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„Soziale Auseinandersetzungen: Frankreich geht einen Sonderweg“

Von Pierre Vandevoorde | 01.11.2009

Dieser Titel einer kürzlichen Meldung der Nachrichtenagentur AFP ist ganz und gar gerechtfertigt. Eierwürfe auf leitende Angestellte, handgreifliche Zusammenstöße, Bossnapping, Verwüstungen von Büros, Drohungen, alles in die Luft zu sprengen: Seit neun Monaten sind die Reaktionen auf die Ankündigung von Entlassungen oder Werksschließungen radikaler und unkontrollierbarer geworden, was sehr wohl die Bourgeoisie aber auch die Spitzen der Gewerkschaften beunruhigt.

Dieser Titel einer kürzlichen Meldung der Nachrichtenagentur AFP ist ganz und gar gerechtfertigt. Eierwürfe auf leitende Angestellte, handgreifliche Zusammenstöße, Bossnapping, Verwüstungen von Büros, Drohungen, alles in die Luft zu sprengen: Seit neun Monaten sind die Reaktionen auf die Ankündigung von Entlassungen oder Werksschließungen radikaler und unkontrollierbarer geworden, was sehr wohl die Bourgeoisie aber auch die Spitzen der Gewerkschaften beunruhigt.

Am 2. Oktober ist die Polizei bei Freescale (Ex-Motorola, Hersteller von elektronischen Bauteilen), wo die Beschäftigten seit 4 Wochen im Streik sind, in Kampfanzügen in das Werk eingedrungen, um den Direktor und zwei Verantwortliche der Personalabteilung zu „befreien“, die vom Streikkomitee im Anschluss an eine Verhandlung über Abfindungen festgehalten worden waren. Dort sollen infolge der Schließung der Fertigungsabteilung von insgesamt 1600 Beschäftigten 800 entlassen werden.

Diese Radikalisierung hatte am 19. März 2009, dem zweiten landesweiten Aktionstag begonnen, an dem – nach dem 29. Januar mit 2 Millionen Demonstrierenden – jetzt 3 Millionen teilnahmen. Dies alles hatte sich vor dem Hintergrund des Generalstreiks auf Guadeloupe vom 20. Januar bis 4. März entwickelt; in diesen 6 Wochen war es gelungen, einen Kompromiss zu erringen, der allgemein als ein Sieg gewertet wurde. So hat sich in diesem allgemeinen Klima bei Molex, Continental, Sony oder Caterpillar, also bei internationalen Konzernen, die mit Unterstützung staatlicher Stellen zu keinen Zugeständnissen bereit waren, die Stimmung entwickelt, dass hart zurückgeschlagen werden muss, um etwas in Bewegung zu bringen. Und jedes Mal wurde damit etwas erreicht.

Aber nach dem wunderbaren Erfolg des 19. März haben die Führungen der großen Gewerkschaften, gemeinsam unterstützt von PS, PCF und PG (siehe Kasten), Angst vor einer unkontrollierten Entwicklung dieser Proteste gehabt und haben sich zusammengetan, um die nächste Aktion jämmerlicherweise auf den 1. Mai zu legen und damit die Bewegung zu beerdigen und eine Phase der Verunsicherung und Demoralisierung einzuleiten, aber auch der Wut und isolierter Aktionen.

In dieser Phase hat der Kampf der Kolleg­Innen von Continental in Amiens die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Innerhalb von vier Monaten gab es diverse Betriebsblockaden, etwa 30 Demonstrationen (darunter eine in Hannover und einige in anderen Zweigwerken), die Zerstörung der Kreisverwaltung in Oise. Die 1120 Arbeiter­Innen des Werks haben dann Ende Mai eine Abfindung von 50 000 € bekommen zusätzlich zu den gesetzlich vorgeschriebenen Abfindungen , sowie die volle Zahlung des Gehalts bis Ende Oktober und ein Umschulungsgehalt während 23 Monaten bis Ende 2011 unter Beibehaltung des Arbeitsvertrags und der faktischen Garantie, bis 2014 mindestens 75 % ihres Gehaltes zu beziehen.
Welche Initiative?
Auch wenn wir dieses beeindruckende Ergebnis begrüßen, so müssen wir doch auch festhalten, dass die betriebliche Kampfführung, die stark von LO und ihrer düsteren Gesamtperspektive beeinflusst ist, nicht die übergreifende Parole des Verbots und der Verhinderung von Entlassungen übernehmen wollte (also nicht die Parole unterstützte „Keine Entlassungen bei Continental und auch nicht anderswo“) und auch keine Initiative für eine Koordination der Belegschaften ergriffen hat, die mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert sind, um zu einer zentralen Demonstration in Paris aufzurufen und damit den bürokratischen Klotz zu sprengen, der auf den Kämpfen lastet. Es handelt sich hier nicht um unterschiedliche politische Anschauungen, sondern ganz konkret um das, was sehr viele betriebliche Kollektive und kämpferische Arbeiter­Innen erwartet haben.

Die zweite Welle im Sommer hat dann zwar weiterhin den anhaltenden Widerstand der Arbeiter­Innen demonstriert, aber eben doch mit dem Rücken an der Wand. Sie haben sich dann nur noch auf die Erzielung möglichst hoher Abfindungen konzentriert. Hier ist anzumerken, dass die Aufmerksamkeit, die der Kommunikation beigemessen wird, ein neues Element ist, das auch in allen anderen aktuellen Kämpfen eine große Rolle spielt: Man begnügt sich nicht mehr mit Flugblättern, sondern richtet eine Website, einen Blog usw. ein, denn die Aktivist­Innen in diesen Kämpfen haben begriffen, dass es unabdingbar ist, sich weit jenseits der unmittelbaren betrieblichen Umgebung bekannt zu machen, um gehört zu werden. Nach einer ersten lokalen Phase („Schaut her, wir existieren“) geben sich sehr schnell nicht mehr damit zufrieden, in einem regionalen Fernsehprogramm aufzutauchen. Sie wollen landesweit im Fernsehen gesehen werden und um zu erreichen, dass das Fernsehen kommt, muss eine sehr starke Medienarbeit betrieben werden. So erklärt sich auch in vielen Fällen die Drohung, alles in die Luft zu sprengen, oder auch einen Fluss zu verseuchen.

Im Juli haben sich alle Augen auf die 366 Beschäftigten des Automobilzulieferers New Fabris gerichtet, die damit drohten, ihre zur Schließung vorgesehene Fabrik in die Luft zu sprengen, wenn sie nicht eine Abfindung von 30 000 € erhalten. Der Industrieminister Christian Estrosi persönlich schlug dann eine Summe von 11 000 € vor, die Arbeiter­Innen lehnten ab. Sie riefen zu einer Demonstration bei ihnen auf, im zentral gelegenen Châtellerault, und zwar am 30. Juli, mitten in den Ferien. Das wurde zu einem Erfolg: mehrere Tausend Demonstrant­Innen, darunter sehr sichtbar die NPA, 26 Delegationen aus allen Teilen Frankreichs, Bildung eines nationalen Kollektivs „gegen die Gauner von Chefs“.
Zum großen Teil waren dies gewerkschaftliche Aktivist­Innen, die sich ebenfalls nicht auf die Hilfe durch ihre Gewerkschaftsverbände stützen können. Ihre Feststellung war recht einfach: „Es wäre die Aufgabe der Gewerkschaftsverbände, für die Koordinierung der Kämpfe zu sorgen. Da sie es nicht tun, müssen wir das tun“. Dennoch allerdings hat die Mehrheit der Beschäftigten von New Fabris das Kräfteverhältnis so eingeschätzt, dass es nicht möglich war, mehr zu erreichen und akzeptierte schweren Herzens die Abfindung von 12 000 € zusätzlich zur gesetzlich vorgeschriebenen.

Die kleine Fackel, die in New Fabris entzündet worden ist, wurde am 5. September durch die CGT des Ford-Werkes in Bordeaux aufgegriffen und weitergetragen. Sie empfing die Vertreter­Innen von 25 Betrieben trotz des Drucks der jeweiligen Verbände (mit Ausnahme der in der Koordination „Solidaires“ zusammengeschlossenen kleineren Verbände, die aber in der Industrie so gut wie nicht vertreten sind). Die CGT-Führung hat sich sogar den Luxus erlaubt, die Konflikte zu kritisieren, in denen für höhere Abf
indungen gekämpft wird statt für den Erhalt des Arbeitsplatzes. Sie bekam daraufhin von Xavier Mathieu, dem Streikführer und CGT-Vertreter von Continental folgende Antwort, die von allen Medien wiedergegeben wurde: „Wir haben die Führer der CGT überhaupt nicht gesehen, noch nicht mal einen Anruf haben wir erhalten. Die Thibaults  und Konsorten können nur mit der Regierung verkehren und die Basis beruhigen. Das ist das Einzige was sie können, dieser ganze Abschaum“.

Unter dem Druck der kämpferischen Basis aus dem Automobilsektor musste die CGT-Führung die Organisierung einer landesweiten Versammlung vor der Pariser Börse zugestehen und durchführen. Dort mussten die Gewerkschaftsführer mit verkrampftem Lächeln zusehen, wie 3000 kämpferische Arbeiter­Innen die Parole „Verbot von Entlassungen“ aufgriffen. Leider war es nicht möglich, eine wirkliche Koordination der vertretenen Belegschaften zu etablieren. Die nächste Gelegenheit ist der 22. Oktober, eine nationale Versammlung, die von der CGT organisiert wurde und bei der es darum geht, „industrielle Lösungen für die Krise“ zu fördern (in Wirklichkeit wird dabei stark auf die Losung des „Produzieren wir französisch!“ zurückgegriffen). Angesichts fehlender anderer Gelegenheiten wollen viele betriebliche Gewerkschaftsgliederungen dieses Ereignis nutzen, um die Notwendigkeit zu unterstreichen, alle Arbeitsplätze zu verteidigen. Mehrere wichtige betriebliche Gewerkschaftsgliederungen wie etwa von GM in Strasbourg, Ford in Bordeaux, der Metallbetriebe im Departement Nord Pas de Calais, haben beschlossen, sich hinter dem Transparent „Verbot aller Entlassungen“ zu versammeln.

Diese aktuelle Phase des Klassenkampfs in Frankreich ist also nicht wirklich ein Ausdruck eines wachsenden Bewusstseins von der Schädlichkeit des kapitalistischen Systems und der Notwendigkeit, es abzuschaffen, sondern vielmehr ein Ausdruck des Willens, sich so teuer wie möglich zu verkaufen angesichts der allgemein anerkannten Tatsache, dass die gewerkschaftlichen Apparate sich mit der etablierten Ordnung abgefunden haben und passiv bleiben. Die Frage ist jetzt, ob die kämpferischen gewerkschaftlichen Kollektive in den Betrieben in der Lage sind, sich zu koordinieren, um eine Situation zu deblockieren, die potenziell explosiv bleibt. Das ist beispielsweise auch in dem von unten organisierten „wilden Referendum“ gegen die Privatisierung der Post zum Ausdruck gekommen, bei dem mehr als 2 Millionen Stimmen zusammenkamen. Die NPA tut alles in ihren Möglichkeiten Stehende, damit dies gelingen wird. n
Übers.: D. B.

1      Das sind gesetzlich 20 % (tariflich 30 %) eines Monatsgehalts pro Beschäftigungsjahr (D. B.); die Beschäftigten von Continental haben 60 % herausgeholt.
2      Lutte ouvrière ist nach der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) die zweite bedeutende revolutionäre Organisation in Frankreich. (D. B.)
3     Thibault ist der CGT-Vorsitzende. (Anm. D. B.)

 

Parteienlandschaft
Die PS ist die sozialdemokratische „Sozialistische Partei“, die seit Jahren, fast genauso stark wie die SPD, neoliberale Politik betreibt; die PCF, die Kommunistische Partei Frankreichs, hat nur noch auf lokaler Ebene eine gewisse Bedeutung und ist ansonsten reine Mehrheitsbeschafferin für die PS; die neu gegründete Parti de Gauche (PG), Linkspartei, ist eine Abspaltung von der PS, weil ihr der Kurs der PS zu neoliberal ist; sie steht politisch zwischen der PS und der KP. Anm. von D. B.

 

 

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