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Länder

„Man empört sich und revoltiert – hernach sieht man weiter“

Von Uraz Aydin, Istanbul | 14.07.2013

Außer Empörung und Hoffnung ist Verblüffung das vorherrschende Gefühl unter den Teilnehmern der Bewegung und ganz besonders unter der extremen Linken.

Außer Empörung und Hoffnung ist Verblüffung das vorherrschende Gefühl unter den Teilnehmern der Bewegung und ganz besonders unter der extremen Linken.

Denn trotz der neoliberalen Offensive und der obrigkeitsstaatlichen und konservativen Regierungspolitik schien die Türkei zu den wenigen Ländern der Region zu gehören, die nicht von der massenhaften Radikalisierung im Zeichen des arabischen Frühlings oder der Bewegung der Empörten in den Mittelmeerstaaten betroffen war. Letztlich führte aber die Absicht der Regierung, eine der wenigen verbliebenen öffentlichen Grünflächen im Herzen Istanbuls für den Wiederaufbau einer alten Artilleriekaserne, ein Einkaufszentrum und eine Luxusresidenz zu opfern, dann doch zu dieser völlig unerwarteten und spontanen Revolte, die wir momentan erleben.
Zwischen Repression undSpaltungsversuchen
Auch die Regierung ist von der Entwicklung nicht weniger überrascht worden. Neben der allgemeinen und zunehmenden Unzufriedenheit über diverse Regierungsmaßnahmen ist es vor allem das autoritäre und arrogante Gehabe des Regierungschefs Erdogan, das den Widerstand hervorgerufen hat. Während Erdogan auf einem Treffen in Nordafrika weilte, versuchten sein Vize Bülent Annc und Präsident Gül, die Wogen zu glätten, indem sie sich für das brutale Vorgehen der Polizei entschuldigten, und ein Treffen mit Vertretern der Initiative „Solidarität mit Taksim“ zu organisieren.

Der Premierminister hingegen hält gegenüber den Forderungen nach Einstellung der Bauvorhaben, Erhaltung des Parks, Abdankung der für den Polizeieinsatz Verantwortlichen und Demonstrationsfreiheit an seiner Entscheidung fest, die Kaserne auf dem Taksim-Platz wiederaufbauen zu wollen, auch wenn er hinsichtlich der beiden anderen Projekte einzulenken schien.

Um die Bewegung zu befrieden, setzt die Regierung auf Spaltung. Einerseits versucht sie, die Besetzer des Taksim zu isolieren, indem sie gegenüber Demonstrationen, die in anderen Städten (bes. Ankara) stattfinden, mit brutaler Polizeigewalt und manchmal unter Einsatz ziviler Schläger vorgeht. Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass man zwischen „ehrlichen Umweltschützern“ und „Randalierern“ unterscheide. Andererseits droht Erdogan bei jeder Gelegenheit damit, dass auch seine Anhänger Gewehr bei Fuß ständen, wenn die Demonstrationen andauern. Und er kokettiert offen mit der Losung seiner Sympathisanten: „Lass uns machen, wir machen den Taksim platt“.
Möglichkeiten und Grenzen der Bewegung
Von Barrikaden umgeben und quasi „geschützt“, haben sich der Taksim und der Gezi-Park zu regelrechten politischen und gewerkschaftlichen Veranstaltungsstätten entwickelt, auf denen gespielt und gefeiert wird und auf denen eine „moralische Ökonomie“ herrscht, wie der marxistische Historiker E. P. Thompson es nannte:

Verbot jedweden Kommerz’ innerhalb des Parks, der ab sofort in „Kommune von Gezi“ umbenannt wurde; kostenlose Versorgung mit Essen und Trinken; kostenlose Gesundheitsversorgung; Nutzung von Solarenergie in der Küche; Bibliothek aus Spendengaben; Prinzip der Freiwilligkeit bei der Übernahme von Aufgaben und unbedingte Solidarität und Verantwortungsgefühl gegenüber der Mitwelt, aber auch – und vor allem – gegenüber der Umwelt.

Dabei dürfen jedoch nicht die Schwachstellen der Bewegung übersehen werden: die Zurückhaltung der Gewerkschaftsverbände bei den Mobilisierungen (von ein paar symbolischen Streiks abgesehen); keinerlei Formen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung innerhalb der Kommune und keine strategischen Diskussion über die Perspektiven der Bewegung …

Auch die Heterogenität der Bewegung ist nicht unproblematisch. Das nationalistische und mithin militaristische Auftreten der kemalistisch-republikanischen Strömungen mit ihren omnipräsenten türkischen Flaggen und dem Spruch „Wir sind die Krieger von Mustafa Kemal“ wirkt natürlich auf die Kurden abstoßend und hält sie trotz mehrmaliger Appelle aus den eigenen Reihen eher von der Teilnahme ab. Außerdem liefert dies der Regierung und ihr nahestehenden Intellektuellen einen Vorwand, die Bewegung als putschistisch zu diskreditieren und damit die eigene Anhängerschaft zusammen zu schweißen.

Im Augenblick lässt sich schwer vorhersagen, wie die Situation ausgehen wird, aber vermutlich wird sich dies in der kommenden Woche entscheiden, da die Regierung das Fortdauern einer solchen Krise nicht hinnehmen kann und umgekehrt sich die Protestierenden weigern, ohne die Erfüllung ihrer Forderungen abzuziehen.

 In jedem Fall lässt sich sagen, dass eine neue Generation Geschmack an der Freiheit gefunden hat, Erfahrungen im gemeinsamen Kampf macht und versteht, dass man Widerstand leisten muss. Dass aus diesem Widerstand sich ein neues Bewusstsein entwickeln kann, zeigt eine Inschrift auf dem Taksim: „Wir haben Widerstand geleistet und sind dadurch erst zum mündigen Bürger geworden.


Aus Tout est à nous!  Nr. 199 vom 13. Juni 2013

Tout est à nous!  ist die wöchentlich erscheinende Zeitung der Nouveau Parti Anticapitaliste (NPA).
In der 2009 gegründeten Partei arbeiten die Mitglieder der IV. Internationale in
Frankreich mit.

Übersetzung: MiWe

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