wird stellenweise dazu übergegangen, statt (wie früher) offene Gewalt zur Durchsetzung umweltfeindlicher Projekte anzuwenden, schlicht zu bestechen. Im Falle des Monsterstaudamms von Belo Monte ist der Widerstand der Indígenas inzwischen fast zusammengebrochen – es wurde mit Summen, die für die Regierung respektive Betreiber Peanuts, für die Betroffenen aber das Gegenteil darstellen, der Protest mit Geld weitgehend erstickt.

Auf der anderen Seite gibt es inzwischen eine Vernetzung der indigenen Bevölkerung und der Umwelt- und Klimaschutzbewegung über Ländergrenzen hinweg und der entsprechende Erfahrungsaustausch ist eminent wichtig. In Ecuador fand Anfang Oktober eine Volksabstimmung in zwei vom genannten Minenprojekt betroffenen Gemeinden statt. 92 % sprachen sich gegen die Erschließung aus – Ergebnis der Erfahrungen, die andernorts gemacht wurden. Und die BewohnerInnen von TIPNIS brachten von einem Treffen zwischen Indígenas aus Peru, Brasilien und Bolivien Folgendes mit: „Die Brasilianer sagten: Solche Straßen sind immer zu unserem Schaden.“
Alternativen?
Der immanente Konflikt zwischen „Entwicklung“ und Schutz der Ökosphäre ist nicht im Sinne eines „Kompromisses“, sondern nur durch eine integrierte Vorgehensweise zu lösen. Im Zeitalter des drohenden Kollapses der Ökosphäre gibt es keine Kompromisse. Deshalb ist die Anwendung tradierter, aus der kapitalistischen Ökonomie stammender Wachstumsmodelle ungeeignet. Das Gerede vom „andinen Kapitalismus“ als Lösungsweg ist Unfug. Ohne eine radikale Abkehr von den wachstums- und profitorientierten Strategien, die im Prinzip nichts anderes sind als der (erneute) Versuch einer nachholenden Akkumulation und industriellen Entwicklung nach der Blaupause exakt der Produktionsweise, die die rasante Zerstörung der Ökosphäre zu verantworten hat, geht es nicht. Wie die genannten Beispiele zeigen, hat zumindest ein Teil der indigenen Bevölkerung das begriffen. Das bolivianische Parlament hat jedenfalls als Reaktion auf den Widerstand inzwischen laut latinapress ein Gesetz verabschiedet, das den Bau der Straße durch TIPNIS aufschiebt. Und Evo Morales überlegte es sich anders: Am 21.10. kündigte er an, dass die Route der Straße geändert wird und somit nicht durch TIPNIS führen werde.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite