Linke Politik in der Türkei
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Linke Politik in der Türkei

Von Uraz Aydın und Dave Kellaway | 11.04.2024

Dave Kellaway ist vor kurzem in Istanbul gewesen und konnte Uraz Aydin, Mitglied des Zentralkomitees der Arbeiterpartei der Türkei (TİP), über die Lage in der Türkei nach dem unerwartet großen Erfolg von Recep Tayyip Erdoğan bei den Präsidentschaftswahlen im letzten Jahr befragen. Wir konnten auch über die Entwicklung der TİP und die Schwierigkeiten der Linken sprechen, sich unter einem autoritären Regime zu organisieren. Das Erdoğan-Regime hat dafür gesorgt, dass Uraz seine Anstellung an einer Universität aus politischen Gründen verloren hat.

Wie kommt es, dass Erdoğan immer wieder gewinnt? Es gab Probleme mit der Wirtschaft, das Erdbeben hat die Korruption sowohl bei der Bauqualität von Häusern als auch bei der Verteilung von Hilfsgütern aufgedeckt, und die Einschränkungen der Meinungsfreiheit müssen doch die Opposition gegen das Regime anheizen.

Erdoğan hat seine Machtbasis aufbauen können, indem er die starke Polarisierung in der türkischen Gesellschaft ausnutzte. Auf der einen Seite haben wir eine kulturelle und religiöse Polarisierung und auf der anderen Seite eine soziale und Klassenpolarisierung. Nach der Gründung der Republik (Kemal Atatürk, 1923), die einen starken säkularen Aspekt hatte, waren religiöse Menschen lange Zeit von Machtpositionen ausgeschlossen. Auch wenn die konservativen religiösen politischen Strömungen überlebten, war die vorherrschende Ideologie in der Gesellschaft säkular und urban und ihr gemäß waren diese Kräfte ausgeschlossen. Außerhalb der Städte, auf dem Land und in den ärmeren Schichten sah es anders aus. Deshalb hatten die konservativen religiösen Parteien bei allen Wahlen eine Basis in der bäuerlichen Bevölkerung und in den ländlichen Gebieten. In den Städten waren die Intellektuellen, die Arbeiterklasse, die städtische kleinbürgerliche Klasse und die Bourgeoisie.

Diese konservativen religiösen Parteien waren immer eine Herausforderung für die kemalistische republikanische Partei. Deshalb gab es auch Staatsstreiche des Militärs, damit diese republikanisch-bürgerlich-militärische Elite ihre Macht behalten konnte. Bei den Kommunalwahlen 1994 ist Erdoğans islamistische Partei jedoch sehr stark geworden, auch in Istanbul. Ihr Profil war nicht nur religiös, sie hatte auch ein soziales Programm. Aber die islamistischen Parteien waren der Repression durch das Militär ausgesetzt, auch wenn sie Stimmen gewannen und in Regierungsämter kommen konnten.

Zu einem bestimmten Zeitpunkt, kurz nach dem Jahr 2000, verstand Erdoğan, dass eine andere Art von Partei benötigt wurde, die das Militär nicht sofort zu Maßnahmen gegen sie provozieren würde. Er sprach sich für einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union aus und nahm den Dialog mit anderen politischen Parteien auf. Er griff den Neoliberalismus auf und seine Partei versuchte, sich als moderne islamistische Partei darzustellen. So gewann er 2002 die Macht, nachdem die Parteien der Mitte bei der Bewältigung der Wirtschaftskrise versagt hatten. Seitdem ist er an der Macht ‒ seit 22 Jahren.

Seine ersten zehn Jahre waren weniger autoritär, und er versuchte, jede Konfrontation mit dem Militär zu vermeiden. Das war auch eine Zeit des internationalen Wirtschaftswachstums, die mit dem Crash 2008 endete. Der Crash ist in der Türkei später eingetreten. Es war eine Menge Geld im Umlauf, die Bourgeoisie hat sich darüber gefreut, und er konnte bestimmte Maßnahmen zur Unterstützung der arbeitenden Menschen und der Armen zu ergreifen. Allerdings hat Erdoğan keinen echten Sozialstaat oder ein System der Sozialversicherung geschaffen ‒ es war eher ein System der Almosen. Ab 2010 bekam er mehr Schwierigkeiten mit dem Militär. So baute Erdoğan eine Wählerbasis in einem Lager der einen Seite der historischen Polarisierung auf: unter den religiös Gesinnten, den Armen und vor allem in den ländlichen Gebieten. Seine Partei gewann viele Gemeinderäte, und er nutzte dies als Transmissionsriemen, um Geld und Ressourcen wie Holzkohle an benachteiligte Bevölkerungsschichten zu verteilen. Die Partei konnte außerdem die Verteilung von Arbeitsplätzen bei lokalen Ämtern nutzen, um ihren Rückhalt zu festigen ‒ die Wähler:innen wussten, dass ihre Arbeitsplätze und Zuwendungen davon abhingen, dass Erdoğans Partei wiedergewählt wurde. Es sind auch Nichtregierungsorganisationen gegründet worden, die der Regierung als Fassade dienten, um etwas unter die Leute zu bringen.

Zwanzig Jahre dieses Regimes haben noch weitere Veränderungen mit sich gebracht. Der Islam ist nicht mehr von den öffentlichen Einrichtungen ausgeschlossen ‒ früher war es Studentinnen verboten, Kopftücher (Hidschabs) zu tragen, heute sind sie erlaubt und werden sie gefördert. Es gibt heute mehr Armut und Entbehrungen, aber das allein bedeutet noch nicht, dass die Massen Erdoğan die Treue aufkündigen werden.

Die religiöse Ideologie kann also andere Anliegen aufheben oder aufwiegen. Nach dem Erdbeben [Anfang Februar 2023] und den Meinungsumfragen dachten wir, dass Erdoğan bei den Wahlen im letzten Jahr [Mai 2023] in Schwierigkeiten geraten würde. Aber es kam anders als vorhergesagt.

Das haben wir alle gedacht. Als wir nach den Protesten nach dem Erdbeben verhaftet wurden, sagten uns die Polizeibeamten sogar, dass sie Erdoğan für erledigt hielten. Erdoğan ist viel nationalistischer geworden, viel rechtsextremer. Zuvor hatte er einen Austausch mit den Kurden wegen Aushandeln über ihre Forderungen begonnen. Dieser Prozess hat nicht funktioniert, und er hat eine Kehrtwende zum Ultranationalismus vollzogen. Er ist ein Bündnis mit der „traditionellen“ faschistischen Partei in der Türkei, der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) eingegangen.

Besteht die Möglichkeit, dass Erdoğan bei den kommenden Wahlen von einer noch extremeren rechten Strömung abgelöst werden könnte?

Das ist möglicherweise eine Tendenz. Erdoğans Partei ist eher eine Bewegung als eine Partei. Es gibt keine wirkliche interne Debatte ‒ sie ist die Anhängerschaft von Erdoğan. Natürlich gibt es eine Menge Arrivist:innen oder Karrierist:innen, die in die Partei an der Macht geströmt sind. Sie müssen sich dem Willen von Erdoğan beugen, wenn sie weiterkommen wollen. Es ist ein bisschen wie im stalinistischen System. Die übelsten Speichellecker steigen am höchsten auf. Auch Korruption ist ein wichtiger Faktor ‒ von Erdoğan gibt es grünes Licht für alle möglichen Spekulationen mit Immobilien oder anderen Geschäften. Im Gegenzug bekommt Erdoğan einen Anteil an deinen Gewinnen. Er hat sich einen Teil der Bourgeoisie gebildet, der von ihm abhängig ist. Es gibt eigentlich keine Regeln und Vorschriften mehr. Jede Entscheidung basiert auf den aktuellen Interessen von Erdoğan. Das gilt auch für die Außenpolitik. Er flirtet mit Putin, aber er kann auch für die NATO aussprechen. Erdoğan bietet sich als Vermittler zwischen der Ukraine und Russland an. Der Übergang zu einem multipolaren Imperialismus und der relative Niedergang der USA im Nahen Osten haben die Fähigkeit mittelgroßer Mächte wie der Türkei erhöht, autonomer zu handeln. Erdoğan nutzt diese neue vorteilhafte internationale Situation voll und ganz, er verfolgt eine aggressivere Außenpolitik.

Die bürgerliche Opposition gegen Erdoğan ist sehr stark gespalten. Besteht die Möglichkeit eines Militärputsches später mal, wenn es eine Pattsituation oder ein Vakuum in der bürgerlichen Führung gibt?

Nichts ist sicher, aber auch das Militär hat sich Erdoğan untergeordnet. Wir hatten 2016 einen Versuch eines Staatsstreichs, der von einer anderen islamistischen Gruppe, früheren Verbündeten von ihm, ins Werk gesetzt worden ist. Diese Gruppe hatte daran gearbeitet, einige Positionen innerhalb des Staates zu infiltrieren. Das war ein echter Putsch ‒ nicht etwas, das Erdoğan von Anfang an manipuliert hätte. möglich ist allerdings, dass er es zugelassen hat, dass das sich ein wenig entwickelt hat, ohne einzugreifen, damit er aus dem Scheitern größeren Nutzen ziehen konnte.

Sprechen wir ein bisschen über deine Partei, die Türkische Arbeiterpartei (TİP), denn trotz des Erfolgs von Erdoğan bei den Wahlen konntet ihr 2023 1,7 % der Stimmen gewinnen und vier Abgeordnete halten. Wenn man diese Ergebnisse im Kontext des Abschneidens anderer linksradikaler Parteien in Europa betrachtet ‒ im italienischen Parlament zum Beispiel gibt es keine linken Abgeordneten mehr ‒ ist das für eine Partei, die sich selbst als marxistisch bezeichnet, gar nicht so schlecht.

Einer der Abgeordneten auf unserer Liste, Can Atalay, befindet sich immer noch im Gefängnis. Wir hatten im vorherigen Parlament bereits vier Abgeordnete und haben in einem Bündnis mit den kurdischen Parteien zusammengearbeitet, die eine bedeutende Wählerschaft und soziale Basis haben. Die TİP verfolgt im Gegensatz zur offiziellen Mitte-Links-Opposition einen sehr kämpferischen Ansatz und hat von Menschen, die gegen Erdoğans AKP-Partei kämpfen wollten, Unterstützung bekommen. Die Partei ist sehr schnell gewachsen: Als ich vor zwei Jahren eingetreten bin, hatte sie 6000 Mitglieder, heute sind es 43.000, im Januar 2023 waren es 10.000, wir haben unsere Mitgliederzahl also in wenigen Monaten vervierfacht. Dabei gab es drei Schritte.

Der erste: einer unserer Abgeordneten hat ein YouTube-Video gedreht, in dem ihm von einem feindseligen Publikum verschiedene Fragen über die Rechte, die Linke, die Kurden, zum Marxismus gestellt worden sind, und er hat sehr wirkungsvoll geantwortet ‒ das hat dazu beigetragen, dass wir Tausende von neuen Mitgliedern gewonnen haben. Wir konnten diesen Ansturm von Mitgliedschaftsanträgen kaum bewältigen.

Der zweite: Wir hatten ja das Erdbeben, und unsere Genoss:innen haben sehr schnell reagiert, die gesamte Organisation hat sich der Aufgabe zugewandt, die Bürger:innen zu mobilisieren, um die leidenden Menschen in dieser Region zu unterstützen. Die TİP war in der Lage, angesichts der Erdbebenkatastrophe eine sehr effektive Organisation der gegenseitigen Hilfe und Solidarität zu mobilisieren. Hunderte von Lastkraftwagen wurden organisiert. Die Menschen sahen, dass sie uns vertrauen konnten, als wir dabei geholfen haben, lebenswichtige Lieferungen in das Gebiet zu organisieren. Wir wurden als nicht korrupt betrachtet. Sogar einige bürgerliche Organisationen haben Sachen über uns geschickt.

Der dritte Schritt: Die Mobilisierung bei unserem Wahlkampf hat noch mehr Menschen um uns herum angezogen. Als Erdoğan gewonnen hat, kam es jedoch zu einer allgemeinen Demoralisierung der gesamten Opposition, und das hat auch uns betroffen. Vielleicht haben wir noch 40.000 Mitglieder, aber realistisch betrachtet haben wir im Moment etwa zehntausend Aktive. Die Leute sind nicht unbedingt aus der Partei ausgetreten, aber sie sind inaktiv geworden und könnten wieder mobilisiert werden. Interessant war bei den Stimmen für uns, dass wir nicht nur in den städtischen, säkularen und gebildeten Teilen der Bevölkerung Stimmen gewonnen haben, wo wir es erwartet hatten, sondern auch dort, wo die AKP stark ist. Wir sprechen hier von ein paar Prozent, aber das ist für uns etwas Neues. Wir beginnen mit einer Linie was zu erreichen, die sich an den Interessen der Arbeiterklasse orientiert, anstatt eine Trennlinie auf religiöser oder kultureller Basis zu ziehen. Die Präsidentschaftswahlen fanden zeitgleich mit den Parlamentswahlen statt, und wir haben gesehen, dass Leute für uns bei der Parlamentswahl und für Erdoğan als Präsidenten gestimmt haben. Diese Menschen haben also in Erdoğan immer noch die große Vaterfigur, den „Reis“ [arabisch: Oberhaupt, Chef, Kapitän] gesehen, aber auch, dass wir für die Verteidigung ihrer Interessen nützlich sein könnten. Das ist neu. Auf der Linken müssen wir die Starre der Polarisierung zwischen säkularen, nationalistischen und religiösen Identitäten überwinden. Die politische Polarisierung in der Türkei ist derzeit nicht klassenbasiert. Wie ich bereits erwähnt habe, hat sich diese Polarisierung hauptsächlich auf kultureller Grundlage entwickelt. Die TİP zielt darauf ab, diese Polarisierung durch eine neue, im Wesentlichen klassenbasierte politische Polarisierung zu ersetzen.

Sieht sich die TİP als eine linkspopulistische Strömung (wie Podemos oder Syriza), die eine linke Massenpartei aufbauen will?

Nicht ganz, denn die TİP ist aus einer Spaltung innerhalb der Türkischen Kommunistischen Partei hervorgegangen, die ziemlich stalinistisch und nationalistisch war. Die Spaltung erfolgte zum Teil wegen der Haltung zur Kurdenfrage. Die Leute, die sich abgespalten haben, sind auch offener gegenüber Feminismus und LBGT+-Themen. Ihre Leitideologie ist marxistisch. Ihre Publikation heißt Komünist. 2013 war sie aber am Aufstand wegen des Gezi-Parks beteiligt, als die Menschen trotz brutaler staatlicher Repressionen die Übernahme dieser öffentlichen Grünfläche durch Spekulanten verhindern wollten. Die neue Partei ist von verschiedenen Strömungen der Menschen geprägt worden, die an diesem Kampf beteiligt waren, insbesondere jungen Menschen.

Heute ist es allerdings schwierig, Jugendliche zu organisieren; an den weiterführenden Schulen herrscht große Repression, und die Studierenden dürfen keine Gewerkschaften bilden, sie wohnen zu Hause, weil die Mieten so hoch sind, und normalerweise müssen sie arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren. Das Studentenleben, wie wir es kannten, gibt es kaum noch. Wir gewinnen also eher Menschen mit 30 und noch was.

Habt ihr in der Partei ein Problem vom Typ Iglesias (Podemos), bei dem die Hauptführungsfigur oder die Leitungsmitglieder mit einem großen Medienprofil die Partei dominieren und die interne Demokratie der Partei umgehen können?

Das ist nicht wirklich dasselbe. Unsere Abgeordneten sind wegen ihres radikalen Auftretens im Parlament sehr bekannt, und natürlich ist die Führungsfigur (der „Präsident“) der TİP, Erkan Baş, eine wichtige politische Figur. Aber man kann nicht sagen, dass der Vorsitzende dominiert, es handelt sich eher um eine kollektive politische Führung. Wir sollten nicht vergessen, dass die TİP im Gegensatz zu Podemos von einer revolutionären Tradition herkommt, von der bolschewistischen Tradition. So basiert die Struktur der Partei auf Komitees (auf zentraler, regionaler, lokaler Ebene). Übrigens war die interne Demokratie, selbst in der leninistisch-trotzkistischen Tradition, durchaus nicht perfekt. Die interne Demokratie ist ein Mechanismus, den man erarbeiten muss, natürlich mit internen Debatten, aber auch mit konkreten Erfahrungen.

Ich denke, es ist wichtig, diese Partei aufzubauen, da sie derzeit das beste Instrument ist, um den Kampf für eine sozialistische Alternative in der Türkei voranzutreiben. Innerhalb der Partei wissen die Leute, dass ich aus einer anderen politischen Tradition komme als sie, aber ich konnte einige Führungsrollen übernehmen ‒ zum Beispiel bin ich der Sekretär der Partei in einem wichtigen Bezirk von Istanbul, und im Zentralkomitee gibt es vielfältige Ansichten.

Ein positiver Ansatz der TİP von mehreren besteht darin, dass sie versucht, neue Mitglieder und Anhängerschaft nicht nur bei den säkularen, nicht-religiösen Sektoren, unter der gebildeten Jugend und den Intellektuellen zu gewinnen, sondern auch die Basis der eher religiös orientierten Arbeiterklasse und Armen durch Aktivitäten zu Forderungen der Arbeiterklasse zu erreichen.

Diese Spaltungen zwischen verschiedenen Sektoren der Arbeiterklasse ‒ zwischen Akademiker:innen und Nichtakademiker:innen, zwischen den Großstädten und den kleineren Städten oder eher ländlichen Gebieten ‒ gibt es auch in europäischen Ländern. In Großbritannien haben wir das beim Brexit gesehen, in Frankreich mit der Bewegung der Gelbwesten. Wie man diese Spaltung überwindet, ist also strategisch sehr wichtig.

Ja, das stimmt. Sogar in Istanbul gibt es große Unterschiede zwischen einigen Vorstadtgegenden, die sehr stark von der Arbeiterklasse geprägt, aber eher konservativ und religiös sind, und den Innenstadtgegenden, in denen es deutlich mehr junge Menschen, Intellektuelle und Progressive gibt.

Wie sieht es hier mit der Palästina-Solidarität aus? Wir haben die brillante Multimedia-Ausstellung auf dem Taksim-Platz mit digitalisierten Kunstwerken von palästinensischen Kindern gesehen, die von der Regierung finanziert wird.

In meiner Grundeinheit hier hat es etwa achtzig Austritte aus der Partei gegeben, als wir erklärt haben, dass wir das Recht auf Widerstand gegen die israelische Besatzung unterstützen. Aktivist:innen, die gegen den Islamismus der AKP kämpfen, sehen Hamas als ein ähnliches Problem. Wir haben uns natürlich nicht mit der politischen Linie der Hamas identifiziert, aber das war bei uns umstritten. Hier ist es natürlich das erste Mal, dass die Regierung Erdoğan Massendemonstrationen unterstützt hat. Das können wir nutzen, um unsere Solidaritätsdemonstrationen oder Blöcke in Demos zu organisieren.

Die Regierung Erdoğan behauptet zwar, sie würde auf der Seite des palästinensischen Volkes stehe, das entspricht jedoch nicht der Wirklichkeit. Während die koloniale Aggression von Israel mit voller Kraft weitergeht, gehen die Handelsbeziehungen der Türkei zu Israel weiter. Von ein paar verbalen Erklärungen abgesehen hat die türkische Regierung keine konkrete Solidarität mit dem palästinensischen Volk gezeigt. Das ruft an Erdoğans Basis Widerspruch hervor. Ich meine, Sozialist:innen auf sollten bei solchem Widersprechen zuhören und die Führung der Solidaritätsbewegung mit dem palästinensischen Volk übernehmen.

Die Linke hier kann Stimmen gewinnen, aber es ist schwierig, viele Tausende auf die Straße zu bringen; die Repression der letzten Jahre hat das erschwert. Um nur ein Beispiel zu nennen: Achtzig Aktivist:innen von uns (darunter war ich auch) haben in der letzten Woche vor Gericht gestanden, weil sie gegen die Korruption bei der Verteilung von Zelten im Erdbebengebiet protestiert hatten. Der Rote Halbmond hatte Zelte an die Nichtregierungsorganisationen verkauft. Die Polizei hatte unseren Protest angegriffen, was heutzutage die Regel ist.

Kannst du etwas zu Can Atalay sagen, den Abgeordneten, der immer noch nicht aus dem Gefängnis entlassen worden ist?

Ich kenne Can schon seit vielen Jahren. Er ist Anwalt und war einer der Sprecher der Gezi-Park-Kampagne. Er hat auch Menschen in Arbeitsrechts- und Sicherheitsfragen verteidigt. Für seine Rolle in der Gezi-Park-Kampagne ist er zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt worden.[i] Wir hatten ihn als Unabhängigen auf die Liste der TİP genommen. Nachdem er gewählt wurde, hat der Staat umgehend Maßnahmen ergriffen, um seine parlamentarische Immunität aufzuheben.

Verschiedene Gerichte auf verschiedenen Ebenen haben unterschiedliche Urteile gefällt. Das Verfassungsgericht sagte, er müsse freigelassen werden, aber ein untergeordnetes Gericht hat danach eine gegenteilige Entscheidung getroffen. Er ist also im Gefängnis geblieben. Wir nennen das einen Verfassungsputsch, weil das untere Gericht sich im Widerspruch zu dem höheren Gericht geäußert hat. Wir haben es jetzt also mit einer Staatskrise zu tun, dabei geht es um die Legitimität der Verfassung.

Aus dem Englischen übersetzt von Wilfried

Dieses Interview ist am 17. März auf der Webseite von Anti*Capitalist Resistance (ACR, England und Wales)veröffentlicht worden.

Uraz Aydın ist Mitglied der „Parteiversammlung“, des Leitungsgremiums der TİP, das auf der Nationalen Konferenz vom 29./30. Januar 2022 gewählt wurde. Dave Kellaway ist aktives Mitglied von ACR und Socialist Resistance, der britischen Sektion der Vierten Internationale.


[i] Weitere Informationen über ihn und die Kampagne von Amnesty International für Can Atalay: https://www.amnesty.org/en/latest/news/2023/10/turkiye-court-ruling-for-release-of-can-atalay-long-overdue/
[Auf Deutsch u. a.: https://www.amnesty.de/informieren/aktuell/tuerkei-osman-kavala-berufungsgericht-bestaetigt-lebenslange-haftstrafe]
Siehe auch den Solidaritätsaufruf für Can Atalay vom September 2023 auf International Viewpoint.

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