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Kultur

Psychoanalyse und Politik

Von Helmut Dahmer, Wien | 01.10.2010

Anmerkungen zu einem Sammelband mit Beiträgen zur Geschichte der Psychoanalyse.

Anmerkungen zu einem Sammelband mit Beiträgen zur Geschichte der Psychoanalyse1.

Ein internationaler Vergleich der Schicksale der Freudschen Psychoanalyse in verschiedenen Diktaturen zeigt, dass Psychoanalytiker unter fast allen politischen Verhältnissen Patienten therapiert haben und dass sie, als eine spezielle Fraktion der heilenden Berufe, unter autoritären Regimen ähnliche Probleme wie andere Intellektuelle hatten. Überwacht und verfolgt wurden sie, sofern sie politisch gegen das jeweilige Diktaturregime arbeiteten. Kollektivistische Bewegungen und totalitäre Regime hatten gute Gründe, der Psychoanalyse, die sie für „eine jüdisch-marxistische Schweinerei“ hielten, den Kampf anzusagen: Sie geht davon aus, dass Institutionen der Seele und der Kultur nicht naturgegeben, sondern lebens- und kulturgeschichtlich erworben und darum revisionsfähig sind; sie macht Illusionen (also Heilserwartungen religiösen und säkularen Typs) als solche kenntlich, und sie befördert das Ausscheren von Individuen aus der Massenbindung. Das politische Verhalten einzelner Psychoanalytiker und psychoanalytischer Gruppen weist eine erstaunliche Vielfalt auf: Es gab unter ihnen Linke und Rechte, Nationalisten und Internationalisten, SA- und SS-Leute auf der einen und Widerständler auf der anderen Seite, Verfolgungsopfer, aber manchmal auch Helfershelfer von Verfolgern und Folterern. Wurde in einem Staat eine Diktatur etabliert, entschieden sich manche nationalen Vereinigungen für die Selbstauflösung, die Emigration oder die Fortsetzung ihrer Arbeit im Untergrund; andere hingegen paktierten mit den neuen Machthabern und übernahmen deren nationalistische oder rassistische Ideologie; wieder andere wählten die politische Abstinenz, verzichteten auf eine Organisation, und ihre Mitglieder zogen sich in Praxen und in Kliniken zurück. Die Voraussetzung dieser Vielfalt und Unbestimmtheit des politischen Verhaltens von Mitgliedern der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (und etlicher ihrer Konkurrenzorganisationen) ist die Instrumentalisierung der Psychoanalyse, und die Tendenz zur Instrumentalisierung war in ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte vorherrschend. Am Anfang stand Freuds Verkennung seiner neuen, „unnatürlichen“ Wissenschaft vom Unbewussten als einer Naturwissenschaft, und dieses Missverständnis ermöglichte im Laufe von Jahrzehnten die fortschreitende Reduktion der Psychoanalyse auf eine weiche Behandlungstechnik für ansonsten unzugängliche psychische Störungen.

Freud, der als Physiologe und Neurologe ausgebildete junge Arzt, hatte herausgefunden, dass es sich bei den Hysterien und Zwangsneurosen nicht um Simulationen oder um Auswirkungen von unerkannten organischen Erkrankungen handelte, sondern um natural larvierte Manifestationen lebensgeschichtlicher Konflikte. Diese ließen sich – sofern die Patienten und ihre Therapeuten sich die Freiheit nahmen, sich über moralische und politische Tabus hinwegzusetzen – mit Hilfe von Deutungen „freier Assoziationen“ erschließen und einer innovativen Lösung zuführen. Eine solche Kritik pseudonatürlicher Phänomene oder „Institutionen“ der Lebens- und Kulturgeschichte war in ähnlicher Weise auch von zwei anderen Erben Ludwig Feuerbachs, Marx und Nietzsche, entfaltet worden. Um das Rätsel der Hysterie (und des Traums) lösen zu können, musste Freud mit dem (physiologischen) Paradigma seiner Lehrer brechen, nämlich von der Objekt- zur Subjektwissenschaft übergehen. Was ihn dazu motivierte, war der Wunsch, zur Entwicklung einer Kultur beizutragen, „die keinen mehr er­drückt“. Dass er den Mut besaß, mit wissenschaftlichen und außerwissenschaftlichen Konventionen zu brechen, hat Freud darauf zurückgeführt, da er einer Jahrhunderte lang diskriminierten und von Land zu Land gejagten Minderheit angehörte, die in ihrer Geschichte so freie Geister wie Spinoza und Heine hervorgebracht hatte.

Nonkonforme Theorien unterliegen im Prozess ihrer Rezeption einer Erosion; schrittweise werden sie dem Common Sense wieder angenähert. Schon in der zweiten Generation der Freud-Schüler fielen Kulturkritik, Metapsychologie und Technik auseinander. Freuds neue Wissenschaft von der Lebens- und Kulturgeschichte wurde allmählich auf ihre therapeutische Nutzanwendung reduziert. In den Jahren nach 1933 fanden darum manche nichtjüdische und nichtsozialistische deutsche Psychoanalytiker nichts dabei, ihre – als „weltanschaulich“ neutral vorgestellte – „Technik“ in den Dienst der faschistischen Ertüchtigung der Volksgemeinschaft zu stellen, dem rassistischen Regime ihre Loyalität zu beweisen und ihre „Arbeit“ ohne ihre geflohenen nicht-“arischen“ Kolleginnen und Kollegen fortzusetzen, als habe sich nichts geändert.

Die Psychoanalytiker, die 1933 in Deutschland hofften, sich durch Anpassung an den rassistischen Volksgemeinschaftsstaat die Duldung ihres nationalen Vereins zu erkaufen und die sich widerstandslos in (privilegierte) Arier und (diskriminierte) Nichtarier (sowie in Loyale und Staatsfeinde) aufteilen ließen, hielten (vor wie nach 1945) ihren Verrat an der Freudschen „Sache“ allen Ernstes für deren „Rettung“. Darüber wurden die vermeintlichen Anwälte der Erinnerung zu Großmeistern der Vertuschung und des Verleugnens …

Was aber hätten die nichtjüdischen (und nichtsozialistischen) deutschen Psychoanalytiker 1933/34 tun können, wären sie ihrer Sache treu geblieben? Sie hätten (wie es Wilhelm Reich und Max Eitingon vorschwebte) ihren Verein auflösen und, sofern sie das Land nicht verlassen konnten, in Privatpraxen, Kliniken, Universitäten und Verlagen Unterschlupf suchen können. Sie hätten sich mit ihren jüdischen und sozialistischen Kolleginnen und Kollegen solidarisieren und sie tatkräftig unterstützen müssen. Sie hätten in die „innere Emigration“ gehen oder sich am geheimen Widerstand beteiligen können. Sie hätten als niedergelassene Ärzte weiterhin psycho­analytische Therapie praktizieren können, wie es andere „weltliche Seelsorger“ sogar im Untergrund und in den Lagern versuchten.
Nicht nur der „Adel“ verpflichtet, auch die Mitgliedschaft in einem Verein, der von sich behauptet, die Tradition der Freudschen Psychoanalyse zu wahren. Denn auch die von „gottlosen Juden“ und Materialisten entworfene kritische Theorie kennt einen kategorischen Imperativ. Der wurde, hundert Jahre vor Hitler und Stalin, als die Verpflichtung formuliert, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist …“

1    Ash, Mitchell G. (Hg.) (2010): Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen. Frankfurt (Brandes & Apsel).

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