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Innenpolitik

Prekarisierung und Klassenstruktur (Teil 2)

Von Walter W. | 01.05.2007

Die Prekarisierung erfährt viele Umschreibungen. Da ist von einer “Brasilianisierung der Arbeitswelt” (Ulrich Beck) die Rede. Die Zeit spricht von den Kollegen zweiter Klasse und Andrè Gorz erblickt eine “neue Dienstbotenklasse”. Was ist dran an diesen Umschreibungen?

Die Prekarisierung erfährt viele Umschreibungen. Da ist von einer “Brasilianisierung der Arbeitswelt” (Ulrich Beck) die Rede. Die Zeit spricht von den Kollegen zweiter Klasse und Andrè Gorz erblickt eine “neue Dienstbotenklasse”. Was ist dran an diesen Umschreibungen?

Die typischen Charakteristika der fordistischen Arbeitsgesellschaft mit Tarifverträgen, Gewerkschaften, Kündigungsschutz, bezahltem Urlaub, Mitbestimmung, Abfindungen geraten zunehmend ins Hintertreffen. Die um sich greifenden atypischen Arbeitsverhältnisse mit ihrer Instabilität, niedrigen Einkommen, fehlenden Schutzbestimmungen und ungenügendem Schutz vor Ausgrenzung erhalten ein immer stärkeres Gewicht. Bei real 7-8 Millionen Erwerbslosen entsteht ein gesamtgesellschaftliches Klima der Angst, das die Betroffenen regelrecht paralysiert. Es ist höchst elitär, die Passivität der Klasse dem mangelnden Klassenbewusstsein allein zuzurechnen. Deregulierung, Flexibilisierung des Arbeitsortes und der Arbeitszeiten sind eben keine rein sozialwissenschaftlichen Kategorien, sondern beschreiben konkrete Lebenslagen der Ausgrenzung, materieller Armut, von Pessimismus und sozialer Bindungsverluste. Eine Klassenanalyse, die diesen Namen verdient, muss der Tatsache gewahr sein, dass hier sämtliche Lebensbereiche erfasst werden und nur eine komplexe Analyse des Ganzen die Voraussetzung einer klassenpolitischen Antwort ist.

Dabei verzeichnen wir drei Zonen der Sicherheit. In der „Zone der Sicherheit“ leben die Gesicherten, die Selbstmanager und die materiell gut Verdienenden, aber auch die Verunsicherten z. B. der Filialleiter der Deutschen Bank, über dem auch sehr rasch das Damoklesschwert Hartz IV kreisen kann. Sie alle sind abstiegsbedroht. In der “Zone der Prekarität” tummeln sich die Hoffenden, die vom Aufstieg träumen und die Realistischen, die sich in der Bescheidenheit eingerichtet haben. Paradoxerweise finden sich hier auch die Zufriedenen, deren Existenz durch weitere Haushalteinkommen abgesichert ist. In der „Zone der Entkoppelung“ treffen wir die Langzeitarbeitslosen mit wenig Perspektive und die Abgehängten ohne Zukunft. Sie bilden die modernen „Lazarusschichten des Proletariats“ (Karl Marx). Nicht von ungefähr liegt hier die Suizidquote um ein Mehrfaches über dem Durchschnitt. Im Prinzip kann mensch durchaus von einer Dreiklassengesellschaft sprechen. Robert Castell konstatiert zu Recht, dass es keine „Infragestellung der Arbeit, sondern eine Infragestellung der Kategorie Anstellung gibt.“ Der Glaube an den gesellschaftlichen Fortschritt ist verflogen und die Synergien des Massenkonsums und der Kaufkraft sind ebenso Vergangenheit wie der sozialpartnerschaftliche Kompromiss zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Davon träumt mensch vielleicht bei der Linkspartei, die den Sozialliberalismus exhumieren und anschließend reanimieren möchte. Eine antikapitalistische Strategie muss den Veränderungen in der Klasse Rechnung tragen und jeder Form der Klassenkollaboration eine deutliche Absage erteilen. Sonst sind die künftigen Niederlagen, wie unzählige Beispiele aus der Geschichte der ArbeiterInnenbewegung beweisen, schon vorprogrammiert. In späteren Ausgaben wollen wir uns mit den Themen Prekarisierung von Frauen und von MigrantInnnen auseinandersetzen sowie die Kriminalisierung der Prekären darstellen.

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