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Innenpolitik

Land unter: Generalverdacht!

Von Oskar Kuhn | 01.11.2009

„Einen Staat, der mit der Erklärung, er wolle Straftaten verhindern, seine Bürger ständig überwacht, kann man als Polizeistaat bezeichnen.“

„Einen Staat, der mit der Erklärung, er wolle Straftaten verhindern, seine Bürger ständig überwacht, kann man als Polizeistaat bezeichnen.“

Dies äußerte im Juni 2007 Ernst Benda, immerhin ehemaliger Präsident des Bundesverfassungsgerichts, in einem Interview zur Frage der Datenvorratsspeicherung. Zweieinhalb Jahre später sehen wir uns zum Jubiläum des Mauerfalls mit alten und neuen, sichtbaren und unsichtbaren Mauern, Kameras und Kontrollen konfrontiert. Wenn in diesem Monat der Maueropfer an der ehemals innerdeutschen Grenze gedacht wird, werden zudem wieder Menschen an den Mauern der Festung Europa sterben.

Die technischen Voraussetzungen einer totalen Überwachung sind längst gegeben. Die heutige computergestützte Bild- und Tontechnik sowie die Entwicklung der biochemischen Wissenschaft eröffnen den modernen Schnüfflern ungeahnte Möglichkeiten. Hier geht die Entwicklung des bürgerlichen Staates synchron mit dem Überwachungszwang kapitalistischer Konzerne. Die gesetzliche Verankerung einer Vorratsspeicherung entspricht den Bespitzelungen bei der Bahn AG oder Lidl. Die Diskussion über den Grad dieser Überwachung ist längst nicht mehr eine Frage paranoiden Verfolgungswahns. Sie ist ein Gebot politischer Vernunft.
Krisenpotenzial und Machtbewahrung
Denn die reale Gefahr der Überwachung wird in ihrer Dimension erst komplett, wenn wir das Zusammenwirken von technischer Voraussetzung und gesellschaftspolitischem Motiv der Überwacher­­Innen in Kabinett und Kapital betrachten. Neben den genannten technischen Möglichkeiten ist die machtbewahrende Bewältigung der zunehmenden Gegensätze der Lebenslagen und Lebensstandards das zentrale Motiv. Anders ausgedrückt: Wer bewusst Sozialabbau betreibt und das Prinzip „Jeder gegen Jeden“ zum innovativen Leitbild erhebt, der weiß nur zu gut, dass dies Krisenpotenzial birgt und alltägliche soziale Katastrophen und menschliche Tragödien erzeugt. Amok laufende, bankrotte Familienväter oder rachelüsterne, sozial isolierte „Schulversager“ stehen so am Anfangs- und Endpunkt der Legitimation einer deutlich zunehmenden Überwachungsspirale. Aufschlussreich ist deshalb die, wenn nicht synchrone, so doch parallele Entwicklung der Sozialpolitik und der stetigen Entwicklung des Überwachungsstaates in der auslaufenden Dekade.
Die Agenda 2010 der inoffiziellen ganz großen Koalition aus CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit Hartz IV als Kernelement findet in der Bundesrepublik seine Entsprechung in der Vorratsspeicherung, biometrischen Pässen und den großen und kleinen Lauschangriffen. Türklinkenschnüffler im Auftrag der ARGen und Jobcenter verletzten und verletzen seit 2005 im großen Stil die Privatsphäre von Erwerbslosen. In gleicher Logik wird das bürgerliche Prinzip des unantastbaren Privatvermögens für diesen Teil des modernen Proletariats außer Kraft gesetzt und für die stete Observation freigegeben.

Im Internet, dem postulierten Hort weltweiter Freiheit, werden zunehmend die Claims vom Kapital abgesteckt, dann umzäunt und schließlich von den staatlichen Behörden vor der geschäftsschädigenden „Willkür“ durch Einzelnutzer geschützt. Dem Rest verbleibt deshalb neben der Information vor allem Observation. Wie dereinst in „Wildwest“: Nach dem Pionier kam der Viehbaron, dann der Stacheldraht und schließlich der Marshal.

Wenn die Logik des innenpolitischen Kurses der vergangenen Großen Koalition unter Schwarz-Gelb fortgesetzt wird, so ist der durchschnittliche Internet-User auch weiterhin immer ein potenzieller Bombenbastelschüler, der per Mausklick einen Monat Terrorcamp im afghanisch-pakistanischen Grenzland buchen könnte.
Die Angst der Mächtigen
Das Thema ist bei weitem nicht erschöpft. Hinter den beschriebenen Symptomen einer zunehmenden Überwachung steht das permanente Misstrauen und die Angst der Mächtigen vor Machtverlust und sozialer Gegenwehr. Die Abwälzung der Krise auf die abhängig Beschäftigen und die bereits weit Abgehängten wird trotz liber­alen Koalitionspartners in Berlin ihre Entsprechung im weiteren Ausbau des Überwachungsstaats finden. Tun wir was dagegen.

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