Mit Gewissen und Engagement gegen soziale Ungleichheit
TEILEN
Zum Tode von Michel Piccoli

Mit Gewissen und Engagement gegen soziale Ungleichheit

Von Philippe Cyroulnik | 30.05.2020

Michel Piccoli, dessen Tätigkeit als Theater- und Filmschauspieler, auch Drehbuchautor, Regisseur und Filmproduzent sich auf über 70 Jahre erstreckte, ist am 12. Mai auf seinem Anwesen in der Normandie im Alter von 94 Jahren gestorben. Von 1966 bis 1977 war er mit Juliette Gréco verheiratet.

Vor allem seine Rollen als Schauspieler haben ihn berühmt gemacht. Als Mime konnte er durch seine Darstellungskraft und seine Kunst eine Person oder einen Gedanken ganz verkörpern. Er leistet damit ein Beitrag zur Kultur unserer Gesellschaft.

In der Nachkriegszeit stand Piccoli lange Zeit der Französischen Kommunistischen Partei (PCF) recht nahe. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre ergriff ihn voll und ganz der „Hauch der Rebellion“, der von Berkeley bis Warschau, von Prag bis Hanoi, von Paris bis Santiago und von Athen bis Algier über Europa und die Welt wehte. Mit seinem kulturellen Anspruch hat er politische und ethische Ansprüche eng verbunden, das hat ihn dazu veranlasst, sich vom Weggefährten der PCF zu radikalisieren; eine Zeitlang nahm er im Rahmen eines „Comité rouge spectacle“ [Vorfeldstruktur für den Bereich Schauspiel] an den Aktivitäten der Ligue communiste [der damaligen Sektion der IV. Internationale in Frankreich] teil. Daniel Bensaïd geht darauf in seinem Buch Une lente impatience ein. Er begleitete uns damals bei vielen Solidaritätskampagnen.

Er verlor nicht sein Gewissen und sein Engagement gegen soziale Ungleichheit.

Als die Aussicht auf eine Revolution aus der unmittelbaren Reichweite geriet und stattdessen die triste Zeit der Misserfolge und die noch ungewissere Zeit des Widerstands begannen, überkam ihn die Ernüchterung und er zog sich in das besser überschaubare Terrain des „Sozialismus des Machbaren“ zurück. Dieses „Machbare“ stand Pate für viele Irrungen und Wirrungen, von denen sich einige nicht mehr erholt haben. Zweifellos vollzog auch Piccoli diesen Rückzug, aber er verlor nicht sein Gewissen und sein Engagement gegen soziale Ungleichheit.

Dieses Engagement begleitete ihn in seinem Theater- und Filmleben bis zuletzt. Er wollte stets beide Seiten des Schauspiels miteinander verbinden, im Theater und beim Film: Anspruchsvolles für Alle und zugleich Volkstümliches auf hohem Niveau. Er wirkte in vielen Abenteuerfilmen von Claude Sautet mit und war zugleich Hauptdarsteller in Jean-Luc Godards Le mépris (1963, Die Verachtung). Im Theater spielte er unter der Regie von Marcel Bluwal und Patrice Chéreau, Luc Bondy, André Engel und Peter Brook oder Bob Wilson zu sehen ‒ lauter Namen, die neben vielen anderen für einige der Sternstunden des Theaters des 20. Jahrhunderts stehen.

Die Fiktion zum Vergnügen und zur Waffe machen.

Im Film verweigerte er sich konsequent allem Schund. Kino, das waren für ihn Alain Clément, Jean-Pierre Melville, Costa Garvas, Youssef Chahine und auch Luis Buñuel, Jacques Rozier, Agnès Varda, Leos Carax, Marco Ferreri oder Manuel de Oliveira und andere.

Michel Piccoli ist in die Geschichte von Film und Theater, aber auch in unsere Geschichte eingegangen, weil er einer der Menschen war, für die Theater und Film nicht nur der Unterhaltung dienen, sondern auch einen Hauch von Einsicht und Verständnis in die Niederungen des Alltags bringen und die Fiktion zum Vergnügen und zur Waffe machen sollen sollten.

Kino so, wie ein Molotow-Cocktail

Alain Krivine vertraute er an, er wolle die Schauspielerei aufgeben, um an der Seite der Ausgebeuteten zu arbeiten und zu kämpfen; er bekam zur Antwort, große Schauspieler würden genauso gebraucht. Er hat weiter viel Wert auf sein Engagement gelegt und erreicht, dass Kino manchmal wie ein Molotow-Cocktail ist, das die falsche Sentimentalität und den Zeitgeist aufrüttelt und zum Elixier für Ungehorsam und der Unangepasstheit wird.

Jetzt, wo sich der Vorhang seines Lebens gesenkt hat, rufen wir ihm zu: „Danke, Michel! Hasta siempre, Genosse Piccoli!“

Philippe Cyroulnik, Jahrgang 1949, ist Kunstkritiker und war Anfang der 1970er zusammen mit seinem Zwillingsbruder Alain in der „commission très spéciale“ (CTS) der Ligue communiste, die spektakuläre geheime Aktionen durchführte und zunächst von Henri Weber, dann von Daniel Bensaïd und Pierre Rousset, alle Mitglieder des Politischen Büros, geleitet worden sein soll.

Daniel Bensaïd sagte über Michel Piccoli: “Nach der Demonstration liefen wir zurück zur Impasse Guéménée.[1] […] Überraschung: Auf einer Bank am Ende des leeren Saals blies Michel Piccoli Trübsal. Damals hielt die Ligue bei ihm zuhause Sitzungen zum Bulletin Télé 7 Rouge ab, das sich an das Personal von Radio und Fernsehen richtete. Die jüngsten Ereignisse hatten ihn gepackt, er wollte sich weitergehend engagieren. Er sprach sogar davon, er könnte womöglich hauptamtlich für die Ligue arbeiten.” (Auszug aus: Daniel Bensaïd, Une lente impatience, Éditions Stock, 2004; dt.: Ein ungeduldiges Leben. Politische Autobiografie, Laika-Verlag, 2016)

Alain Krivine äußerte sich über Michel Piccoli so: “Die Ligue war wieder einmal für „nicht legal“ erklärt worden. Ihre Hauptverantwortlichen, die mehr oder weniger von der Polizei gesucht wurden, blätterten damals in ihren Adressbüchern, um Freunde zu finden, die sie unterbringen konnten. Daniel Bensaïd und Henri Weber waren bei Marguerite Duras gelandet, ich wurde bei [der Schauspielerin] Lucienne Hamon und dann bei Michel Piccoli und Juliette Gréco, in der Rue de Verneuil, untergebracht. Ich hatte Michel Piccoli bei Treffen kennengelernt, die von Michel Rotman organisiert wurden, einem unserer führenden Genossen, der mit Künstlerkreisen auf vertrautem Fuß stand. Der Kontakt war recht unkompliziert gewesen, denn Piccoli war auf alles neugierig. Wie Sartre und viele andere wollte er sich in den siebziger Jahren aktiver engagieren und stellte sogar seinen Beruf infrage. Im Gegensatz zum Vorgehen der Maoisten gegenüber den ihnen nahestehenden Künstler*innen, rieten wir ihm davon ab, „in die Fabrik“ zu gehen. Jeder sollte eine konstruktive Rolle entsprechend seiner Fähigkeiten spielen können. Er besuchte uns im Bistro in der Impasse Guéménée. Wir tranken im hinteren Teil des Raumes ein Glas zusammen, vor dem Chef und den Gästen, die darüber erstaunt waren, in welcher Gesellschaft sie sich befanden. Michel Piccoli teilte natürlich nicht alle unsere Positionen, hatte aber drei Jahre später [1975] erneut die Gelegenheit, uns einen Gefallen zu tun. Die Ligue wollte einen Kredit aufnehmen, um eine Rotationspresse zu kaufen, mit der wir Rouge als Tageszeitung produzieren konnten. Trotz der Warnungen seines Bankiers bürgte er für den Kredit und brachte als Sicherheit ein Atelier ein, das er in der Rue Monsieur-le-Prince besaß. Dank seines Vertrauens und seiner Großzügigkeit entstand damals die Druckerei Rotographie, die nach wie vor in Betrieb ist.” (Auszug aus: Alain Krivine, Ça te passera avec lʼâge, Flammarion, 2006)

Aus dem Französischen übersetzt von MiWe


[1] Die Impasse Guéménée ist ein Sträßchen unmittelbar an der Place de la Bastille im 4. Arrondissement von Paris. In den 1970er Jahren befanden sich Haus Nr. 10 die Büros der Ligue communiste bzw. Ligue communiste révolutionnaire und ihrer Wochenzeitung Rouge, ihre Buchhandlung, sowie Räume der Vierten Internationale und ihrer Zeitschriften Inprecor und International Viewpoint. Dadurch ist die Impasse Guéménée für eine ganze Generation von „militants“ und „militantes“ der 1970er Jahre im Großraum Paris und darüber hinaus zu einem festen Begriff geworden. Als Rouge im Frühjahr 1976 Tageszeitung wurde und eine neue Druckerei aufgebaut wurde, wurde die Zentrale der LCR in den Vorort Montreuil verlegt. (Anm. d. Bearb.)

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite