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Länder

Soziale Lage in den USA: Wut im Bauch

Von Nicolas Latteur | 01.07.2003

Während sich die USA seit dem 11. September 2001 im Krieg wähnen, betreibt die herrschende Klasse dieses Landes bereits seit 25 Jahren einen rücksichtslosen Angriff … auf die ArbeiterInnen und unteren Schichten der USA. Wir entnehmen den Artikel La Gauche, Zeitung der POS/SAP, belgische Sektion der IV. Internationale.

Während sich die USA seit dem 11. September 2001 im Krieg wähnen, betreibt die herrschende Klasse dieses Landes bereits seit 25 Jahren einen rücksichtslosen Angriff … auf die ArbeiterInnen und unteren Schichten der USA. Wir entnehmen den Artikel La Gauche, Zeitung der POS/SAP, belgische Sektion der IV. Internationale.

Seit inzwischen 25 Jahren führen die Herrschenden in den USA einen gnadenlosen sozialen Krieg gegen den sog. "Wohlfahrtsstaat". Sie setzen auf die Wiederkehr eines alten Ordnungsmythos, in dem die natürlichen Marktgesetze ohne Einschränkungen funktionieren und die Verfolgung der Einzelinteressen das "Gesamtwohl" garantieren würden.

Flankiert von den monetaristischen pressure-groups ist es das Anliegen dieser konservativen Revolution, dem Kapital zu grenzenloser und unkontrollierter Mobilität zu verhelfen, die Wirtschaft entlang kurzfristiger Anlegerinteressen zu reorganisieren, die Organisationen und Gesetzesbestimmungen zum Schutz der Lohnabhängigen zu schwächen und alle sozialen Beziehungen den Marktmechanismen zu unterwerfen.

Ihre Legitimation schöpft sie aus der Propaganda der "Beratergremien", die mit dreistelligen Millionenbeträgen aus Wirtschaftskreisen finanziert werden. Deren Ideologen dominieren die öffentliche Diskussion durch massive Propagandakampagnen, in denen sie unaufhörlich jedweden kollektiven Lösungsansatz für die Probleme der ArbeiterInnen als Hemmnis für die Freiheit des Individuums denunzieren. […] Dieses Modell dient einzig der Rechtfertigung der individuellen Bereicherung und hat sich gleichwohl rasend schnell verbreitet.
Kriminelle Energie
Die jüngsten Finanzskandale haben wieder einmal mehr die Verfilzung von politischer und wirtschaftlicher Macht aufgezeigt. Exemplarisch ist der Fall der Energiemaklergesellschaft Enron, die ihre Beziehungen zum Bush-Clan ausgespielt hat, um sich Gesetze auf den Leib schneidern zu lassen. Im Gegenzug für großzügige finanzielle Zuwendungen an die Bush-Sippe und die Politikerkaste hat diese Lobby dafür gesorgt, dass der US-Kongress 1996 einem Gesetz zur Liberalisierung des Energiesektors zugestimmt hat, der Enron obendrein 4 Milliarden Dollar für Auslandsgeschäfte bewilligte. In deren Folge kam es zu Krisen in Indien, Panama und im eigenen Land. Die Privatisierung des Energiesektors hat Enron enorme Profite beschert, dem Verbraucher hingegen nur geschadet, wie das Beispiel der Neu-England-Staaten zeigt, wo die Stromkosten um das 200-fache gestiegen sind.

Die ArbeiterInnen des Unternehmens gingen natürlich leer aus. Als eine Kommission die Börsengeschäfte unter die Lupe nahm und dadurch den Aktienkurs zum Einsturz brachte, versilberten die Unternehmensbosse ihre Aktienoptionen rasch für eine Milliarde Dollar, während ihre Angestellten, die zuvor noch gehalten wurden, ihre Rentenersparnisse in Enron-Aktien zu investieren – bei gleichzeitigem Verbot, diese vor Ablauf mehrerer Jahre zu verkaufen – ihre Stelle verloren und die gesamten Ersparnisse fürs Rentenalter.
Sozialabbau ohne Grenzen
Was soll man von der Ethik eines Systems halten, in dem 75% des erzeugten Reichtums von 10% der Bevölkerung vereinnahmt werden und "wo die Profite seit 1989 um 50% gestiegen sind, während die Reallöhne beim Gros der Bevölkerung noch nicht einmal das Niveau von 1973 wiedererlangt haben …, wo 42,6 Millionen Menschen keinen Krankenversicherungsschutz haben, wo 32 Millionen Menschen – darunter 12 Millionen Kinder – in Armut leben und wo die öffentliche Infrastruktur auf den Hund kommt?" Ein System, in dem die Einkommen des reichsten Prozents zwischen 1983 und 1999 um 157% gestiegen ist, während der Rest der Bevölkerung immer weniger verfügbares Geld hat.

Ursächlich für diese Umstände ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit, das sich in vier zentralen Bereichen drastisch verschlechtert hat:

  1. Die strikt monetaristische Politik, deren Ziel die Eindämmung der Inflation und die Sicherung der Gewinne des Finanzkapitals ist und an deren Ende eine zweifache Rezession stand mit der Folge eines einschneidenden Umbaus der Industriestruktur;

  2. Maßnahmen zur Deregulierung des Arbeitsmarktes, die dem Kapital größere Mobilität und eine Flexibilisie rung der Arbeitskraft ermöglichen;

  3. Eine degressive Steuerpolitik, die Kapitaleinkünfte begünstigt;

  4. Der Angriff auf Organisationen und Bestimmungen zum Schutz der Arbeiter vor den Risiken der Marktwirtschaft.


Begonnen wurde mit dieser Politik Ende der 70er Jahre unter Carter. Unter den Präsidenten Reagan, Bush und Clinton wurde sie noch verschärft und erfährt heute unter Bush jr. eine Fortsetzung. Anliegen der neoliberalen Politik ist es, die "reine Konkurrenz" des Marktes wieder herzustellen, da angeblich nur dadurch eine "gerechte Verteilung" erzielt werden kann. Die (hohen) "Lohnkosten" wurden moniert und es galt, die günstigsten Investitionsbedingungen zu schaffen. "Out-sourcing und Deindustrialisierung wurden die Schlagwörter dieser Strategie." 53% der abgebauten Arbeitsplätze wurden nicht durch andere ersetzt.

Weiterer Angriffspunkt war die Arbeitsgesetzgebung. Mindestens ein Drittel der Arbeitsplätze, die durch gewerkschaftlich ausgehandelte Tarifverträge abgesichert waren, wurden abgebaut. Indem die entsprechenden Schutzbestimmungen abgeschafft wurden, können die Gewerkschaften wieder als Organisationen belangt werden, die gegen die freie Konkurrenz verstoßen. Verboten ist, Streikaufrufe vor den Unternehmen zu verteilen, während den Unternehmern erlaubt ist, Streikende zu entlassen, die ihre KollegInnen zur Arbeitsniederlegung aufrufen.

Die Rechtsprechung wurde weitgehend geändert. Unternehmen mit Staats-aufträgen wurden von der Verpflichtung entbunden, die gesetzlichen Mindestlöhne zu zahlen. Regelungen zur bevorzugten Einstellung von Minderheiten wurden gelockert, ebenso die Gesetze über Sicherheit und Hygiene am Arbeitsplatz. Das 70 Jahre alte gesetzliche Verbot der Kinderarbeit wurde abgeschafft. Den Unternehmern wurde gestattet, Tarifverträge vorzeitig zu kündigen, um Zugeständnisse über Lohn und Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Zweierlei Lohnstaffeln sind mittlerweile vielerorts üblich, wobei Neueingestellte mitunter bloß 55% der Löhne der "alten" Belegschaft erhalten. Die Unternehmer können ungeniert entlassen, wenn die Absätze zurückgehen, und anschließend wieder neu einstellen.

In den vergangenen 20 Jahren kam es zu einer besorgniserregenden Zunahme der Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle. Da die Kontrollen zurückgefahren wurden, machen die Unternehmer Druck, dass Berufskrankheiten und Arbeitsunfälle nicht als solche deklariert werden. Anstelle der Überwachungsorgane wurden unter Clinton bloße Anh&o
uml;rungen eingeführt, deren Ergebnisse keinerlei Verbindlichkeit für die Unternehmer haben.
Die Zerschlagung des „Wohlfahrtsstaates“
Im Zuge des ökonomischen und kulturellen "roll back" ist die öffentliche Fürsorge zunehmend ins Visier geraten. Den Wirtschaftkonservativen geht es dabei um ihre kurzfristigen Interessen: durch Senkung der Steuern und Lohnkosten sollen die prekär Beschäftigten gezwungen werden, Arbeit zu jedweden Löhnen und Bedingungen zu akzeptieren. Die Vorausblickenden witterten schon früh das Bombengeschäft, das sich mit Versicherungsverträgen nach Privatisierung der Sozialversicherung machen lassen würde. Durch diesen Angriff auf das soziale Sicherungssystem wurden im Staatshaushalt die Mittel für eine Steuersenkung bei gleichzeitigen Etaterhöhungen für das Pentagon frei.

Die sozialen Sicherungsvorkehrungen wurden permanenten Diskreditierungskampagnen ausgesetzt. Mit dem Argument, dass Arbeitslosenversicherung kostspieliger Luxus sei und zum Nichtstun ermuntere, erhob Reagan von den Bundesstaaten 10% Abgaben auf alle Bundesschatzanleihen, um damit Ausgaben für ein Arbeitslosenprogramm zu bestreiten. Gleichzeitig verschärfte er die Zugangsbestimmungen. Infolge dieser Reformen waren nur noch 38% der Arbeitslosen durch die Versicherung abgedeckt. Von Januar 2002 an gerechnet verlieren täglich 11.000 Arbeiter ihren Rechtsanspruch. Die zentralen Hilfsprogramme für Bedürftige wurden abgeschafft. […]

Im Windschatten dieser ideologischen Offensive konnte Clinton noch Reagans Politik übertrumpfen. Der Bezug von Sozialhilfe wurde auf 5 Lebensjahre begrenzt. Den Bundesstaaten wurden die Haushaltsmittel für entsprechende Programme um 25% gekürzt. Nach Ausschöpfung der Haushaltsmittel werden neue Antragsteller nicht mehr berücksichtigt. Jeder erwachsene Leistungsempfänger muss nach zweijähriger Bezugsdauer eine bezahlte Tätigkeit in der Privatwirtschaft aufnehmen oder sich in eines der speziellen Programme der lokalen Behörden eingliedern – ansonsten werden ihm die Leistungen gestrichen. Frauen, die während des Bezugs von Sozialhilfe ein weiteres Kind bekommen, werden von der weiteren Förderung ausgeschlossen.

Die Arbeitsverpflichtung der Sozialhilfeempfänger zur Reinigung der Straßen und Parks hat der Stadt New York Einsparungen von 500 Millionen Dollar gebracht. Auch private Arbeitgeber profitieren davon. Während 1993 auf 36% der armen Familien eine voll arbeitende Person entfiel, sind es mittlerweile 44,5%.

Bush jr. sonnt sich im Erfolg dieser Gesetze und beabsichtigt, sie noch weiter auszubauen. Zudem macht er sich an die Privatisierung der Altersrenten und betreibt die Zerschlagung des öffentlichen Gesundheitswesens und die Privatisierung des Erziehungswesens. Obendrein werden die ohnehin schon dürftigen Einrichtungen zur Bekämpfung der Rassendiskriminierung außer Kraft gesetzt oder geraten in Vergessenheit.
Eine Konterrevolution
Die konservative Offensive bedeutet eine regelrechte politische Konterrevolution. Ihr Bestreben ist es, alles zu zerschlagen, was auf mehr soziale Gleichheit abzielt und das Ergebnis darstellt von Mobilisierungen und politischen Kämpfen der Gewerkschaften in den 30er Jahren, der Bürgerrechtsbewegung in den 50ern und aller sozialen Bewegungen der Minderheiten und Frauen in den 60ern.

Aber damit ist noch nicht genug. Die Großkonzerne haben die Öffentlichkeit regelrecht gepachtet. Sie kontrollieren die Medien, finanzieren die Parteien und diktieren deren Programme. Andererseits organisiert sich Widerstand und entwickeln sich soziale Bewegungen. Nach und nach formiert sich ein "anderes Amerika".

[..] Langsam aber sicher macht sich diese Art von Politik auch in Europa breit. […] Es liegt an den sozialen Bewegungen und der radikalen Linken, ob das Ruder herumgeworfen werden kann.

Übersetzung: MiWe

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