Russland 1917 – Wie die Revolutionsregierung eine Pandemie bekämpfte

Plakat »Die Laus und der Tod sind Freunde« aus de Sowejtunion, dass zu Maßnahmen gegen das Fleckfieber aufruft. Foto: Plakat »Die Laus und der Tod sind Freunde«

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Russland 1917 – Wie die Revolutionsregierung eine Pandemie bekämpfte

Von Charlie Kimber | 07.09.2020

Überall auf der Welt versagen Regierungen angesichts der Pandemie. Nach der Oktoberrevolution von 1917 bedrohte das Fleckfieber Millionen. Revolutionäre Maßnahmen stoppten seine Verbreitung.

Wie würde eine Gesellschaft, die eine Revolution vollbracht hat, mit einer Pandemie umgehen? Wir können eine Ahnung davon bekommen, wenn wir uns Russland im Jahr 1917 ansehen. Die Arbeiterklasse mit der Bolschewistischen Partei an der Spitze ergriff im Oktober 1917 die Macht. Schon bald musste sie Wege finden, die Krankheiten zu bekämpfen, die die Menschen in weiten Teilen Europas befielen.

In den folgenden vier Jahren wüteten die Cholera, die Pocken und die »Spanische Grippe«. Die größte Bedrohung jedoch war das Fleckfieber1. Zu einer Zeit, als es noch keine Antibiotika gab, starben ein Drittel der daran Erkrankten.

Das Fleckfieber wird durch ein Bakterium verbreitet, das sich im Magen-Darm-Trakt von Läusen vermehrt und insbesondere über die Kleiderlaus übertragen wird. Dieses Insekt kann sich unter Bedingungen von Schmutz, beengten Wohnverhältnissen, schlechten sanitären Verhältnissen und anderen Krankheiten schnell vermehren.

Bürgerkrieg und Pandemie

Die verheerenden Lebensbedingungen im Ersten Weltkrieg boten einen perfekten Nährboden dafür. Läuse befielen die Uniformen von Soldaten, und diese verbreiteten sie weiter, wenn sie vorrückten oder zurückwichen. Dann sprangen Kleiderläuse auf die Bevölkerung in den zerstörten Städten über, in den verwüsteten ländlichen Gebieten und den Kriegsgefangenenlagern. Millionen Menschen waren in Osteuropa infiziert.

Plakat »Die Laus und der Tod sind Freunde«

Plakat »Die Laus und der Tod sind Freunde«

Nach der Revolution in Russland waren »Weiße Armeen« entschlossen, die neue Gesellschaft der Arbeiterinnen und Arbeiter zu zerschlagen. Sie verbündeten sich mit Invasionsarmeen aus 14 Ländern und entfesselten einen Bürgerkrieg. Hungernder Menschen flüchteten in unübersehbarer Zahl vor den marodierenden Armeen und strömten in Städte, die schon dicht bevölkert waren und in denen es kaum noch menschenwürdige Unterkünfte gab, was beste Bedingungen für die weitere Verbreitung der Läuse bot.

Gesundheitswesen unter Arbeiterkontrolle

Im Jahr 1919 soll Lenin vor Beschäftigten des Gesundheitssystems erklärt haben: »Genossen, wir müssen unsere gesamte Aufmerksamkeit auf dieses Problem richten. Entweder wird die Laus den Sozialismus oder der Sozialismus die Laus besiegen.« Das war keine einfache Aufgabe, denn Russland war im Jahr 1914 ein wirtschaftlich rückständiges Land gewesen und nach dem Krieg und dem folgenden Bürgerkrieg war ein Großteil der modernen Industrie zerstört.

Die russische Gesellschaft, die von demokratisch gewählten Arbeiterräten, den Sowjets, regiert wurde, nahm die Aufgabe sofort in Angriff. Das Gesundheitswesen war unter Arbeiterkontrolle verstaatlicht und zentralisiert worden und die Behandlung war jetzt kostenlos. Das war entscheidend für einen Plan zur Bekämpfung des Fleckfiebers. Die erste Aufgabe bestand darin, die Gesundheitsfürsorge erheblich auszuweiten.

Aufklärung über Pandemie durch Agit-Züge

Der Journalist Jakob Friis reiste während der Pandemie nach Russland und befragte den Arzt Dr. Perwuchin von der Organisation, die für Arzneimittel zuständig war. Dieser sagte ihm: »Als Folge der Verstaatlichung der Apotheken werden unsere knappen Bestände gerecht verteilt. Trotz all der äußeren Schwierigkeiten haben sich die gesundheitlichen Verhältnisse im vergangenen Jahr gebessert. Neue Fabriken wurden errichtet und große Lagerbestände wurden bei den Spekulanten beschlagnahmt. Kein einziges kapitalistisches Land hätte die öffentliche Gesundheit so gut schützen können. Wir haben die Spanische Grippe besser überstanden als die westliche Welt. Wir sind in der Lage, Epidemien sehr viel besser zu bekämpfen als in früheren Zeiten.«

Plakat des Volkskommissariats für Gesundheit

Plakat des Volkskommissariats für Gesundheit

Friis war Mitglied der norwegischen Arbeiterpartei, die nach 1917 der Kommunistischen Internationale beigetreten war, der internationalen Organisation revolutionärer Parteien. Er und sein bolschewistischer Interviewpartner könnten ein etwas zu rosiges Bild gemalt haben. Aber vieles wird in einem Aufsatz des US-amerikanischen Professors K. David Paterson bestätigt. Er schrieb: »Große Anstrengungen wurden unternommen, um die Bevölkerung zu unterrichten. Eisenbahnwaggons mit eigens dafür gestalteten Ausstellungen fuhren durch die sowjetischen Gebiete. Im November 1919 behandelten Desinfektionsteams 40.000 bis 50.000 Passagiere täglich in Moskauer Bahnstationen. Schließlich richtete die sowjetische Regierung etwa 250.000 Betten für Fleckfieberpatienten ein und errichtete rund 300 Isolations- und Desinfektionsstationen entlang von Bahnstrecken und Wasserwegen. Hunderte Bade- und Desinfektionsabteilungen wurden in der Armee zusammengestellt, um die Soldaten zu entlausen.«

Wohnungen und Schulen

Labore wurden eingerichtet, um die wirksamsten Methoden zu erforschen und einzuführen.

Paterson schrieb weiter: »Mit dem Entlausen wurden Massen an Läusen vernichtet. Eine fünf Zentimeter dicke Schicht an Läusen bedeckte den Boden eines Desinfektionsraums der Roten Armee. Entlausen, Isolation und Aufklärung trugen ganz ohne Zweifel zur endgültigen Eindämmung der Epidemie bei.«

Zusätzlich zu der Ausweitung der Gesundheitseinrichtungen begaben sich die Bolschewiki auch daran, andere Bereiche des Arbeiterlebens – wie Wohnen und Schulen – zu verbessern. Das erforderte allerdings Zeit.

Im Jahr 1919 hieß es in der Zeitung der Sowjets: »Viele Tausende Arbeiter leben noch in Kellern und auf Dachböden. Der Engel des Todes streift noch durch die Vororte der Städte und zeigt mit seiner schrecklichen Hand auf die Häuser der Arbeiter.«

Vorsorge gegen Pandemie von unten

Wesentlich war auch, dass die Maßnahmen zur Bekämpfung des Fleckfiebers nicht nur von oben verordnet wurden. Abgestützt wurden sie durch ein Netz von Arbeiterorganisationen, die sie umsetzten.

Arbeiterkomitees zur Bekämpfung von Epidemien wurden schon im Jahr 1918 in den Städten und größeren Dörfern geschaffen. Ihre Aufgabe bestand darin, Unterkünfte und öffentliche Einrichtungen zu überprüfen, die Leute in Hygiene und Sauberkeit zu unterrichten, Seife zu verteilen und die Laus zu bekämpfen. Die Partei, die Gewerkschaften, Frauenorganisationen und Jugendgruppen beteiligten sich alle an dem Kampf gegen die Krankheit.

Die Vertreter dieser Komitees – selbst Arbeiter und Bauern – gaben wissenschaftliche Informationen an die Bevölkerung weiter.

Diese Art der Beteiligung der Arbeiterklasse an der Bekämpfung der Krankheit war von hoher Bedeutung.
Im Jahr 1920 schrieb Nikolai Semaschko, der Kommissar für Gesundheit in der Regierung: »Wir können ohne zu übertreiben sagen, dass die Fleckfieber- und Choleraepidemie vor allem durch die Unterstützung der Arbeiter- und Bauernkomitees aufgehalten werden konnte. Das Volkskommissariat für Gesundheit kann die unzähligen Schwierigkeiten in diesem verarmten und verwüsteten Land nur überwinden, wenn es sich der Unterstützung und Hilfe der Bevölkerung sicher sein kann.«

Hilfe für die Konterrevolution

Aus westlichen Ländern gelangte etwas Hilfe nach Russland, aber nur für die Feinde der Bolschewiki. Das Amerikanische Rote Kreuz (ARC) unternahm große Anstrengungen, die Weißen Armeen zu unterstützen.

Julia F. Irwin, eine Historikerin und Spezialistin in US-amerikanischer »humanitärer Hilfe«, schrieb: »Obwohl die Mitarbeiter des ARC es vielleicht leugneten, aber ihre Hilfsmaßnahmen, die sich gegen die bolschewistischen Soldaten und Zivilisten richteten, waren in Konzeption und Durchführung eindeutig politisch motiviert. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts stellten, wie auch heute noch, amerikanische Hilfseinsätze im Ausland eine Säule der US-amerikanischen Auslandsbeziehungen dar.«

In den Jahren 1918 bis 1922 starben in Russland schätzungsweise über zwei Millionen an Fleckfieber. Zu den Toten gehörte auch der Vater des revolutionären Führers der Roten Armee, Leo Trotzki. Aber dem Arbeiterstaat gelang es, die Sterberate zu senken. Paterson schrieb: »Angesichts des unablässigen Angriffs der Gesundheitsbehörden begannen die Fleckfiebererkrankungen nach 1922 deutlich abzunehmen.«

Fleckfieber unter Stalin

Der Befall mit Läusen und die Erkrankung an Fleckfieber kehrten zurück mit der bürokratischen Konterrevolution unter der Führung Josef Stalins, die die Arbeitermacht erstickte.

Mit der verstärkten Ausbeutung der Arbeiter und Bauern verbunden mit der Auslöschung jedes Elements von Arbeiterdemokratie begann das Fleckfieber sich wieder auszubreiten, insbesondere in den Gefängnislagern.

Allein im Bezirk Kolyma starben laut Berichten im Jahr 1938 Zehntausende in dem dortigen Straflager an Fleckfieber. Wie in jedem anderen Lebensbereich wurden die Errungenschaften der Revolution von Stalin ausgelöscht.

Fortschrittlicher als die reichsten Länder

Aber das kann uns die Erfolge in den Jahren nach 1917 nicht nehmen. Wenige Tage bevor John Reed, ein revolutionärer Journalist, im Jahr 1920 an Typhus 2 starb, schrieb er einen Artikel, in dem er die Lage zusammenfasste: Er schrieb, Arbeitermacht »heißt nicht, dass in Sowjetrussland alles bestens wäre, dass die Menschen nicht hungern, dass es kein Elend und keine Krankheiten und keinen verzweifelten, endlosen Kampf gäbe. Der Winter ist unvorstellbar grausam. Das Fleckfieber, intermittierendes Fieber, Grippe wüteten unter den Arbeitern. Die körperliche Verfassung der seit über zwei Jahren halb verhungerten und geschwächten Menschen konnte dem nicht mehr widerstehen. Die bewusste Blockadepolitik der Alliierten verhinderte den Zugang zu notwendigen Arzneimitteln, weshalb Tausende und Abertausende Menschen starben.«

»Trotz alldem baute das Volkskommissariat für Gesundheit einen kolossalen Sanitätsdienst auf, ein Netz aus medizinischen Abteilungen unter der Kontrolle der Ortssowjets überall in Russland, auch an Orten, wo noch niemals ein Arzt gewesen war. Jede Gemeinde brüstet sich jetzt mit mindestens einem neuen Krankenhaus, häufiger sogar zwei oder drei. Hunderttausende Plakate in leuchtenden Farben wurden überall aufgehängt und informierten die Menschen mit einfachen Bildern, wie sie eine Krankheit vermeiden könnten, und forderten sie auf, ihre Häuser und sich selbst zu reinigen. In jeder Klein- und Großstadt gibt es jetzt freie Entbindungskliniken für arbeitende Frauen.«

Inmitten von Krieg und Hunger betrieben die Bolschewiki eine wissenschaftlichere, wirksamere und demokratischere Politik, um Epidemien zu bekämpfen, als die reichsten Länder ein Jahrhundert danach. Deshalb kämpfen wir gegen eine kapitalistische Gesellschaft der Armut und der Pandemien und für einen Sozialismus von unten.

1 Im Englischen wird das Fleckfieber auch als Typhus bezeichnet, es handelt sich jedoch um unterschiedliche Krankheiten und unterschiedliche Infektionswege. In Sowjetrussland ging es in dieser Geschichte um die Bekämpfung des Fleckfiebers, das durch Läuse übertragen wird. Siehe auch hier: http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2008/0157/pdf/dtw.pdf
2 Es lässt sich nicht genau ermitteln, ob Reed an Typhus oder Fleckfieber starb, da es nur wenige deutsche Quellen über ihn gibt; es spricht aber einiges dafür, dass es sich um Typhus handelte.

Zuerst erschienen auf socialistworker.co.uk
Aus dem Englischen von Rosemarie Nünning, Quelle: https://www.marx21.de/russland-1917-wie-die-revolutionsregierung-eine-pandemie-bekaempfte/

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