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Innenpolitik

Landesweite Protestwelle in Hessen

Von Korrespondent | 01.12.2003

Koch hat mit seinem rabiaten Sparkurs viele Menschen gegen sich aufgebracht (vgl. letzte Avanti). Aus der augenblicklichen Protestwelle kann mehr werden.

Koch hat mit seinem rabiaten Sparkurs viele Menschen gegen sich aufgebracht (vgl. letzte Avanti). Aus der augenblicklichen Protestwelle kann mehr werden.

Seit Wochen laufen Aktionen in allen hessischen Städten. Sie richten sich gegen Kochs Sparpolitik auf dem Rücken der hessischen Landesbeamten und der Beschäftigten in sozialen Einrichtungen sowie der vielen Menschen, die auf diese Einrichtungen angewiesen sind (s. Kasten). Als nächste Gruppe sind die Angestellten des Öffentlichen Dienstes im Visier, denen man – über Tarifverhandlungen – aus „Gerechtigkeitsgründen" ebenfalls längere Arbeitzeiten aufs Auge drücken will.

Gespart wird nicht nur aus fiskalischen Gründen. Unter Verweis auf die Haushaltslage wird v. a. dort gespart, wo der Staat nach dem Weltbild des Herrn Koch am besten überhaupt nichts ausgeben soll, eben bei den sozialen Einrichtungen. Im Gegenzug werden weiter die Hobbys der Reichen bezuschusst, etwa auf der Frankfurter Galopp-Rennbahn oder in der Eliteschule auf Schloss Hansenberg. Für dieses Internat gibt die Landesregierung 22,6 Mio. € aus. Auf 75 Schüler kommen dort 12 Pädagogen. In den normalen Schulen sind bis zu 33 SchülerInnen in einer Klasse, allgemeine Tendenz steigend.

Vor allem die Arbeitszeitverlängerung hat gesamtgesellschaftliche Bedeutung. Wenn die Landesbeamten zukünftig 9% länger arbeiten (bei sinkenden Bezügen!) wird dies nicht nur hier die Arbeitslosenzahlen hochtreiben.

Es wird v. a. in der Industrie und anderen Bereichen als Argument für eine Arbeitszeitverlängerung herhalten. Dies ist nicht nur ein fundamentaler Angriff auf die Beschäftigten und auf das damit größer werdende Heer der Erwerbslosen. Es wird auch die Wirtschaftskrise verschärfen, weil damit die Massenkaufkraft sinkt und die so produzierten Waren noch weniger verkaufbar sind.
„Tag der Verweigerung"
Nach dem ersten Höhepunkt vom 15.10., als 10 000 Menschen aus Sozialen Einrichtungen und betroffene Hilfesuchende in Wiesbaden demonstrierten, ist im November eine neue Phase eingeleitet worden. Ansatzweise geht jetzt der Widerstand über reine Protestmaßnahmen hinaus:

Am 4. November demonstrierte der CDU-nahe Beamtenbund in Wiesbaden. 1000 TeilnehmerInnen waren erwartet worden. 4000 kamen und hatten – welch ein Schreck für die Lokalpresse – vor allem einen Schlachtruf: Koch muss weg!

Der 18. 11. war von den Gewerkschaften als Tag der Verweigerung ausgerufen worden. 45 000 Landesbeamte, Beschäftigte Sozialer Einrichtungen und Studierende kamen nach Wiesbaden zur größten Demo in der hessischen Landeshauptstadt seit Startbahnzeiten zusammen. Die Gewerkschaft der Polizei hatte angekündigt, in Polizeiuniformen zu demonstrieren. Dies wurde ihr von der Landesregierung und dann vom hessischen Verwaltungsgericht untersagt. Dennoch haben Hunderte von PolizistInnen in Uniform demonstriert. Ein Akt zivilen Ungehorsams (in Uniform!). Seit Wochen wird an vier hessischen Hochschulen gegen die Einführung von Studiengebühren gestreikt! Mindestens 10.000 Studierende kamen zur Demo.

Zum „Tag der Verweigerung hatte die GEW nach einer entsprechenden Mitgliederbefragung zum Streik aufgerufen. Ca. 6000 KollegInnen folgten dem Aufruf trotz angedrohtem Eintrag in die Personalakte. Die anderen Gewerkschaften hielten sich mit offiziellen Streikaufrufen zurück. Dennoch haben viele KollegInnen auch ans anderen Bereichen gestreikt, am aktivsten die Beschäftigten des Landesforstamtes (s. Kasten).
Mehr angesagt als nur zu demonstrieren!
In einer Situation, in der Koch als „brutalst möglicher Sanierer" vorgeht, entwickelt sich seit September eine breite Stimmung des Widerstands. Aber es fehlt die organisierende Kraft, die entschlossen wirksame Aktionen vorantreibt. Maßgeblich für die Beteiligung der  KollegInnen an Aktionen ist bisher meist noch der Maßstab: „Kommen viele Menschen zusammen? Geht’s jetzt zur Sache? Wenn ja, dann komme ich auch."
Die Selbstorganisation muss sich ganz offensichtlich über einen längeren Prozess entwickeln. Zu sehr warten die KollegInnen noch auf entsprechende Aufrufe und Signale von „kompetenter Stelle". Nach Maßgabe der Dinge können dies heute nur die Gewerkschaften ausfüllen, aber ihre Führungen sind auch auf Landesebene (mit Ausnahme der GEW und ansatzweise der IG BAU) sozialdemokratisch fixiert und blenden den Zusammenhang zur neoliberalen Politik der Bundesregierung aus (vgl. dazu Kasten mit Flugblatt des RSB).
Die ständige Unruhe, die Entwicklung einer breiten Front des zivilen Ungehorsams und v. a. eine demokratisch strukturierte landesweite und bundesweite Organisation des Widerstands steht an. Sie muss zum Ziel haben, die wirksamste Waffe einzusetzen, den Massenstreik.

Der Ruf „Koch muss weg", mit dem die Redner am 18.11. immer wieder lautstark unterbrochen wurden, klingt für den Moment ganz gut, ist aber angesichts der großen Koalition der herrschenden neoliberalen Parteien völlig unzureichend. Ihr gilt es eine eigene gesellschaftliche Perspektive entgegenzustellen, angefangen mit einer neuen Offensive für eine umfassende Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich, bis alle Arbeit haben.
 

Politischer Streik
Für den 18. 11. hatte nur die GEW zum Streik aufgerufen. Aber die Beteiligung an dieser wirksamsten Aktionsform ging weit darüber hinaus. Unser Überblick ist zwangsläufig unvollständig, weil die anderen Gewerkschaften nur zum Protest aufriefen, nicht zum aktiven Kampf und auch im Nachhinein nicht bereit sind, die Zahl der Streikenden einigermaßen verlässlich zu ermitteln und damit Werbung für die nächste Aktion zu machen. Es streikten:
Annähernd 6000 LehrerInnen, HochschullehrerInnen und SozialarbeiterInnen in pädagogischen Einrichtungen; zwischen 1000 und 1500 Beschäftigte des staatlichen Forstamtes; einige Hundert PolizistInnen (insgesamt nahmen zwischen 3000 und 5000 PolizistInnen an der Demo teil); etwa 6000 bis 7000 Landesbeamte aus Landesbehörden und Ministerien.
Alles zusammen waren es nach unseren vorsichtigen Schätzungen zwischen 13000 und 15000 Lohnabhängige, die gegen Kochs Regierungspolitik einen politischen Streik führten. Beamte haben nach der hiesigen Rechtsordnung kein Streikrecht. Ihre Arbeitsverweigerung ist nicht nur mutig. Sie weist der gesamten Widerstandsbewegung gegen die neoliberale Sparpolitik den Weg.

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