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Innenpolitik

Programmentwurf und gesellschaftliche Realität

Von Walter Weiß | 01.05.2010

Die Partei Die Linke hat einen Programmentwurf vorgelegt, der ihr Selbstverständnis, ihre politischen Grundsatzpositionen und deren Umsetzung dokumentiert. Der für bundesrepublikanische Verhältnisse linke Entwurf wirft trotzdem einige grundsätzliche Fragen auf.

Die Partei Die Linke hat einen Programmentwurf vorgelegt, der ihr Selbstverständnis, ihre politischen Grundsatzpositionen und deren Umsetzung dokumentiert. Der für bundesrepublikanische Verhältnisse linke Entwurf wirft trotzdem einige grundsätzliche Fragen auf.

Der Entwurf gliedert sich in vier Abschnitte, deren erster die Herkunft und die Traditionen der Linkspartei bestimmt. In der Präambel hatte man zu Recht darauf verwiesen, dass nicht die Globalisierung sondern der globale Kapitalismus Verursacher der Krise ist. Die Partei rechnet Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ihren geistigen Ahnen und muss an diesem Anspruch gemessen werden. Bemerkenswert ist die historisch korrekte Darstellung der reaktionären Rolle der SPD bei der Niederschlagung der Revolution von 1918/19 und des nationalistischen Offenbarungseides der SPD zugunsten des imperialistischen Völkermordes im August 1914. Zu ihren Wurzeln rechnet sie Frauen-, Friedens- und Ökologiebewegung. Sie bekennt sich zum „unwiderruflichen Bruch mit dem Stalinismus“.

Sie schildert die verschiedenen Facetten kapitalistischer Krisen und betont ihre dezidiert ablehnende Haltung zu neoliberalen Positionen. Sie spricht von Krisen der Zivilisation, eine Einschätzung, die die Vierte Internationale – siehe die Schriften unseres verstorbenen Genossen Daniel Bensaid – schon seit Längerem vertritt. Und wenn der Programmentwurf „die Zentralität der ökologischen Frage“ in den Mittelpunkt rückt, findet dies unsere Zustimmung1.

Das Ziel der Linkspartei ist der demokratische Sozialismus im 21. Jahrhundert. Der Terminus demokratischer Sozialismus gehörte auch nach Bad Godesberg lange zum programmatischen Fundus der SPD. Auch das Plädoyer für eine Wirtschaftsdemokratie gehört zum Handgepäck des verbalen Reformismus. Trotz der Ablehnung der neoliberalen Strategien, die nichts anderes sind als Klassenkampf von oben, existiert die Realität der Klassengegesellschaft erstaunlicherweise in dem Dokument nicht. Und das bei einer „Partei mit sozialistischem und feministischem Anspruch“ (S. 13).

Viele Punkte und Elemente des Programms sind sicherlich progressiv und unterstützenswert und bilden die Grundlage von Aktionseinheiten und breiten Bündnissen zwischen reformistischen, zentristischen und revolutionären linken Kräften. Sie können hier aus Platzgründen nicht im Einzelnen diskutiert werden, werden im Einzelfall sicher in folgenden Ausgaben der Avanti einer kritischen Würdigung unterzogen. Positiv ist sicherlich die Befürwortung politischer Streiks und des Generalstreiks. Die Demokratisierung der Gesellschaft soll durch die Stärkung der Parlamente und partizipative Demokratie gefördert werden.

„Die Linke kämpft in einem großen transformatorischen Prozess gesellschaftlicher Umgestaltung für den demokratischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts. Dieser Prozess wird von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe gekennzeichnet sein“ (S. 9). Eine solche Strategie kann ohne Klassenanalyse genau so wenig entwickelt werden wie eine ärztliche Therapie ohne vorausgegangene Diagnose.
Staatsfrage
Eine sozialistische Programmatik und die darauf basierende sozialistische Strategie kann die Rolle des Staates in der bürgerlichen Gesellschaft nicht ausblenden. Das Manifest der kommunistischen Partei von Marx und Engels spricht eine klare Sprache: „Die moderne Staatsgewalt ist nur ein Ausschuss, der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisklasse verwaltet“. Der bürgerliche Staat als Produkt der gesellschaftlichen Arbeitsteilung verwirklicht die Aufrechterhaltung einer bestimmten Gesellschaftsstruktur insbesondere der Produktionsverhältnisse und der Klassenstruktur2. Als „ideeller Gesamtkapitalist“ kann er sich gegen selektive Kapitalinteressen durchsetzen und suggeriert dann seine angebliche Neutralität. Seine Funktionen sind integrativer, technischer und repressiver Natur. Gerade in der Ära des Neoliberalismus tritt sein Klassencharakter offen hervor so in Form des Überwachungsstaates, der Militarisierung der Außenpolitik – der gewöhnliche Imperialismus – und der sozialpolitischen Klassenpolitik zugunsten der Verwertungsbedingungen des Kapitals wie bei der Agenda 2010. Dabei ist das Parlament eines seiner Instrumentarien, ein Ort der fiktiven Demokratie, der der Bevölkerung vorgibt, die gesellschaftliche Akteurin zu sein. Da haben Tausende Lobbyisten in den Wandelgängen der Parlamente mehr Einfluss.

Unser Einwand ist nicht rein akademischer Natur. Die Linkspartei integriert sich immer stärker in den Parlamentarismus und vertieft so die Illusionen in eine Systemveränderung über die Institutionen des bürgerlichen Klassenstaats. Gleichzeitig erweist sich die Parlamentsfraktion als Herzstück der Partei. Dann spielen soziale Bewegungen und außerparlamentarische Ansätze nur noch die Rolle der Infanterie der Partei, die sich „auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung“ konzentriert wie Marx in einem Zirkularbrief an die SPD-Führung notierte.
Notiz zum Programmcharakter
Die Partei muss sich an dem Anspruch messen lassen, letztlich die Systemfrage zu stellen. Die Addition noch so lobenswerter Einzelpositionen ist noch keine systemsprengende Strategie. Letztlich bleibt man dem Dilemma der Trennung von Minimal- und Maximalprogramm3 verhaftet, wobei Letzteres seine Heimstätte in Hochglanzbroschüren und in 1. Mai-Reden findet. Der Dualismus von Nahzielen in Form von Sofortforderungen und dem Fernziel Sozialismus des 21. Jahrhunderts lässt das Endziel spätestens bei Regierungsbeteiligungen in weite Ferne rücken. Die Geschichte der Arbeiter­Innenbewegung weist zahlreiche negative Beispiele auf, die letztlich in Niederlagen des Proletariats mündeten. Deshalb favorisieren wir eine Strategie, die am aktuellen Bewusstseinsstand der Massen anknüpft und Forderungen enthält, die nicht mehr in das kapitalistische System integrierbar sind. Eine solche Strategie der Übergangsforderungen stellt insofern eine „Brücke zum Sozialismus“ dar.
Bündnispartner und Realpolitik
Der „natürliche“ Partner der Linkspartei ist die SPD. Mit etwas sozialpolitischer Kosmetik sucht die Sozialdemokratie ihr tief erschüttertes Ansehen aufzufrischen. Die SPD ist aber eine neoliberale Kapital- und Kriegspartei. Dieser Prozess ist irreversibel. Der Bündnispartner der Linkspartei steht für die Agenda 2010 und somit Hartz IV, für den Wegfall des Sterbegelds, die Praxisgebühr, massive Privatisierungen, Ausbreitung prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen, die Rente mit 67, Verdoppelung der Kinderarmut, Militarisierung der Außenpolitik, die ihren Höhepunkt mit der Beteiligung am völkerrechtswidrigen Überfall auf die B
undesrepublik Jugoslawien 1999 erreichte, und für die Verteidigung Deutschlands am Hindukusch. Glänzende Voraussetzungen für den Weg in Richtung Sozialismus des 21. Jahrhunderts!

Die Glaubwürdigkeit von programmatischen Vorstellungen findet ihren Lackmustest in der praktischen Politik. Die bisherigen „rot-roten“ Koalitionen sind ernüchternde Beispiele. Denken wir nur an die Veräußerung der GSW, den Austritt aus dem Arbeitgeberverband in Berlin, das Sicherheits- und Ordnungsgesetz in Mecklenburg-Vorpommern und die Wohnraumprivatisierungen in Dresden, um nur einige der zahlreichen Beispiele zu nennen. Dann bleiben vom großen Programmentwurf nur noch die kleinen Reformschritte übrig, die als konsensstiftende Maßnahmen durchaus ins Herrschaftskonzept der Bourgeoisie passen.
Ausblick
Es wäre dennoch verfehlt, sich dieser Debatte zu entziehen. Deshalb werden wir in den nächsten Ausgaben der Avanti einige Eckpunkte des Programmentwurfs kritisch untersuchen, um ihm in seiner Gesamtheit gerecht zu werden. Die Diskussion um politische Streiks und die Möglichkeit des Generalstreiks, die in die Gewerkschaften getragen werden muss, sollte hier einen zentralen Stellenwert haben. Daran werden wir uns kritisch und solidarisch beteiligen. Was Programmdebatten betrifft, stimmen wir ausdrücklich einem bekannten Trierer Genossen zu: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme“ (Karl Marx).

1     Siehe: Kapitalistische Klimaveränderung und unsere Aufgaben – Resolution des 16. Weltkongresses der Vierten Internationale.
2     Vgl. Ernest Mandel, Der Spätkapitalismus, XV. Kapitel
3     Ernest Mandel. Die Strategie der Übergangsforderungen

 

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