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Betrieb & Gewerkschaft

Leserinbrief: Kampf der ÄrztInnen nicht politisch reaktionär

Von Clarissa L. | 01.07.2006

Ganz ohne Zweifel gibt es an der generellen Politik und am konkreten Verhalten der Führung des Marburger Bundes (MB) vieles auszusetzen. Aber ist deswegen etwa der Kampf der ÄrztInnen nicht zu unterstützen? Ich finde Thadeus Pato hat in seinem Artikel in der letzten Nummer das Kind mit dem Bad ausgeschüttet.

Ganz ohne Zweifel gibt es an der generellen Politik und am konkreten Verhalten der Führung des Marburger Bundes (MB) vieles auszusetzen. Aber ist deswegen etwa der Kampf der ÄrztInnen nicht zu unterstützen? Ich finde Thadeus Pato hat in seinem Artikel in der letzten Nummer das Kind mit dem Bad ausgeschüttet.

Zunächst hält T. P. ganz richtig fest: „Die Rechnung, die der Marburger Bund [zur Rechtfertigung seiner Forderung] aufmacht, ist im Wesentlichen korrekt.” Aber schon bei der Bewertung der Streiktaktik legt T. P. seltsame Maßstäbe an. Er wirft den ÄrztInnen vor, dass sie bei ihren Streiks meist nur „unbezahlte Überstunden abfeiern.” Was ist verwerflich daran? Andere Bereiche kämpfen gar nicht! Sodann führt T. P. aus, dass der MB über Arbeitszeiten bis zu 48 h verhandele. Inzwischen ist das Verhandlungsergebnis bekannt (42 h): Es läuft im Wesentlichen darauf hinaus, mindestens einen Teil der Verschlechterungen der letzten Jahre wieder rückgängig zu machen und geleistete Arbeit auch tatsächlich zu bezahlen. Anders hätte ja schließlich die Rechnung des MB nicht „im Wesentlichen korrekt” sein können.

Ein Ergebnis ist z. B. auch, dass viele ÄrztInnen nach diesem Abschluss real kürzer arbeiten werden als heute, weil sie weniger Überstunden leisten müssen, um auf ihr Geld zu kommen. Vor dem Abschluss verdienten junge AssistenzärztInnen mit real 50 h in der Woche gerade mal 1800 € netto und das nach langem Studium, praktischem Jahr, bei schlechten Arbeitszeiten usw. Unter solchen Bedingungen nicht für eine bessere Bezahlung zu kämpfen, wäre Ausdruck von Passivität oder schlichter Idiotie. Diesen KollegInnen also die Berechtigung für ihren Kampf abzusprechen ist nicht besonders solidarisch.

Damit kommen wir zur zentralen politischen Differenz, die ich mit dem Autor in dieser Angelegenheit habe. T. P schreibt zu Recht, „dass die Forderungsstruktur, mit der ver.di in die Tarifrunde ging, mehr als traurig” ist. Aber wieso ist dann der eigenständig vom MB geführte Streik „dem ebenfalls – und zwar nicht per Überstunden abfeiern – streikenden nichtärztlichen Klinikpersonal in den Rücken gefallen”? Das Gegenteil ist doch eher richtig: Gerade weil die ÄrztInnen sich rechtzeitig vor Abschluss des katastrophalen TVöD aus der Tarifgemeinschaft verabschiedet haben, haben sie sich überhaupt die Möglichkeit bewahrt, nicht von der katastrophalen „Meistbegünstigungsklausel” erfasst zu werden und die Verluste der vergangenen Jahre wenigstens zum Teil wieder reinzuholen.

Dies richtet sich überhaupt nicht gegen das übrige Personal. Das täte ein solcher Abschluss nur dann, wenn er die Budgetierungsposition akzeptieren würde, aber genau das lehnen die streikenden ÄrztInnen ab. Im Übrigen ist für die Zersplitterung der Tarifverträge im Öffentlichen Dienst die ver.di-Führung verantwortlich, sowohl mit dem TVöD als auch schon zuvor mit dem Abschluss von Spartentarifverträgen. Genau aus diesem Schlamassel kommt ver.di jetzt nur noch schwer raus, weil die traditionell kampfstarken Bataillone (gerade etwa der Verkehrsbetriebe) jetzt einzeln abgefrühstückt werden und die schlecht organisierten Bereiche (die v. a. mit ihren Streiks keinen großen ökonomischen oder sonstigen Druck erzeugen können) mit dem Rücken an der Wand sich einen schlechten Tarifvertrag aufdrücken lassen mussten (s. letzte Avanti)

Wenn streikende ÄrztInnen eine bessere Bezahlung durchsetzen, um real weniger Stunden zu arbeiten, dann können sie damit politische Zeichen setzen. Der Streik wäre nur dann „politisch reaktionär”, wenn die ÄrztInnen dieses Geld von den anderen KollegInnen abziehen wollen. Dafür aber gibt es keine stichhaltigen Belege. Wenn ein einzelner MB-Vertreter erklärt, dass „unten noch Luft drin ist”, ist das noch lange kein Beweis für die von den streikenden ÄrztInnen vertretene Meinung. Auch in den offiziellen Erklärungen des MB findet sich diese dem MB und den streikenden ÄrztInnen unterstellte unsolidarische Haltung nicht!

Die Behauptung im Fazit des Artikels von T. P., „dass dieser Streik eher den Charakter der Wahrung von Standesprivilegien hat als den eines emanzipatorischen Aktes” geht am tatsächlichen Inhalt dieses Kampfes vollkommen vorbei. Wenn jetzt die realen Arbeitszeiten sinken, dann sind die ÄrztInnen den anderen KollegInnen überhaupt nicht „in den Rücken gefallen”, auch nicht den arbeitslosen ÄrztInnen.

Den ÄrztInnen von vornherein die Bereitschaft abzusprechen „gemeinsam mit allen MitarbeiterInnen für eine Verbesserung der Verhältnisse an den Krankenhäusern für alle zu kämpfen” und ihnen deswegen zu attestieren, ihre Aktionen seien „ständisch fixiert und damit politisch reaktionär”, geht m. E. von einem fragwürdigen Gewerkschaftsverständnis aus. Selbstverständlich sollten wir für große, gemeinsam kämpfende Gewerkschaften eintreten, aber berufsgruppenspezifische Organisationen (Fluglotsen, Lokführer) sind keineswegs per se ständisch. Uns kommt es nicht auf die Organisationsform an, sondern auf den Inhalt des Kampfes (und dass überhaupt gekämpft wird!). Sonst hätten die britischen Gewerkschaften 150 Jahre lang überhaupt keine gewerkschaftlichen Kämpfe geführt. Oder ist z.B. die GEW, die auch in den Einrichtungen, wo ihre KollegInnen arbeiten, längst nicht alle Berufsgruppen organisiert, nicht etwa heute eine der fortschrittlichsten Gewerkschaften im DGB?

Natürlich sollten die ÄrztInnen ihren Kampf mit dem der anderen Bereiche koordinieren. Aber bevor sie sich von der katastrophalen Politik der Ver.di-Führung fesseln lassen und beim TVöD festgenagelt bleiben, ist es allemal besser, für qualitativ bessere Bedingungen zu kämpfen (auch die Fluglotsen hatten seinerzeit Recht und die Avanti hat das auch damals gut herausgestellt).

Für eine eigenständige Koordinierung des kämpfenden Personals aus ärztlichen und nicht-ärztlichen Bereichen muss – gerade angesichts der Orientierung der Ver.di-Führung – durch eine konkrete Politik von unten gearbeitet werden. Die Aktionseinheit ist also angesagt. Dafür müssen wir uns bei den ÄrztInnen einsetzen. Dies muss verbunden werden mit dem Kampf für eine vollständige Revision der Ver.di-Politik. Der TVöD muss auf den Müllhaufen der Geschichte.

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