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Innenpolitik

Regierungs„reformen“ und Reformperspektiven

Von Walter Weiß | 01.02.2008

Die Neujahrsansprache der Kanzlerin war unmissverständlich: Der Reformkurs wird fortgesetzt. Das kann durchaus als Drohung aufgefasst werden. 2008 sei das Entscheidungsjahr. Ungeachtet einer Minireform sozialkosmetischen Charakters in der Frage des Arbeitslosengeldes 1 verteidigen Beck und Müntefering die Agenda 2010 als notwendig und erfolgreich. Der viel beschworene Linksruck findet in der Großen Koalition nicht statt.

Die Neujahrsansprache der Kanzlerin war unmissverständlich: Der Reformkurs wird fortgesetzt. Das kann durchaus als Drohung aufgefasst werden. 2008 sei das Entscheidungsjahr.

Ungeachtet einer Minireform sozialkosmetischen Charakters in der Frage des Arbeitslosengeldes 1 verteidigen Beck und Müntefering die Agenda 2010 als notwendig und erfolgreich. Der viel beschworene Linksruck findet in der Großen Koalition nicht statt.
Reform der Reform?
Diese Reform macht die Republik genauso wenig gerechter wie die Einführung des Elterngeldes, denn unter dem Deckmäntelchen der Familienfreundlichkeit sind die Gewinner in den höheren Einkommenssphären zu finden. So erhalten nur 15 % diese Transferleistung über 1.000 €, während über die Hälfte weniger als 500 € bezieht. Eine klassische Umverteilung von unten nach oben. Diese Programme tragen eher einem weit verbreitenden Unmut in der Bevölkerung angesichts der wachsenden sozialen Gerechtigkeitslücke Rechnung. Der imaginäre Aufschwung mit seinen Zeitarbeitsjobs zu Armutslöhnen erreicht nach Untersuchungen über 80 % der Bevölkerung überhaupt nicht. Die frohen Botschaften aus dem neoliberalen Medienkartell erinnern an die Heilsbotschaften des DDR-Chefökonomen Günter Mittag kurz vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Aber nur dem Ton nach. Der BRD-Kapitalismus steht auf festen Füßen. Trotzdem werden wir es erleben, dass uns weitere Reformschritte im Bildungs- und Gesundheitswesen geschickt als Wohltaten des Sozialstaates verkauft werden. Gerade im Bildungswesen dienen sie primär dazu, die Verwertungsbedingungen des BRD-Kapitals auf dem Weltmarkt zu verbessern. Da wird nicht die Lektüre von Goethe und Heine gefördert, sondern an Elitehochschulen ein ökonomischer Kader mit soliden BWL- und IT-Kenntnissen geschaffen. Gleichzeitig werden die repressiven Seiten des „Sozialstaates“ ausgebaut, die Daumenschrauben werden still und heimlich angezogen. Progressive Maßnahmen, die den Namen Reformen verdienen, sind nicht auf der Tagesordnung, da der klassenpolitische Druck zu ihrer Durchsetzung zurzeit nicht existiert. Ein Blick in die Vergangenheit mag das verdeutlichen.
Reformen in der Geschichte
Mit dem Ende „der Blütezeit des Kapitals“ (Eric Hobsbawm) 1873 verschlechterte sich objektiv die Lage des Proletariats. Die niedergeschlagene Pariser Kommune war den Menschen in aktueller Erinnerung. Die sich zum Teil radikalisierende Arbeiterschaft organisierte sich zunehmend erfolgreich. Die Furcht vor den revolutionären Bestrebungen der Sozialdemokratie beförderte zwischen 1883 und 1889 die Einführung der Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung. Sie sollten ausdrücklich zur Befriedung des potenziell revolutionären Proletariats und seiner Einbindung ins Kaiserreich dienen. Wachsender Nationalismus und der Antisemitismus der Christsozialen verfolgten den Zweck, die Klassenverhältnisse zu verschleiern und Feindbilder zu installieren. Das 1871 eingeführte Wahlrecht – für Männer – erforderte einen subtileren Herrschaftsmechanismus. Deutlich wurde der Doppelcharakter von Reformen im Kapitalismus. Sie stärkten die sozialen und demokratischen Rechte der ArbeiterInnenklasse und versuchten den Klassenkämpfen die radikale Substanz zu nehmen. Ein Almosen waren sie nie, sondern Resultat harter Klassenauseinandersetzungen.

Die gescheiterte Revolution von 1918 erweiterte durch Tarifverträge und Betriebsräte den reformerischen Spielraum und trug der Militanz des deutschen Proletariats Rechnung. Die deutsche Bourgeoisie hadert bis heute mit diesen Errungenschaften und macht sie zum Ziel permanenter politischer Attacken.

Nach der Niederlage der Arbeiterschaft 1923 und der sich verschärfenden Krise des Kapitalismus ab 1928 wurden die sozialen Errungenschaften zunehmend demontiert und dies von der Parteimehrheit der SPD mitgetragen. Der Achtstundentag wurde zugunsten von 10 Tagesarbeitsstunden abgeschafft. Die gegen den erheblichen Widerstand der Unternehmerschaft 1927 eingerichtete Arbeitslosenversicherung wurde in ihren Anspruchszeiten und Geldleistungen erheblich reduziert. Soziale Revolten, Geschäftsplünderungen, Wohnraumverlust und das Herausbilden von Jugendbanden und -cliquen waren die Folge. Ein Bild, das zumindest in einigen Punkten Parallelen zur gegenwärtigen Situation erkennen lässt. Die reale Arbeitslosigkeit von 8 Millionen Betroffenen wurde auf 5,7 Millionen geschönt. Auch das erinnert an wundersamen Statistiken der Bundesagentur für Arbeit. Der Defensive des Proletariats folgte die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung in Deutschland. Die traditionelle Arbeiterbewegung als Kulturbewegung, mit ihren Sportmassenorganisationen usw. – also quasi eine Gegengesellschaft – entstand in der BRD nicht mehr.

Im Nachkriegsdeutschland stellt die „dynamische Rente“ im Rahmen der Sozialpartnerschafts­ideologie sicherlich einen Fortschritt dar und war zugleich als ein Garant des sozialen Friedens durchaus im Interesse des Kapitals. Die durch die MetallerInnen in Schleswig-Holstein 1956/57 erkämpfte Lohnfortzahlung im Krankheitsfall war ein klassenpolitischer Erfolg. Im Rahmen der Vollbeschäftigung waren gute Tarifabschlüsse möglich, lagen bezogen auf die Konsumkultur des Spätkapitalismus im Interesse der Herrschenden.

Die wilden Streiks 1969 mit der Herausbildung einer neuen Arbeiteravantgarde, kämpferischen Tarifrunden ab Anfang der siebziger Jahre sowie dem Aufbrechen verkrusteter Strukturen der Nachkriegsära leiten die Reformphase 1969-74 ein. Die Einführung des BAföG 1971 und die Absenkung des Rentenalters für Männer auf 63 und für Frauen auf 60 Jahre wurden als Fortschritt empfunden. Auch Tabuthemen wie Abtreibung und Homosexualität wurden Bestandteil des Reformdiskurses. Gleiches galt für das anachronistische Scheidungsrecht. Nicht von ungefähr wurden diese Jahre von vielen als die progressivste Phase in der Geschichte der BRD empfunden. Sie machten Willy Brandt zugleich zum ewigen Betriebsheiligen der SPD.

Die definitive Wende der kapitalistischen Ökonomie in Rahmen der verallgemeinerten Rezession 1974/75 zu einer langen Welle mit stagnierendem Grundton beendete die Reformphase. Der Neoliberalismus wurde zur realpolitischen Größe. Trotzdem stehen Reformdiskussionen aktuell wieder auf der Tagesordnung.
Reformperspektiven?
Es existieren sicher kapitalismuskritische und antikapitalistische Positionen in nennenswerten Teilen der Bevölkerung. Betriebsschließungen, gütige Gerichtsurteile in Wirtschafts- und Strafprozessen gegen Firmenchefs, horrende Managergehälter bei zunehmender Verarmung von Millionen Menschen befördern solche Stimmungen. Und der apokalyptische Reiter der K
limakatastrophe befördert das Nachdenken über ein alternatives Gesellschaftsmodell. Dabei kristallisieren sich mehrere Ansätze in der Reformdiskussion heraus. Der Unmittelbarste plädiert für eine Verbesserung des Status quo. Die Regelsätze bei Hartz IV sollen erhöht werden, ebenso das Wohngeld usw., d. h. letztlich Armut auf höherem Niveau.

Mit dem Entstehen der Partei Die Linke wurde durch einen Teil ihres ehemaligen Westflügels – die WASG – der Sozioallliberalismus reanimiert. Ein Projekt, das in doppelter Hinsicht Illusionen schürt. Einmal haben sich die sozialen, ökonomischen und politischen Rahmenbedingungen und damit die klassenpolitischen Kräfteverhältnisse grundlegend geändert. Immer noch befindet sich die ArbeiterInnenbewegung in der Defensive, wenngleich aktivere Tarifrunden und exemplarische Abwehrkämpfe die Möglichkeit eines breiteren Widerstandes signalisieren. Außerdem sehen VertreterInnen eines sozialliberalen Reformkurses den bürgerlichen Staat noch immer als relativ autonomen Sachwalter an, der sich über die Kapitalinteressen hinwegsetzen kann. Zwar agiert dieser „ideelle Gesamtkapitalist“ (Marx) gelegentlich gegen einzelne Kapitalisten oder Gruppen, aber im gesamtkapitalistischen Interesse, d. h. als bürgerlicher Klassenstaat. Und wo, wenn nicht bei der Agenda 2010, wird diese Klassenpolitik deutlicher. Eine falsche Staatstheorie war immer der Anfang vom Ende erfolgreicher linker Strategien!

In den sozialen Bewegungen und bei humanistischen Einzelpersonen bescheidet mensch sich darin, die Folgen des brutalen Globalisierungskapitalismus zu mildern und ihn wieder in humanere Gefilde zu führen. Das spricht für einen integeren Charakter und eine völlige Unkenntnis der kapitalistischen Marktgesetze. Da waren manche Befreiungstheologen, die ihren Marx gelesen hatten, schon weiter. Allerdings sollten Linke mit diesen Menschen nicht arrogant umgehen und in konkreten Projekten mit ihnen zusammenarbeiten, um antikapitalistische Anschauungen fruchtbar werden zu lassen.
Weiter sind jene, die eine Reformstrategie mit sozialistischer Zielsetzung vertreten. Abgesehen davon, dass ihre Ansichten irrigerweise zu einem gradualistischen Kurs der Überwindung des Kapitalismus tendieren, die in der Regel in der Sackgasse und der Niederlage von Volksfronten, antimonopolistischer Demokratie u. ä. enden, weil sie sich an bürgerliche Klassenpartner binden, die letztlich die politischen Spielregeln bestimmen. Mitunter erwartet mensch dann auch Unterstützung durch die supranationalen Einrichtungen der EU, die nun wirklich nicht prosozialistischer Neigungen verdächtigt sind. Die starke Ausrichtung auf den Parlamentarismus und seine Institutionen unterstützen solche Standpunkte.
Notwendige Debatten
Die skizzierten Einstellungen rücken den Reformbegriff wieder in seinen ursprünglichen Kontext und stellen den konterkarierten Reformbegriff der Neoliberalen in Frage. Sie sind gleichzeitig widersprüchlich, illusionär und alles andere als wegweisend. Vom Standpunkt des revolutionären Marxismus muss die Programmatik der Übergangsforderungen verstärkt in die Debatte eingeführt werden, die „eine Brücke zum Sozialismus“ darstellt. Bisher geschieht dies meistens noch auf der Ebene rein akademischer Erörterungen. Das lässt vermuten, dass viele AkteurInnen ein recht platonisches Verhältnis zur täglichen Kernerarbeit in den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen haben. Die grundsätzlichen Fragen, die hier berührt werden, heben die Auseinandersetzungen in den Rang einer Strategiedebatte, die längst überfällig ist. Die Methode des Übergangsprogramms bietet hier gute Ansätze. Eine Debatte über die Zukunft des Kapitalismus ist letztlich längst zu einem Diskurs über die Zukunft der Menschheit geworden. So wie der „normale“ Kapitalismus in unseren Alltag zurückgekehrt ist, ist die Perspektive und Vision des Sozialismus in den Augen von immer mehr Menschen eine dringende Notwendigkeit.

 

Zum Weiterlesen
Rosa Luxemburg: Sozialreform oder Revolution
Ernest Mandel: Die Strategie der Übergangsforderungen

 

 

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