Oktober 1917 – Putsch oder revolutionärer Aufbruch?

Sturm auf den Petersburger Winterpalast 1917. Nachstellung von 1920 Foto: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stormningen_av_vinterpalatset.jpg, public domain in Russia

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Oktoberrevolution

Oktober 1917 – Putsch oder revolutionärer Aufbruch?

Von Helmut Dahmer | 19.12.2017

„Die Rechnung von Lenin und Genossen […] war diktiert von zwei rein revolutionären Gesichtspunkten: von dem unerschütterlichen Glauben an die europäische Revolution des Proletariats als den einzigen Ausweg und die unvermeidliche Konsequenz des Weltkrieges und von der ebenso unerschütterlichen Entschlossenheit, die einmal errungene Macht in Russland bis zum äußersten zu verteidigen, um sie zur energischsten und radikalsten Umwälzung auszunützen.“ (Rosa Luxemburg, September 1918*)

Luxemburg, deren Überlegungen zum Charakter der kommenden russischen Revolution seit 1905 denjenigen Trotzkis nahekamen, gab, ein knappes Jahr nach dem Oktoberaufstand der Bolschewiki, ihrem (oben zitierten) Artikel den Titel „Die russische Tragödie.“ Wir blicken, nach 100 Jahren, auf das bolschewistische Experiment, die im Herbst 1917 eroberte politische Macht im Bürgerkrieg zu behaupten und für eine sozialistische Umgestaltung der russischen Gesellschaft zu nutzen, etwa so zurück, wie die Bolschewiki auf die Pariser Kommune von 1871 zurücksahen. 1917 handelte es sich zunächst um einen von einer politisch aktiven Minderheit organisierten bewaffneten Aufstand.Die Lenin-Partei, der sich Trotzkis Gruppierung (die „Inter-Bezirksorganisation“) im August anschloss, hatte ihre Mitgliedschaft im Laufe des Jahres (auf 240.000) verzehnfacht und in der zweiten Jahreshälfte 1917 eine Mehrheit in der – nach dem Vorbild von 1905 wiedererstandenen – großstädtischen Parallelregierung der Arbeiter-, Soldaten- (und Bauern-) Räte („Sowjets“) errungen, und zwar mit folgenden Losungen: >Sofortiger Friede, sofortige Aufteilung der Großgrundbesitzes, Arbeiterkontrolle über die Betriebe,Beseitigung der [provisorischen] bellizistisch-kapitalistischen Regierung sowie „Alle Macht den Räten.< Im Lande standen 5 Millionen Arbeiter in Industrie und Transport 100 Millionen landhungrigen Bauern gegenüber, die, ein halbes Jahrhundert nach der formellen „Bauernbefreiung“ (von 1861), endlich das Land unter sich aufteilen wollten und erwarteten, dass eine revolutionäre Regierung ihre Landnahme-Aktionen legitimiere. Der große Krieg war (wie schon der russisch-japanische ein Jahrzehnt zuvor) für Russland verloren, die kriegsmüden Soldaten und die hungernde Stadtbevölkerung waren von den „provisorischen Regierungen“ des Jahres 1917, die weder den Krieg beendet, noch eine Bodenreform in Angriff genommen hatten, enttäuscht. Sie desertierten in Scharen und gingen zu den Bolschewiki über, die (als einzige der damaligen Parteien) bereit waren, sich ihre wichtigsten Forderungen (Frieden, Land, Brot) zu eigen zu machen, deren Befriedigung nach Lage der Dinge einen Umsturz der tradierten Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse, also die soziale Revolution voraussetzte. Hätten die (mit den „Linken Sozialrevolutionären“ verbündeten) Bolschewiki im November nicht die Macht übernommen, so hätte sich einer der „weißen“ Generäle (Kornilow, Koltschak, Denikin…) zum Diktator aufgeworfen, die in den Jahren 1917-1920 – im Bunde mit konterrevolutionären Interventionstruppen – gegen die von den Bolschewisten geführte Sowjetregierung zu Felde zogen. Die Kriegs-Praxis dieser „weißen“ Truppen zeigt, was sie im Falle ihres Sieges in Russland angerichtet hätten.[1] Anstelle Italiens wäre vermutlich Russland zum ersten faschistischen Staat Europas geworden.

Leute, die sich eine revolutionäre Massenbewegung weder vorstellen können noch wollen, verwechseln absichtsvoll den von Trotzki organisierten Oktoberaufstand, der eine soziale Revolution einleitete, mit einem „Staatsstreich“ oder „Putsch“. Im Fall eines Putsches versucht eine Handvoll Desperados (Offiziere, abgehalfterte Generäle) mit Unterstützung einflussreicher Geldgeber und/oder einer ausländischen Macht, eine gewählte (parlamentarische) Regierung mit Waffengewalt zu beseitigen, sich selbst an deren Stelle zu setzen und eine politische Diktatur zu begründen.[2] Die Oktoberrevolution war hingegen das Resultat eines Volksaufstands und hatte die Überwindung der kapitalistischen Verhältnisse in den städtischen Zentren und die Beseitigung der vorkapitalistischen Verhältnisse auf dem Lande zum Ziel. Ohne ihren Rückhalt bei der Arbeiterschaft und bei den Bauern, und das heißt: ohne ihre bewaffneten Verteidiger, die „Roten Garden“ und (ab 1918) die „Rote Armee“– die im Laufe des Jahres von 100.000 Freiwilligen auf eine Million Wehrpflichtige anwuchs –, hätte die bolschewistische Regierung in Petersburg und Moskau schon die ersten Wochen und Monate nach dem Oktoberaufstand nicht überlebt, geschweige denn den darauf folgenden, ihr aufgezwungenen, dreieinhalbjährigen Bürgerkrieg, in dem (in den Jahren 1918-1921) zwischen 8und 10 Millionen Menschen ums Leben kamen.
Die Bildung der bolschewistisch dominierten Sowjetregierung, der Siegihrer Roten Armee und die Gründung einer neuen, kommunistischen Internationale (1919), die die internationale Revolution der Lohnarbeiter und der unterdrückten Völker proklamierte, löste weltweit eine lang anhaltende Welle der Begeisterung und Solidarität bei hunderten Millionen Arbeitern und Arbeiterinnen, bei den Opfern kolonialer Unterdrückung und bei Intellektuellen und Künstlern aus. Ihnen allen gemeinsam war der Traum, etwas Ähnliches wie die Oktoberrevolution in den kapitalistischen Metropolen und in den von diesen beherrschten, unterentwickelt gehaltenen Ländern zuwege zu bringen. Die spanische Revolution von 1936, die chinesische der späten vierziger und die kubanische von 1959 sind ohne das Vorbild der russischen gar nicht zu denken. Von der Revolutionsbegeisterung der zwanziger Jahre profitierte später auch noch die Stalin-Despotie, in der Viele (trotz ihrer fatalen Politik in den letzten Jahren der Weimarer Republik, ihrer Rolle im spanischen Bürgerkrieg und dem Räuberpakt mit Hitler [1939-1941]) den einzigen wirklichen Gegner des Faschismus sahen. Obwohl die Sowjetunion längst zu einem riesigen „Potemkinschen Dorf“ geworden war, dessen glänzende Fassade den „Archipel GuLag“ verdeckte, zehrten auch die Nachfolger Stalins in der Sowjetunion und in den osteuropäischen Satelliten-Staaten jahrzehntelang noch vom „Sowjet-Mythos“.
Die bolschewistische Partei büßte in den Jahren des Bürgerkriegs, derDesindustrialisierung und Entstädterung weitgehend ihre eigentliche Basis, die aktionsfähige städtische Arbeiterschaft, ein. Ein Großteil ihrer Kader wurde von Armee und Verwaltung absorbiert. Und ihre Führung begann, sich nicht nur für den Statthalter einer geschwächten Klasse, sondern für das einzig handlungsfähige revolutionäre Subjekt zu halten. Stellvertretend für das schrumpfende städtische Proletariat errichtete die Partei-Oligarchie eine militärische Notstandsdiktatur („Kriegskommunismus“). An die Stelle von Propaganda und Überzeugung trat mehr und mehr die Gewalt, und zwar:

(1.) im Verhältnis der bolschewistischen Partei zur bäuerlichen Mehrheit (mit Getreiderequisitionen und der militärischen Bekämpfung von Aufständen); (2.) in Gestalt von Verboten und Repressionen gegen die politischen Konkurrenten (Menschewiki,Sozialrevolutionäre, Anarchisten); (3.) im Verhältnis zu den der Sowjetunion(seit 1922) angehörenden nationalen Republiken (wie Georgien) und (4.) im Inneren der Partei selbst, im Verhältnis der Mehrheitsfraktion, ihres General-Sekretariats (und dessen Apparats) zu den Minderheitsfraktionen (wieder „Arbeiteropposition“ und den „Demokratischen Zentralisten“). Diese „jakobbinische“ Fehlentwicklung[3] wurde 1922/23 von den beiden ausschlaggebenden Revolutionsführern, Lenin und Trotzki, die sie in den Bürgerkriegsjahren notgedrungen in Gang gesetzt und verteidigt hatten, als solche erkannt.[4]

Die „substitutionistische“ Regression rückgängig zu machen, war es – unter den Bedingungen der internationalen Isolierung der Sowjetunion, der Verschmelzung von Partei- und Staatsapparat und der Verselbständigung der paramilitärischen Geheimpolizei (die 1921 bereits eine Stärke von 137.000 Agenten und Paramilitärs hatte), bereits zu spät.[5] Lenins Krankheit hinderte ihn (1922/23), in der Partei den Kampf gegen die im Geist des „großrussischen Chauvinismus“ agierende Staats- und Partei-Bürokratie aufzunehmen, für den er Trotzki als Verbündeten zu gewinnen hoffte. Trotzki blieb (1923/24) mit seinem Programm zur Wiederherstellung der Partei- und Arbeiterdemokratie – im Rahmen der Aufrechterhaltung des Bündnisses von Arbeiter- und Bauernschaft, planmäßiger Industrialisierung und revolutionärer Außenpolitik – in der Minderheit und wurde alsbald vom Triumvirat Stalin-Sinowjew-Kamenjew als („sozialdemokratischer“) Abweichler abgestempelt.

1924 war das Jahr des russischen „Thermidors“[6], also des Rückläufigwerdens (oder der Schubumkehr) der Revolution. Im Herbst dieses Jahres vollzog der 1922 zum Generalsekretär – d. h. zum Herrn der Dossiers und der Stellenbesetzung – aufgerückte Stalin den Bruch mit der internationalistischen Basis-Orientierung der von Lenin und Trotzki in der Revolutionszeit geführten Partei und propagierte stattdessen eine nationalkommunistische „Lösung“, die auf eine langfristige Mangelwirtschaft hinauslief, die nur mit Hilfe von Massenterror durchgesetzt und aufrechterhalten werden konnte. Aus der Not der ökonomisch-politischen Isolation machte Stalin eine Tugend und verhieß der von Krieg, Hunger und Bürgerkrieg erschöpften Bevölkerung, die – nach der Wendung zur Neuen Ökonomischen Politik, also zu einer staatlich kontrollierten Marktwirtschaft – gerade erst wieder zum Aufatmen gekommen war, im Rahmen der Ein-Partei-Diktatur einen ruhigen Fortschritt auf einer bewaffneten Insel im Krisen- und Kriegsmeer der kapitalistischen Weltwirtschaft. Mit diesem Programm gelang es der Stalin-Fraktion in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre, zuerst die linke (von Trotzki geführte), dann die rechte (von Bucharin inspirierte) Opposition auszuschalten. Dass das nationalkommunistische Projekt einer nachholenden Industrialisierung – als „Aufbau des >Sozialismus< in einem einzelnen Lande“ proklamiert – die Ausrichtung der sowjetischen Außenpolitik auf die Aufrechterhaltung des internationalen Status quo einschloss und im weiteren zur politischen Lähmung der Komintern-Parteien führte, wurde zuerst an der „offiziellen“ Politik gegenüber dem englischen General- und Bergarbeiterstreik von 1926 und (im Jahr darauf) an der Politik Stalins und Bucharins gegenüber Tschiang Kai-schek und der chinesischen Guomindang kenntlich. In den dreißiger Jahren wurde die Isolierung der Sowjetunion durch die Verhinderung einer antifaschistischen Einheitsfront in Deutschland (in den Jahren 1929-1933) und durch die Volksfront-Politik in Spanien (1936-39), die zur Niederlage der republikanischen Streitkräfte führte, zementiert. Das fatale Bündnis Stalins mit Hitler, der die deutsche Arbeiterbewegung vernichtet hatte, eröffnete dem deutschen Diktator im Herbst 1939 die Möglichkeit, Frankreich zu erobern und sich auf den Vernichtungskrieg gegen den „jüdischen Bolschewismus“ vorzubereiten. Am Vorabend des zweiten Weltkriegs konnte es über die Zielsetzung der stalinistischen Außenpolitik keinen Zweifel mehr geben.
Als 1928 die Versorgung der Städte mit Getreide (neuerlich) gefährdet war, vollzog Stalin eine jähe Wendung seiner Innenpolitik. Ohne die erforderlichen industriellen, das heißt technischen Voraussetzungen dazu (Traktoren, Maschinerie, Düngemittel) organisierte er mit Hilfe der GPU-Truppen eine rasche Zwangskollektivierung der seit 1917 entstandenen Bauernwirtschaften, die zu einer Art Bürgerkrieg (mit Sabotage-Reaktionen, Massenerschießungen und Deportationen) und zu einer Hungersnot – vor allem in den Jahren 1932/33 in der Ukraine („Holodomor“) – führte. Diese Zwangskollektivierung zog eine dramatische Senkung der bäuerlichen Arbeitsproduktivität und das heißt: einen Jahrzehnte anhaltenden Mangel an Konsumgütern nach sich. Mangel und Terror im „ersten Arbeiterstaat“ und die Rückkehr zum Kapitalismus in den neunziger Jahren haben das sozialistische Projekt nachhaltig diskreditiert. Die bedeutendste Errungenschaft der Revolution war und blieb die Verstaatlichung der Industrie, der Transportmittel, der Banken und des Groß- und Außenhandels. Die Organisation der Wirtschaft, die gesamtwirtschaftliche Planung und die Leitung der Betriebe oblag der neu entstandenen Staats- und Wirtschaftsbürokratie, zu deren politischem Organ die stalinisierte, hierarchisch gegliederte Massenpartei wurde. Die Forcierung der Produktionsmittel- Erzeugung, vor allem der Schwerindustrie, auf Kosten der Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern bildete seit 1929 das Kernstück der Fünfjahrpläne. Die enorme Ungleichheit der Lebenshaltung der privilegierten Schicht auf der einen, der unzureichend versorgten Bevölkerungsmehrheit auf der anderen Seite konnte jahrelang nur mit Hilfe von Terror aufrechterhalten werden. Die drakonische Arbeitsgesetzgebung in Stadt und Land wurde durch die Einführung der Sklavenarbeit in einem landesweiten Netzwerk von Straflagern ergänzt. Motor der Kommandowirtschaft waren weder Profit, noch Markt, sondern das Interesse der Bürokratie, die unkontrolliert über die Aufteilung des Mehrprodukts verfügte, an der Erfüllung starrer Planvorgaben und der Sicherstellung der einzelbetrieblichen Rentabilität. Im Zentrum der Planwirtschaft wurden die wichtigsten Produktionsmittel und Rüstungsgüter (Rohstoffe, Maschinen, Elektrizität, Transportmittel) nicht mehr – wie die knappen Konsumgüter – als Waren ge- und verkauft, sondern (gegen Buchgeld) zugeteilt. Fünf verschiedene Eigentumsformen bestanden nebeneinander: Staatliche Betriebe (zu denen auch die landwirtschaftlichen Sowchosen gehörten), Agrargenossenschaften (Kolchosen), die auf staatlichem Boden mit staatlichen Maschinen arbeiteten, Genossenschaften in Handwerk und Einzelhandel und schließlich ein höchst produktiver privater Landwirtschafts-Sektor (in Gestalt der privaten Kleinst-Parzellen und der privaten Viehhaltung der Kolchosbauern).
Dies gemischte Wirtschaftssystem ermöglichte – ergänzt durch das riesige GULag-Zwangsarbeitssystem – trotz aller Fehlplanungen und zunehmender bürokratischer Verschwendung – den militärischen Sieg über Hitlers Armeen, die im Sommer 1941 im ersten Anlauf weit ins europäische Russland vorgedrungen waren.
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre unternahm die Stalin-Führung einen historisch einzigartigen Versuch, ihre despotische Herrschaft durch eine Welle des Massenterrors langfristig zu sichern und kriegsfest zu machen. Ziel war die Ausrottung einer jeden möglichen Opposition politischer, kultureller oder ethnisch-nationaler Art. Diesem „politischen Genozid“ (Isaac Deutscher) fielen allein in den Jahren 1936-38 etwa eine Million Menschen zum Opfer. Die langfristige, bis heute spürbare Folge der beiden Menschenfresser-Regime Stalins und Hitlers, die hinsichtlich ihrer sozialen Funktion einander gegensätzlich waren, deren Herrschaftsformen sich aber erschreckend ähnelten, ist eine bis heute spürbare Lähmung jener „Spontaneität“ der Lohnarbeiterklasse, auf der die europäische Arbeiterbewegung des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts basierte. In den Jahren 1934-38 ging es Stalin vor allem auch darum, die bolschewistischen Kader der Revolutions- und Bürgerkriegsära in Prozessen, die gegen „Trotzkisten-Terroristen“ geführt wurden, auszuschalten. Killer-Kommandos der GPU machten auch international, in Spanien, Frankreich und anderen Ländern Jagd auf antistalinistische Sozialisten. Die Gesamtzahl der Opfer des Stalin-Regimes (1929-1952) wird (ohne die von Gorbatschow auf 27 Millionen geschätzten Kriegsopfer) auf 15-35 Millionen Menschen geschätzt – ein entsetzlicher „Preis“ für die gelungene, beschleunigt-nachholende Industrialisierung. In einer Gesellschaft, in der über den Terror und seine Opfer, die es praktisch in jeder Familie gab, nur geflüstert werden konnte, bedurfte es nach Stalins Tod (1953) der zögerlichen Reformversuche eines Teils der herrschenden Partei, um den Propaganda-Schleier vor dem düsteren Vierteljahrhundert der Stalin-Diktatur auch nur ein wenig zu lüften.
Stalins totalitäres Regime war das Produkt einer isolierten und (darum) entgleisten Revolution. Es blockierte eine mögliche Ablösung der usurpatorisch-bürokratischen Leitung der verstaatlichten Produktionsmittel durch Arbeiterselbstverwaltung und verteidigte die teils sozialistische, teils kapitalistische Mischwirtschaft, die Basis seiner Herrschaft. In einem seit 1941 gegen die faschistischen deutschen Invasoren geführten nationalen Verteidigungskrieg gelang es der Stalinführung sogar – unter riesigen Opfern –, ihren Herrschaftsbereich auf die osteuropäischen Staaten (und Ostdeutschland) auszudehnen.
Nach längerer Stagnation der Wirtschaft, die dem Wettrüsten im Rahmen des „Kalten Krieges“ nicht mehr gewachsen war, setzte die nachstalinsche Nomenklatura als letzten ihrer Reformversuche die Rückkehr zum Kapitalismus auf die Tageordnung und teilte – ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen – das Staatseigentum unter sich auf. Parallel zu diesem Raubzug gab es eine kurze Phase demokratischen Erwachens, in der sogar die Geheimarchive der GPU teilweise geöffnet wurden. Unter Putin wurden dann freilich die Erinnerung an die Oktoberrevolution und die an die Stalinära neuerlich eingesargt und der Blick auf die Mangelwirtschaft und die Massengräber durch eine aus nationalrussischen Legenden gezimmerte Kulisse verstellt. „1905“ und „1917“ sind für die heutigen Oligarchen und ihren Chef eine mit Schweigen zu übergehende Verlegenheit…
Acht Jahre nach der Revolution versuchte Trotzki, der Historiker und Alternativen- Denker, sich und seinen Lesern (aufgrund der von der staatlichen Planbehörde [Gosplan] veröffentlichten Daten zur Wirtschaftsentwicklung) Klarheit über die Entwicklungsmöglichkeiten der Sowjetwirtschaft zu verschaffen. Er verglich die durchschnittliche Arbeitsproduktivität in verschiedenen Sektoren der damaligen sowjetischen Wirtschaft mit derjenigen in den hoch entwickelten kapitalistischen Ökonomien und erwog verschiedene Entwicklungsvarianten im (variablen) internationalen Kontext. Als völlig „unwahrscheinliche“
Variante erschien ihm diejenige, dass der europäische und internationale Kapitalismus „in den nächsten Jahren und Jahrzehnten einen neuen, mächtigen Aufschwung nehmen“ könnte. Das hieße, schrieb Trotzki, „dass wir, der sozialistische Staat, zwar die Absicht haben, vom Güterzug auf einen Personenzug umzusteigen, und das auch tatsächlich zuwege bringen, dass wir aber in Wirklichkeit einen Schnellzug einholen müssten. […] Das [wiederum] hieße, dass wir uns in der grundlegenden historischen Einschätzung geirrt hätten.
[Denn] das würde bedeuten, dass der Kapitalismus seine historische >Mission< noch nicht erschöpft hat […].“[7] Was Trotzki (vor einem knappen Jahrhundert) für die unwahrscheinlichste Entwicklungsvariante hielt, ist eingetreten.[8] Die Bolschewiki kamen, wie viele andere kommunistische Revolutionäre vor und nach ihnen, „zu früh“. Wie diese, unsere Vorläufer, rechnen wir damit, dass die Weiterentwicklung der kapitalistischen Weltwirtschaft auch im 21. Jahrhundert zu einer Serie von Katastrophen führen wird, weil es in ihrem Rahmen weder möglich ist, den Reichtum der Nationen umzuverteilen, noch das ökologische Desaster zu stoppen, noch die verheerenden Kriege zu beenden, von denen jederzeit einer zum allerletzten werden kann. Und wir blicken zurück auf die lange Geschichte der Versuche, die Staatsapparate, die das System der Ausbeutung verteidigen, durch antikapitalistische Selbstverwaltungsorganisationen zu ersetzen, in denen verschiedene sozialistische Strömungen um den jeweils „richtigen“ Kurs und um die Mehrheit ringen. Das Verhältnis der Arbeiter-, Soldaten- und Bauern-Räte zu den miteinander konkurrierenden bürgerlichen und sozialistischen Parteien und den von ihnen gestellten Regierungen in den russischen Revolutionen von 1905 und 1917 ist für uns ein wichtiges Lehrstück, ebenso die Geschichte der nachrevolutionären „Linken Opposition“, die Geschichte des spanischen Bürgerkriegs (1936-39), der ungarischen Revolution (1956) und der chilenischen „Unidad Popular“ (1969-73).

  • Wir halten zum einen fest, dass es die russischen Arbeiterräte waren, die der Partei Lenins und Trotzkis zur Mehrheit verhalfen und dem entsetzlichen Gemetzel des ersten Weltkriegs wie dem zaristischen Regime ein Ende machten.
  • Zum andern, dass die bolschewistische Partei von 1917 kein hierarchisch organisierter Verschwörerklub, sondern eine Minderheitsorganisation war, die in kurzer Zeit dialog- und mehrheitsfähig wurde – nicht trotz, sondern wegen der Richtungskämpfe, die ihr inneres Leben ausmachten.
  • Zum dritten, dass keine sozialrevolutionäre Massenerhebung eine Chance hat, der es nicht gelingt, Armee und Polizei rechtzeitig auf ihre Seite zu bringen oder sich selbst zu bewaffnen.
  • Zum vierten schließlich, dass das Schicksal einer jeden siegreichen Revolutionsbewegung davon abhängt, ob es ihr (außenpolitisch) gelingt, internationale Bundesgenossen zu finden, und ob es ihr (innenpolitisch) gelingt, sich substitutionistisch agierenden Parteien und bürokratischenApparaten (Verwaltung, Heer, Geheimpolizei) gegenüber durchzusetzen.

Quellen

* Luxemburg, R. (1918): „Die russische Tragödie.“ Spartacus Nr. 11 vom September 1918. Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin (Dietz) 1974, S. 385.

[1] Ernest Mandel stützt sich für seine Darstellung des weißen Terrors auf die Bürgerkriegs‐Geschichte von Lincoln, W. Bruce (1989): Red Victory. A History of the Russian Civil War. New York, und auf Gitelman, Zvi (1988): A Century of Ambivalence. The Jews of Russia in the Soviet Union, 1881 to the Present; New York. Lincoln zitiert den Putsch‐General Kornilow mit der folgenden Deklaration: „>Je größer der Terror, desto größer unsere Siege<, sagte Kornilow zu seinen Leuten […]. >Wir müssen
Russland retten<, fügte er später hinzu, >selbst wenn wir es halb in Brand setzen und das Blut von drei Vierteln aller Russen vergießen müssen.<“ (Lincoln, S. 86.) Zu den Pogromen der „Weißen“ Armeen (besonders in der Ukraine) schreibt Mandel: „Die Ukraine war in den Jahren 1918 bis 1921 Schauplatz […] der schlimmsten Massaker an den jüdischen Gemeinschaften, die Europa vor der >Endlösung< der Nazis erlebt hat. Zvi Gitelman (S. 99‐106) zufolge gab es 2.000 Pogrome, davon 1.200 in der Ukraine. Der Autor schätzt die Gesamtzahl der Opfer auf 150.000. Diese Massaker waren von unglaublichen Grausamkeiten begleitet.“ Mandel, Ernest (1992): Oktober 1917. Staatsstreich oder soziale Revolution. Köln (ISP), S. 63 ff.

[2] Beispiele für Putsche oder Staatsstreiche in der deutsch‐österreichischen Geschichte sind der (gescheiterte) Kapp‐Putsch von 1920, der (gescheiterte) Hitler‐Putsch von 1923, der „Preußen‐Schlag“ gegen die preußische Minderheits‐Regierung Braun im Juli 1932 oder auch der (gescheiterte) Nazi‐Putsch gegen Dollfuß (1934), der ein Jahr zuvor selbst durch einen „Staatsstreich“ an die Macht gekommen war. Putschisten operieren ohne Rückendeckung durch eine Mehrheit. Sie wollen die jeweils
amtierende Regierungs‐Equipe ablösen, meist auch die Regierungsform ändern (also eine Militärdiktatur an die Stelle einer parlamentarischen Demokratie setzen), keineswegs aber die Produktions‐,also die Eigentumsverhältnisse ändern.

[3] Die französischen Jakobiner (Danton, St. Just, Robespierre…) bildeten in den Jahren der französischen Revolution (1789 ff.) die radikalste Gruppierung, die sich gegenüber den gemäßigten Girondisten durchsetzte und in den Jahren 1793/94 mit Hilfe der allgemeinen Wehrpflicht und des Terrors die Abschaffung der Monarchie und des Grundbesitzes erfolgreich gegen ihre Gegner im Ausland und Inland verteidigte. Der von Robespierre dominierte, 12köpfige „Wohlfahrtsausschuss“ verlor schließlich
die Unterstützung der aktiven städtischen Bevölkerung – der Sansculotten –, und die Revolution wurde rückläufig („Thermidor“).
[4] „Wir haben den alten“ [zaristischen] Staatsapparat übernommen, und das war unser Unglück. […] Oben haben wir […] nur einige Tausend, Maximum einige Zehntausend der Unsrigen, unten dagegen haben wir Hunderttausende alter, vom Zaren, aber auch von der bürgerlichen Gesellschaft übernommener Beamter, die teils bewusst, teils unbewusst gegen uns arbeiten.“ Lenin, W. I. (13. 11.1922): „Fünf Jahre russische Revolution und die Perspektiven der Weltrevolution. Referat auf dem IV.
Kongress der Komintern.“ Werke, Bd. 33, Berlin U(Dietz) 1963, S. 414 f.

[5] In einem seiner letzten Artikel („Die Komintern und die GPU“) bezeichnete Trotzki die GPU als das wichtigste Organ des Stalin‐Regimes (bzw. der totalitären Kreml‐Oligarchie). Trotsky, L. (17. 8. 1940): „The Comintern and the GPU.“. In Trotsky (1940): Stalin’s Gangsters. London (New Park Publications)1977, S. 13.

[6] Am 9. Thermidor, dem 27. Juli 1794, war Robespierre im Pariser Konvent von gemäßigten Jakobinern
gestürzt worden.

[7] Trotzki, L. (1925): Kapitalismus oder Sozialismus? In: Schriften, Bd. 3.1, Hamburg (Rasch und Röhring)1997, S. 378‐439; Zitat auf S. 439.
[8] Die sowjetische (und nach‐sowjetische) Wirtschaft konnte die Produktivität der US‐Wirtschaft niemals erreichen. Noch 1967 lag ihre durchschnittliche Produktivität nur bei 40 Prozent der amerikanischen.

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