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Innenpolitik

Sinnvoller Widerstand

Von Walter Weiß | 01.02.2009

Der Sozialabbau im Allgemeinen, die Agenda 2010 im Speziellen und die sogenannten Hartz IV- Reformen erfahren zurzeit keinen nennenswerten Widerstand. Einzig die Klagewelle vor den Sozialgerichten ist Ausdruck einer in die Fläche gehenden Opposition. Aber Einzelne und kleine Gruppen bieten dem System die Stirn. In Hagen (Ruhrgebiet) ist die Auseinandersetzung um die Heizkostenpauschale zwischen Betroffenen und der Arbeitsgemeinschaft für die Stadt Hagen (ARGE) dafür ein Beispiel.

Der Sozialabbau im Allgemeinen, die Agenda 2010 im Speziellen und die sogenannten Hartz IV- Reformen erfahren zurzeit keinen nennenswerten Widerstand. Einzig die Klagewelle vor den Sozialgerichten ist Ausdruck einer in die Fläche gehenden Opposition. Aber Einzelne und kleine Gruppen bieten dem System die Stirn. In Hagen (Ruhrgebiet) ist die Auseinandersetzung um die Heizkostenpauschale zwischen Betroffenen und der Arbeitsgemeinschaft für die Stadt Hagen (ARGE) dafür ein Beispiel.

Der Sozialaktivist Heinz O. (Name geändert) ärgert sich seit Jahren wie andere Betroffene über die pauschale Abrechnung seiner Heizkosten, die in keiner Relation zum tatsächlichen Bedarf stehen. Mehrfach legte er Widerspruch ein. Seine Argumente sind einleuchtend, denn der Zustand von Wohnungen ist nicht nur durch das Baujahr definiert, sondern auch durch ihre Lage, Isolierung, Lage des Hauses, Art der Heizung usw. usf. Heinz O., der auch über nennenswerte Kenntnisse im Bauingenieurwesen verfügt, konnte solche Argumente, die jedem Normalsterblichem unmittelbar einsichtig sind, ins Feld führen. Er und seine Mitstreiter­Innen um die „Gruppe Weiße Taube“, zum Teil ehemalige Mitglieder des Netzwerks Linke Opposition und aus dem Umfeld der Montagsdemonstration, zweifelten immer mehr an der Rechtmäßigkeit der Heizkostenpauschale. Erwähnenswert ist die Präsenz der Gruppe vor der ARGE und der Agentur für Arbeit mit Flugblättern und Transparenten, vor allem, wenn die Bundeswehr in Letzterer um neue Angehörige für die Streitkräfte wirbt, um die „Verteidigung der Freiheit“ am Hindukusch sicherzustellen.
Hintergrund
Wir können die Vorgänge aufgrund des umfangreichen Schriftverkehrs nur grob skizzieren, sie einer politischen Wertung unterziehen und enthalten uns angesichts eines offenen Verfahrens einer juristischen Würdigung.

So teilte die ARGE im März 2007 mit: „Wie bereits mündlich ausgeführt, teile ich Ihnen im Nachgang zu dem Ablehnungsbescheid auch in Schriftform mit, dass für die ARGE die von der Stadt Hagen festgelegten Heizkostenpauschalen für die Prüfung der Angemessenheit maßgeblich sind. Möglicherweise anderslautende Einstufungen der Angemessenheit durch die Mark E binden mich nicht. Auch gerichtliche Urteile in Einzelfällen sind solange nicht relevant, als dadurch nicht die Stadt Hagen ihre generelle Auffassungslage und Weisungslage ändert.“
Bei Heinz O. wurden die Kosten nicht in tatsächlicher Höhe erbracht, sodass Energieschulden in Höhe von 859,78 Euro entstanden. Die ARGE stellte nur ein Darlehen statt Beihilfe zur Verfügung. Gläubiger war nun die ARGE Hagen, die 34,70 Euro vom Regelsatz einbehält und die nicht übernommenen Energieabschlagszahlungen an das Energie­unternehmen Mark E weiterleitet. Dem Betroffenen verblieben nur noch 294,82 Euro vom äußerst bescheidenden Regelsatz. Die Geschichte war mittlerweile längst ein lokalpolitisches Politikum, da der Rat der Stadt Hagen bereits in mehreren Bürgerfragestunden von Hartz IV-Betroffenen mit der Problematik konfrontiert worden war. Diese Praxis im Zusammenhang mit der Heizkostenpauschale wurde als Rechtsbeugung empfunden. Es war Zeit zum Handeln.
Eine Strafanzeige
Die Staatsanwaltschaft Hagen erhielt mit Datum vom 31.10.2008 eine „Strafanzeige wegen Rechtsbeugung (§ 339 StGB) und möglicherweise anderer strafrechtlich relevanter Handlungen“ u. a. „gegen Herrn Peter Demnitz, Oberbürgermeister der Stadt Hagen; Herrn Dr. Christian Schmidt, Sozialdezernent und 1. Beigeordneter der Stadt Hagen (…) Frau Eva-Maria Kaus-Köster, seit Juli Geschäftsführerin der ARGE Hagen,  und namentlich nicht genannte weitere Verantwortliche der Stadt und der ARGE Hagen. Wegen Nicht-Zahlung/Nicht-Bewilligung der angemessenen, tatsächlichen Heizkosten gemäß § 22 SGB II.“

Unterzeichnet ist die Anzeige in alphabetischer Reihenfolge von Heinz O. und seinen Mitstreiter­Innen. Die Stadt habe von 2005 bis heute den Bezieher­Innen von ALG II und Grundsicherung die Heizkosten anhand der „für die Stadt Hagen festgelegten wirtschaftlichen Heizkostenwerte“, also pauschaliert bewilligt. Dafür fehle den SGB II/SGB XII-Leistungsträgern aber eine Rechtsgrundlage. Sie verweisen auf ein Urteil des Bundessozialgerichts vom 7.11.2006 und eine Antwort der Bundesregierung auf die Anfrage einiger Bundestagsabgeordneter (entsprechende Dokumente unter www.sozialbetrug.org, Stichwort: Anzeige wegen Rechtsbeugung von don joe). Die Ablehnung der Staatsanwaltschaft findet sich in folgenden Zeilen: „Die von Ihnen behauptete Nicht-Zahlung/Nicht-Bewilligung der angemessenen tatsächlichen Heizkosten stellt möglicherweise eine fehlerhafte Anwendung des Rechtes dar, den Tatbestand der Rechtsbeugung erfüllt ein solches Verhalten nicht. Da auch sonstige Tatbestände nicht ersichtlich sind, die – Ihr Sachvortrag als wahr unterstellt – durch die Beschuldigten verwirklicht worden sein könnten, kam die Einleitung von Ermittlungen nicht in Betracht.“

„Weiße Taube ist gescheitert“ kommentierte die Westfälische Rundschau am 26.11.2008. Doch die Betroffenen legten am 4. Dezember 2008 Beschwerde gegen den Bescheid der Staatsanwaltschaft Hagen beim Generalstaatsanwalt in Hamm ein. Also von Resignation keine Spur. Avanti wird den Verlauf weiter dokumentieren, damit er, wie es die Betroffenen formulieren, „ein Flächenbrand werde!“ Doch das Beharren auf ihrem Standpunkt hat bereits Wirkung erzielt.
Erste Konsequenzen
Im Sommer entwickelte sich bei der Stadtspitze eine neue Orientierung. Öffentlich wurde sie anlässlich einer Anfrage der Ratsfraktion von „Bündnis90/Die Grünen“, initiiert von einem Mitunterzeichner dieser Anzeige, an die Stadtverwaltung. So findet sich im Internetportal der WAZ „Der Westen“ vom 31.07.2008 folgender Text: „Stadt muss mehr Heizgeld zahlen. ‚Hartz IV‘-Empfänger dürfen darauf hoffen, dass ihnen in Hagen zukünftig die tatsächlichen Heizkosten erstattet werden. Auf die Stadt kommen damit Mehrkosten in Höhe von mindestens 1,1 Mio. pro Jahr zu. Das jedenfalls schätzt Sozialdezernent Dr. Christian Schmidt. Sollte die Stadt rückwirkend zahlen müssen, könne die Summe sogar auf 3 bis 4. Mio. anwachsen.“ Welche Summe da bundesweit eventuell zusammenkommt, lässt sich nur ahnen. Die Rechtmäßigkeit der gängigen Praxis wurde wohl zu Recht, wie viele Gerichtsurteile belegen, angezweifelt.

Nach unseren Informationen hat die Stadt das bisherige Verfahren eingestellt und zahlt künftig nach besonderer Berücksichtigung die tats&aum
l;chlichen und angemessenen Heizkosten. Ob damit die Pauschalisierung vom Tisch ist und ob jeder im Einzelfall seine Ansprüche durchsetzen muss, werden die weiteren Ereignisse zeigen. Auf jeden Fall wird die bürokratische Hydra ARGE um einige Köpfe anwachsen. Aber der Widerstand zeigt erste Erfolge und auch Heinz O. erhält ausstehende Gelder. Bemerkenswert sind die anhaltende Resistenz und der zivilgesellschaftliche Widerstand der Betroffenen.

Es wäre wünschenswert, wenn die Akteur­Innen vielleicht eine Dokumentation der komplexen Ereignisse erstellen könnten, die bundesweit bekannt würde. Sie wünschen sich jedenfalls eine Vernetzung der Aktivitäten, um so einen Beitrag zum Aufbau einer breiten Widerstandsfront zu leisten. Das deckt sich mit unseren Überzeugungen.

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