Ortega

Foto: Jorge Mejía peralta, peralta Cual es el miedo, CC BY 2.0

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vom Guerillero zum Despoten

Ortega

Von Hendrick Bollinger (BFS Zürich) | 05.11.2021

In Nicaragua wird sich am 7. November Daniel Ortega erneut zum Präsidenten wählen lassen. Bereits vor den letzten Wahlen von 2016 schrieb die linke Schweizer Wochenzeitung WOZ[1], es gebe wohl kein formal demokratisches Land, in welchem der Wahlsieg des Machthabers so deutlich vorhersehbar sei. 2021 ist es noch viel eindeutiger, dass Ortega gewinnen wird. Es gibt auf dem gesamten amerikanischen Kontinent kaum einen Herrscher, welcher eine derart umfassende Machtfülle besitzt, wie Ortega. Er und seine Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo kontrollieren die Regierung, das Parlament, die Gerichtsbarkeit, den Wahlrat, die Polizei und das Militär. 2018 kam es zu einem mehrmonatigen Volksaufstand, welcher das Regime ernsthaft ins Wanken brachte. Doch heute sitzen Ortega und Murillo wieder fest im Sattel.

Ortega als einziger Kandidat

Das Informationsbüro Nicaragua aus Wuppertal schreibt, dass diverse bekannte Oppositionspolitiker:innen von der Regierung Ortega-Murillo verhaftet wurden. Darunter befinden sich drei Ex-Gueriller@s wie zum Beispiel Dora Maria Tellez, welche die Präsidentschaftskandidatin der Partei UNAMOS ist. Letztere spaltete sich in den 1990er Jahren unter dem alten Namen Movimiento Renovador Sandinista (MRS) vom Frente Sandinista (FSLN) – der jetzigen Regierungspartei und ehemaligen Guerilla – ab. Bereits damals war Ortegas Allmachtsanspruch in der Partei einer der Gründe für die Spaltung. Dass Tellez verhaftet wurde, spricht Bände über Ortegas Verrat am Sandinismus der 1980er Jahre. Denn es war niemand geringeres als Dora Maria Tellez, welche als Comandante Dos ein 26-köpfiges Kommando mitbefehligte, welches 1978 den Nationalpalast besetzte. Damit nahm die Guerilla FSLN das Parlament des Militärdiktators Somoza als Geisel, woraufhin dieser politische Gefangene freilassen musste und massiv geschwächt dastand. Rund ein Jahr später besiegte der Frente Sandinista den Diktator. Auch Ortega selbst verdankt seine Befreiung aus Somozas Gefängnissen einer ähnlichen Aktion in den 1970er-Jahren.

Somit sind sämtliche ernsthaften oppositionellen Präsidentschaftskandidat:innen im Gefängnis, im Exil oder ihnen wurde die Zulassung entzogen. Es gibt de facto also genau einen Kandidaten, den man am 7. November wählen kann: Daniel Ortega. Die weiteren Kandidat:innen, für welche man sich am Wahltag entscheiden kann, leisten einen Beitrag zum angeblich demokratischen Funktionieren des Staatswesens. Für diese Leute gibt es in Nicaragua den Begriff oposición de zancudos[2], da sie vom Frente Sandinista geduldet und gewissermassen auch ernährt werden.

Ebenfalls inhaftiert sind so gut wie alle anderen Exponent:innen der Opposition, sofern sie nicht das Land verlassen haben. Unter den politischen Gefangenen ist zum Beispiel der studentische Anführer Lesther Aleman. Das ist der junge Mann, der 2018 den Mut hatte, Ortega ins Gesicht zu sagen, dass er ein Mörder sei. Dies geschah am Diálogo Nacional im Mai 2018, der von der Bischofskonferenz einberufenen wurde. Vertreter:innen der Opposition trafen dort auf Daniel Ortega und Rosaria Murillo. Kurz darauf brach die Regierung diese Verhandlungen ab und setzte ihre Macht wieder offen mit brutaler Repression durch.

Viele, die konnten, haben seit 2018 das Land verlassen. Unter den unzähligen Exilant:innen befinden sich mittlerweile auch Luis Enrique Mejia Godoy (Musiker und Ikone der Revolution), Carlos F. Chamorro (in den 1980ern Chefredakteur der FSLN-Zeitung Barricada, heute unabhängiger Journalist) und Sergio Ramirez (in den 1980er Jahren als Vize-Präsident gemeinsam mit Ortega an der Spitze der Revolution). Selbst gegen Ramirez wurde unterdessen ein Haftbefehl erlassen.

Vor diesem Hintergrund wurde am 7. Oktober 2021 von diversen Organisationen die «Deklaration der demokratischen Opposition Nicaraguas» veröffentlicht, in welcher die anstehenden Präsidentschaftswahlen als Farce bezeichnet werden und dazu aufgerufen wird, diese zu boykottieren. Unter den unterzeichnenden Organisationen finden sich die Partei UNAMOS, die teils studentische Jugendorganisation Unidad Juvenil y Estudiantil und das Bündnis sozialer Bewegungen Articulación de Movimientos Sociales. Alle diese drei Organisationen sind Teil von der Unidad Nacional Azul y Blanco (UNAB). Die UNAB ist der Dachverband der Opposition, der 2018 entstand. Sein praktisch einzig einendes Element ist die Ablehnung der Regierung Ortega-Murillo. 2020 kam es zur Spaltung, da die Alianza Civica aus der UNAB austrat. In der Alianza Civica sind unter anderem die Überreste der liberalen Partei PLC zu finden, deren Führungsfigur Arnoldo Aleman vor Ortega Präsident war. Seine Amtszeit lässt sich in zwei Wörtern zusammenfassen: Kleptokratie und Korruption.

Praktisch alle NGO illegalisiert

Auf der Grundlage der 2020 erlassenen Gesetze, welche vorgeblich ausländische Spionage bekämpfen sollten, wird momentan der Grossteil der internationalen NGO, welche zum Teil seit den 1980er Jahren in Nicaragua aktiv sind, aus dem Land geworfen. Auch nicaraguanischen NGO wird pauschal unterstellt, ausländische Einflussnahme zu betreiben. Bereits vor 2020 wurden Organisationen, welche sich 2018 auf die Seite der Opposition schlugen, verboten. Darunter ist zum Beispiel die Fundacion Popol Na. Diese Organisation, welche Teil der Ortega-kritischen linken Dissidenz ist, kämpfte beispielsweise schon lange vor 2018 mit Kleinbäuer:innen (Campesin@s) gegen den Bau des interozeanischen Nicaragua-Kanals. Dieser hätte die Lebensgrundlage dieser Campesin@s zerstört und verheerende ökologische Auswirkungen gehabt. Direktorin von Popol Na ist die Menschenrechtsanwältin Monica Lopez Baltodano. Sie ist die Tochter der ehemaligen FSLN-Kämpferin Monica Baltodano. Popol Na finanziert sich unter anderem durch Spenden der Rosa Luxemburg Stiftung aus Deutschland.

Schon 2018 wurde das unabhängige Nicaraguanische Zentrum für Menschenrechte (CENIDH) von Polizeikräften geschlossen und agiert seither in der Illegalität. Vorsitzende von CENIDH ist Vilma Nuñez. Sie war in den 1980er Jahren Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofs. Sie vollzog ihren Bruch mit Ortega 1998. Damals erhob die Tochter von Rosario Murillo, Zoilamerica Ortega Murillo, Vergewaltigungsvorwürfe gegen ihren Stiefvater Daniel Ortega. Die Aufklärung des Vorwurfs wurde von den Behörden und auch innerhalb der FSLN-Parteistrukturen systematisch verhindert.

Warum sollten Organisationen wie Popol Na oder das CENIDH «Agenten des Imperialismus» sein? Der Schlag gegen die NGO ist nichts weiter als eine Säuberungsaktion, mit der ein autoritäres Regime die eigene Macht absichert. Auch wenn es naheliegt, dass andere rausgeworfene Organisationen wie USAID oder auch Oxfam ganz offensichtlich oder zumindest subtil imperialistische Interessen vertreten, bedeutet das für die Bevölkerung schlichtweg die ersatzlose Streichung notwendiger sozialer Dienste. Dieses absolut inakzeptable und verantwortungslose Vorgehen kommt wohlgemerkt von jener Regierung, welche sich auf die Fahne schreibt, durch Sozialprogramme die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern.

Nicaragua kann aufgrund der globalen Gegensätze in absehbarer Zeit wohl kaum ohne die Unterstützung aus Ländern des globalen Nordens[3] auskommen. Die Frage ist also nicht, ob Geld fliesst, sondern bloss wessen Geld. Viele Anzeichen[4] sprechen dafür, dass sich das Regime vom Westen abwenden und die Beziehung zu Russland und China stärken möchte. So war an den Festivitäten zum 19. Juli 2021 (Tag der Revolution) ein Repräsentant des russlandtreuen Abchasiens[5] Ortegas einziger Internationaler Gast. Die USA sind aber nach wie vor der wichtigste Handelspartner Nicaraguas. Die traditionelle Oligarchie und auch Ortega wollen dies kaum ändern. Allerdings hat Ortega ein politisches, und auch ökonomisches, Interesse an den Investitionen aus und dem Handel mit China und Russland.

Hohle Phrasen über die Revolution

Die Wirtschaftspolitik dieser Regierung hat nichts mit Antikapitalismus zu tun. Ortegas Regierung bietet keine Alternative zur Austeritätspolitik, sondern kooperiert mit dem IWF. Zwar hat sich das BIP zwischen 2007 und 2017 verdoppelt und die extreme Armut wurde unter Ortega deutlich reduziert.[6] Doch die Klassengegensätze haben ebenfalls massiv zugenommen. An der zentralen Strasse der Hauptstadt Managua sind protzige Konsum- und Vergnügungspaläste wie Pilze aus dem Boden geschossen. Gleichzeitig arbeiten viele Nicaraguaner:innen in Maquilas (Niedriglohnfabriken) für den Export in die USA. Dafür wurden Sonderwirtschaftszonen errichtet. Es scheint, als wolle Nicaragua dorthin, wo Vietnam heute bereits ist. Marktwirtschaft und Wirtschaftswachstum um jeden Preis, dekoriert mit antiimperialistischer Symbolik, die als Nationalidentität herhalten muss. Ergänzt wird diese Rhetorik durch esoterisches Gefasel über Liebe und Gottes Gnade von der Vizepräsidentin Murillo.

Die Regierung Ortega ist ein Regime der kapitalistischen Modernisierung. Im Unterschied zu bürgerlich-demokratischen Ländern wird das wirtschaftspolitische Gefüge jedoch von einer einzelnen Partei kontrolliert. Das Wirtschaftswachstum wurde ab 2018 stark gebremst, da Ortega geopolitisch weitgehend isoliert dasteht. Nicaragua ist ein armes Land mit wunderschönen neuen Polizeiautos. Für den Sicherheitsapparat kratzt das Regime seine verbleibenden Mittel zusammen.

Es bleibt zu hoffen, dass sich die Bevölkerung Nicaraguas die Alleinherrschaft der Familie Ortega-Murillo nicht auf Ewigkeit gefallen lässt. Ein erneutes Szenario wie 2018, als die Proteste gewaltsam niedergeschlagen wurden und die Opposition hunderte Todesopfer zu beklagen hatte, wäre verheerend. Doch genau deshalb haben sämtliche Organisationen der Opposition stets auf einen friedlichen Wandel gesetzt.


[1] Nr. 44, 2016, S. 13, https://www.woz.ch/1644/nicaraguas-sandinistisches-erbe/der-tropische-stalinist-und-die-esoterische-poetin

[2] Wörtlich übersetzt Moskito-Opposition. Damit will gesagt werden, dass diese Scheinoppositionellen wie Blutsauger von der Regierung abhängig sind.

[3] Mit globalem Norden ist gemeint, was in der Dependenztheorie als imperialistisches Zentrum gilt. Russland und China werden dazu gezählt. Im Fall von China mag die Bezeichnung Norden überholt sein. Das Muster ist jedoch dasselbe. Lateinamerika liefert Rohstoffe, China bietet Kredite, exportiert (hochtechnologisierte) Güter und ist derzeit im Begriff diverse Infrastrukturprojekte auf dem Kontinent aufzugleisen.

[4] Zum Beispiel ein Kanalprojekt mit China, die Lieferung von russischem Kriegsmaterial, die Stationierung russischer Abhöranlagen in Nicaragua usw.

[5] Abchasien befindet sich im Kaukasus und wird als Staat bisher von Russland, Nicaragua, Venezuela, Nauru und Syrien anerkannt.

[6] Es gibt diverse klientelistische Hilfsprogramme, die ja auch der Grund dafür sind, dass Ortega immer noch eine Massenbasis hat.

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