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Geschichte und Philosophie

Sigmund Freud: Von der Objekt- zur Subjektwissenschaft

Von Helmut Dahmer | 01.09.2006

Die Mediziner der Generation vor Freud hatten mit der romantischen Naturphilosophie, ja, mit Philosophie überhaupt gebrochen und für die naturwissenschaftliche Erforschung und Therapie des menschlichen Organismus einen materialistisch-physiologischen Deutungsrahmen abgesteckt, der für die Hauptströmung der Medizin noch heute verbindlich ist. Seit den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte der junge Physiologe und Neurologe Freud, der Ätiologie  der Hysterien und Zwangsneurosen auf die Spur zu kommen, um für diese damals gehäuft auftretenden psychischen Störungen eine geeignete Therapie zu finden.

Die Mediziner der Generation vor Freud hatten mit der romantischen Naturphilosophie, ja, mit Philosophie überhaupt gebrochen und für die naturwissenschaftliche Erforschung und Therapie des menschlichen Organismus einen materialistisch-physiologischen Deutungsrahmen abgesteckt, der für die Hauptströmung der Medizin noch heute verbindlich ist.

Seit den frühen achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts versuchte der junge Physiologe und Neurologe Freud, der Ätiologie1  der Hysterien und Zwangsneurosen auf die Spur zu kommen, um für diese damals gehäuft auftretenden psychischen Störungen eine geeignete Therapie zu finden. Die hysterischen Symptome (Anfälle, Lähmungen und andere funktionale Störungen) imponierten als körperliche Leiden ohne organischen Befund, und solche Krankheiten fielen aus dem Rahmen der zeitgenössischen, physikalistischen Medizin heraus. Hysterische Symptome waren nicht somatogen2 , sondern psychogen, genauer: soziogen. Als ihre Auslöser ließen sich (durch „Ausforschung“ der Patienten) soziale Kränkungen („Traumen“) ausmachen: schockierende, zumeist sexuelle Erfahrungen, derer sich die „Neurotiker“ mit Hilfe verschiedenartiger Abwehrmechanismen zu erwehren suchten. Die traumatische Überforderung (die Durchbrechung ihres seelischen „Reizschutzes“) bewog sie zu einer Regression und trug ihnen eine dauerhafte Ich-Schwächung ein. Was sie überwältigt hatte und was sie in der Folge peinlich zu vermeiden und aus ihrem Bewusstsein zu verbannen suchten, begann alsbald, sie zu beherrschen. Das „Verdrängte“ wurde, unkenntlich gemacht, zum Generalthema ihres Lebens. Die psychisch Kranken litten an nicht-erinnerungsfähigen „Erinnerungen“, und gegen ihre Verstörungen halfen weder Messer noch Droge, weder Wasser- noch Fastenkuren.

Menschen, die an einer Neurose leiden, suchen nach einem Ausweg aus dem Labyrinth ihrer Krankheit, gehen aber ohne fremde Hilfe meist nur immer weiter in die Irre. Die therapeutische Hilfe kann freilich nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Nur derjenige, der sich aus Not seines Bewusstseins begab und dadurch zum Sklaven seiner Symptome wurde, kann diese Fehlleistung auch wieder korrigieren und dadurch seiner selbst wieder mächtig werden. Der einzige Weg, der aus der durch die Krankheit verstörten Gegenwart in eine biographische Zukunft führt, die nicht mehr im Bann der unglückseligen Vergangenheit steht, ist der Rückweg. Nur durch allmähliche Aufhebung der Verdrängung kann der Phobiker wieder zum Autor der eigenen Lebenspraxis werden. Die Patienten müssen sich also noch einmal dem stellen, vor dem sie so lange auf der Flucht waren: dem Peinlichen und Verpönten in ihrer Lebensgeschichte. Der Therapeut fungiert dabei als ein Detektiv und Übersetzer, der – im Wechselspiel von Übertragung und Gegenübertragung – die Reproduktionen seines schwierigen Dialogpartners deutet, die Hieroglyphen seiner Symptomsprache entziffert und allmählich den verborgenen Zusammenhang der Symptome mit der Lebensgeschichte anhand von „freien Einfällen“ oder Träumen des Patienten rekonstruiert.
„Institutionen“ der Seele und der Kultur

Freud hatte sich vorgesetzt, das Rätsel der Psychoneurosen und das der Träume zu lösen. Seine Recherche trieb ihn alsbald über den Rahmen der naturwissenschaftlichen Medizin (und der positivistischen Wissenschaftstheorie) hinaus. Wo andere nur Unsinn sahen, vermutete er larvierten Sinn, wo sie „Tatsachen“ konstatierten, begann für ihn die kritisch-therapeutische Arbeit: die Deutung der befremdlichen „Tatsachen“, die Rekonstruktion ihrer Genese, die Fahndung nach den „Tathandlungen“, die den Tatsachen zugrunde lagen. Die psychoneurotischen Symptome gehören einer eigentümlichen Klasse von Phänomenen an, die sich wie „natürliche“ ausnehmen, ohne es doch zu sein.

Der Mensch ist ein disharmonisches Lebewesen, begabt mit luxurierenden Antriebsenergien, die einer kulturellen Strukturierung bedürfen. Sie sind weder auf bestimmte Objekte gerichtet, noch in Instinkthandlungen eingebunden. Die Objekte unserer Triebe müssen erst definiert, die Befriedigungshandlungen gelernt oder neu erfunden werden. Als Menschen stehen wir zur „Welt“, zu anderen und zu uns selbst in variablen „Verhältnissen“, die uns nicht genügen. Solche Verhältnisse kristallisieren sich aus zu Institutionen. Verhältnisse, in denen man nicht nur steckt, sondern die man „hat“, sind bewusstseinsfähig und prinzipiell auch änderbar.

Die luxurierenden Triebe – Libido und Destrudo (beziehungsweise „Eros“ und „Thanatos“) – gehen in keiner kulturellen Form auf, sie drängen über eine jede hinaus. Als „unermüdlicher Lustsucher“ ist darum „jeder Einzelne virtuell ein Feind der Kultur“, der er doch sein Überleben verdankt (Freud). Die vergesellschafteten Individuen stehen als Triebwesen in einem unaufhebbaren Konflikt mit jeder erdenklichen Kultur, weil jede Kultur eine Distanzierung von „Animalität“ verlangt. Darum leben die Menschen nicht nur in Verhältnissen, sondern haben eine Geschichte, in deren Verlauf sie sich (samt ihren Verhältnissen) ändern. Das „noch nicht festgestellte Tier“ (Nietzsche) bedarf der Feststellungen und ebenso der Revision aller Feststellungen. Dieses Lebewesen kann sich „Unmittelbarkeit“ nicht leisten, es lebt in einer Sphäre von Vermittlungen. Zwischen sich und die „Welt“ schiebt es Artefakte (Instrumente und Symbole) ein. In der Natur, wie sie ist, kann es mit seiner Natur nicht leben; es muss sich von ihr distanzieren und sich in ihr (und gegen sie) ein synthetisches Habitat einrichten. Diese artifizielle4 Lebenswelt ist eben die der „Kultur“.

Sind die bewusst oder bewusstlos erzeugten Institutionen der Seele und der Sozietät3  erst einmal etabliert, so verselbständigen sie sich gegenüber ihren Autoren. Ihr Sinn wird unkenntlich, und bald werden sie als eine „erste Natur“ wahrgenommen, was sie gegen Kritik, Revision und Innovation immunisiert. Die vergesellschafteten Individuen sind (wie immer widerstrebend) dazu verurteilt, Institutionen wie Staat und Privateigentum, Markt und Geld, Familie und Religion, Heterosexualität, Homosexualität und Inzesttabu mit Variationen zu reproduzieren, solange ihr Leben mit diesen Institutionen nicht völlig unverträglich wird. Dann schlägt die Stunde der Institutionenkritik, die die überkommene Einrichtung des Lebens als eine artifizielle&n
bsp; kenntlich macht und einem Prozess der schöpferischen Zerstörung überantwortet, in der defizient gewordene Institutionen eingeschmolzen und neuartige kreiert werden, die den veränderten Bedürfnissen ihrer Träger besser entsprechen.
Im Zuge seiner Aufklärung der Hysterien und Träume wandelte sich der Naturwissenschaftler Freud unvermerkt zum Historiker, zu einem „Archäologen“ der individuellen und kulturellen Seelengeschichte.
Weder Natur- noch Geisteswissenschaft
Die Naturwissenschaft hat es mit „Objekten“ zu tun, die sich beobachten, messen und manipulieren lassen. Sie sucht nach (möglichst) allgemeinen Gesetzen, die „erklären“ (oder „prognostizieren“), dass (unter bestimmten Umständen) bestimmte Faktoren bestimmte Effekte zeitigen. Eine Richtungsänderung des Erkenntnisinteresses, die Abwendung von der äußeren Natur und die Hinwendung zu den Subjekten und ihren sozialen Verhältnissen, die Fokussierung der zweiten anstelle der ersten Natur wird Menschen, die Wissenschaft mit Naturwissenschaft identifizieren, befremden. Die kopernikanische Wende, die Freud und andere Kritiker vollzogen, als sie sich dem noch unbekannten „Objekt“ zuwandten, das ein Subjekt ist, werden Szientisten für eine „unnatürliche“ Volte halten, und das Interesse an der Genese5  und an der Überwindung von Institutionen, am Vergessen und am Erinnern für ein „unwissenschaftliches“, wenn nicht gar subversives.  Freuds wissenschaftliche Beschäftigung mit „obskuren“ Phänomenen wie Hysterie und Traum, sein Versuch, im „Unsinn“, den die Subjekte produzieren, einen Sinn zu entdecken, seine Hinwendung zur Kulturgeschichte als Seelengeschichte führte ihn von der Objekt- zur Subjektwissenschaft. Er wähnte, noch immer „Natur“-Wissenschaft zu treiben, und war doch, seinen wunderlichen „Objekten“ zuliebe, längst schon zu einem Kritiker der „zweiten Natur“ geworden, einer Kultur, die viel zu viele Individuen „erdrückt“.

Wenige Jahre zuvor hatte Nietzsche die von ihm entwickelte „genealogische“ Kritik der Moral eine „unnatürliche“ Wissenschaft genannt. Die Methodologie solcher „unnatürlichen“ Wissenschaften – die sich von den Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden und beider Verfahren kombinieren – ist in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Marx, Nietzsche und Freud arbeitsteilig „erfunden“ oder wiedergefunden worden. „Unnatürliche“ Wissenschaften haben es mit „Objekten“ zu tun, die eigentlich Subjekte sind; solche „Objekte“ sind in der Lage, auf Befunde, die sie selbst betreffen, zu reagieren. Das Verfahren dieser kritischen Wissenschaften ist darum kein monologisches, sondern ein (potentiell) dialogisches, ihr Ziel kein technisches, sondern ein praktisches.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es drei Versuche, vom positivistischen Mainstream abzuweichen und die Selbstreflexion – die Dialektik von Objektivierung, Entfremdung und Wiederaneignung – für das Verständnis der Lebens-, Sozial- und Kulturgeschichte fruchtbar zu machen. Marx, Nietzsche und Freud waren Schüler Ludwig Feuerbachs. Von ihm übernahmen sie sowohl die anthropologisch-materialistische Kritik der (christlichen) Religion und des (Hegelschen) Idealismus als auch die Orientierung dieser Kritik auf eine institutionenändernde (politische oder „therapeutische“) Praxis.
Freud lesen!
Was den Naturwissenschaftler Freud dazu bewog, sich über das Tabu hinwegzusetzen, das die Helmholtz-Schule über das „spekulative“ Denken verhängt hatte, ist leicht zu sehen. Er suchte nach einer Therapie für Patienten, denen mit Droge und Skalpell nicht zu helfen ist, wohl aber mit „Einreden und Ausreden“, weil sie nicht an der „ersten“ Natur (nämlich der ihres Organismus), sondern an der „zweiten“, also an ihrer Kultur, kranken. Dieser Kultur, die ohne Pogrome und Massaker, ohne den ständigen Kampf gegen innere und äußere „Feinde“ nicht auskommt, stand Freud skeptisch gegenüber: „Es braucht nicht gesagt zu werden, dass eine Kultur, welche eine so große Zahl von Teilnehmern unbefriedigt lässt und zur Auflehnung treibt, weder Aussicht hat, sich dauernd zu erhalten, noch es verdient.“ Als Angehöriger einer diskriminierten und Jahrhunderte lang verfolgten Minderheit suchte er nach einem Ausweg aus der Geschichte als Mordgeschichte, also nach einer Kultur, „die keinen mehr erdrückt“.

Warum hielt aber Freud zeit seines Lebens daran fest, auch die Psychoanalyse sei eine Art „Naturwissenschaft“? Dem Naturschein verdinglichter Institutionen (oder „Mechanismen“), also ihrer „Unverständlichkeit“, sind quasi-naturwissenschaftliche Verfahren (Beobachtung, Messung und Erklärung) durchaus angemessen. Darum gehören weder die Psychoanalyse noch die Soziologie zu den „Geisteswissenschaften“. Ihre Objekte sind zweideutig und ihre Methoden zwiespältig. Das Unverständliche der Phänomene, mit denen sie es zu tun haben, erschließt sich dem Verständnis nur in dem Maße, wie das monologische Verfahren zu einem dialogischen wird, das institutionell befangene („objektivierte“) Subjekt sich geltend macht und sich seiner vergessenen Autorschaft erinnert. Stößt das Verstehen auf Grenzen, so muss der Kritiker auf provisorische Erklärungen zurückgreifen, die der Statthalter eines künftigen Verstehens sind. Institutionen geben ihr Geheimnis nicht ohne weiteres preis. Sie sind für uns nicht „lesbar“ wie Texte, die in einer bekannten Sprache abgefasst sind. Institutionen gleichen vielmehr den steinernen Monumenten einer untergegangenen Kultur; sie sind zwar über und über mit „Hieroglyphen“ bedeckt, doch müssen wir auf einen Champollion6  warten, der sie für uns entziffert.

Die Geschichte der zwiespältigen Wissenschaft Psychoanalyse ist eine Verkennungsgeschichte. Sie teilt dieses Schicksal mit der Marxschen Kritik der Ökonomie, die die Stalinisten in ihr Gegenteil verkehrten, indem sie eine Staatsreligion daraus machten, und mit Nietzsches ketzerischer Philosophie, auf die sich auch Faschisten beriefen. Freuds kritische Theorie ist naturwissenschaftlich geschulten Ärzten und Psychologen in die Hände gefallen, die sie auf eine therapeutische „Technik“ reduziert haben. Mit deren Hilfe machen sie noch immer vielen Patienten das Leben leichter, denen man anders nicht helfen kann. Mit der „Kultur“ aber, die noch keine ist, haben sie längst ihren Frieden gemacht.

Wer unsere Gegenwart verstehen und ihre Rätsel lösen will, tut gut daran, von „Marxismus“, „Nietzscheanismus“ und „Freudismus“ abzusehen und bei Marx, Nietzsche und Freud selbst in die Lehre zu gehen.

1    [Lehre von den (Krankheits)ursachen; d.Red.]
2    [durch körperliche Veränderungen hervorgerufen; psychogen: psychisch bedingt, soziogen: durch gesellschaftliche Umstände hervorgerufen; d. Red.]
3    [Gemeinschaft, d. Red.]
4    [künstliche, von Menschen geschaffene; d. Red.]
5    [En
tstehung, d. Red.]
6    [C. war Ägyptologe und entzifferte die Hieroglyphen. d. Red]

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