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Kenia: Tod nach den Wahlen

Von Harry Tuttle | 01.02.2008

Der Machtkampf in der Oligarchie Kenias führte zu Massakern. Nur eine gemeinsame Vertretung sozialer Interessen kann die Instrumentalisierung ethnischer Gruppen verhindern. Wenn etwas schief geht bei den Wahlen, bedienen sich manche afrikanische Politiker der über den „dunklen Kontinent“ kursierenden Klischees. So der aus dem Amt scheidende nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo, nachdem im Mai vergangenen Jahres am Wahltag 200 Menschen getötet worden waren und die Opposition gegen Manipulationen protestierte:

Der Machtkampf in der Oligarchie Kenias führte zu Massakern. Nur eine gemeinsame Vertretung sozialer Interessen kann die Instrumentalisierung ethnischer Gruppen verhindern.

Wenn etwas schief geht bei den Wahlen, bedienen sich manche afrikanische Politiker der über den „dunklen Kontinent“ kursierenden Klischees. So der aus dem Amt scheidende nigerianische Präsident Olusegun Obasanjo, nachdem im Mai vergangenen Jahres am Wahltag 200 Menschen getötet worden waren und die Opposition gegen Manipulationen protestierte: „Sie können die Situation in einem Entwicklungsland nicht mit europäischen Maßstäben messen“.

Auch der um eine zweite Amtszeit kämpfende Präsident Mwai Kibai meint offenbar, man müsse ein gewisses Maß an Gewalt bei Wahlen in Afrika nun einmal hinnehmen. „Wir haben dem Rest des Kontinents ein gutes Beispiel gegeben“, behauptete er Ende Dezember. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits dutzende Menschen bei Protesten gegen Wahlmanipulationen getötet worden, teils bei brutalen Polizeieinsätzen, teils bei Kämpfen zwischen Milizen verschiedener ethnischer Gruppen und Massakern.
Doch in Afrika hat sich vieles geändert, seit die Ära der Einparteienherrschaft in den neunziger Jahren zu Ende ging. Allein im vergangenen Jahr wurde in 18 Staaten gewählt. Manchmal wurde manipuliert, doch selbst im ehemaligen Bürgerkriegsstaat Sierra Leone blieb es nach den Wahlen bei einigen Plünderungen. Ausschreitungen, bei denen Hunderte sterben, sind in Afrika heute die Ausnahme und nicht die Regel.
Demokratie in Afrika
Viele Länder haben, wie der Senegal, den Standard bürgerlicher Demokratie erreicht, obwohl es weder eine relevante liberale Bourgeoisie noch starke Mittelschichten gibt, die vielen westlichen PolitologInnen als Voraussetzung gelten. Auch der gerne als unüberwindliches Hindernis zitierte Islam stört die AfrikanerInnen nicht, im Senegal ist der muslimische Bevölkerungsanteil mit über 90 Prozent höher als in Ägypten oder Syrien.

Doch der Alltag des Parlamentarismus ist öde, Macheten schwingende Afrikaner sind interessanter für die Medien. Deren Konzentration auf die Konfliktgebiete ist einerseits legitim, die weltweit schlimmsten humanitären Katastrophen spielen sich in Afrika ab, im Kongo und in Darfur, und verglichen mit den Massakern in Kenia erscheinen die autoritären Manipulationen etwa in Belarus fast harmlos. Oft aber stärkt die Berichterstattung das Klischee, dass die Menschen einander abschlachten, weil sie verschiedenen „Stämmen” angehören.

Statt sich ebenfalls dieses Klischees zu bedienen, könnten Kibaki und andere Oligarchen sich natürlich fragen, warum die Dinge so viel schlechter laufen als im noch ärmeren Senegal, wo die Ursachen liegen und was sie selbst zu der Katastrophe beigetragen haben. Allenfalls verweisen sie auf die durch den Kolonialismus verursachten gesellschaftlichen Spaltungen.
Kolonisiert waren jedoch – mit Ausnahme des nur wenige Jahre von Italien besetzten Äthiopien und des von einer afroamerikanischen Führungsschicht regierten Liberia – alle afrikanischen Staaten. Entscheidend ist, wie Gesellschaften mit dem kolonialen Erbe umgehen. Die Kolonialmächte bevorzugten bestimmte Bevölkerungsgruppen, die sie nach rassistischen oder pragmatischen Kriterien aussuchten. Diese Methode des „teile und herrsche” zu übernehmen, war eine machtpolitische Entscheidung.
Soziale Gegenmacht
Selbst manche Diktatoren widerstanden dieser Versuchung. So begründete Sekou Touré in Guinea einen Nationalismus, der darauf basierte, dass sich das Land 1958 als einzige französische Kolonie in einem Referendum für die vollständige Unabhängigkeit entschied. Im Kampf gegen Tourés Diktatur und später die Autokratie seines Nachfolgers Lansana Conté entwickelte sich in Guinea eine soziale Gegenmacht. Die Proteste werden von Gewerkschaften und soziale Bewegungen geführt. Im vergangenen Jahr zwangen Generalstreiks und Massendemonstrationen Conté zu einem Kompromiss, er musste Machtbefugnisse abgeben und oppositionelle Minister in die Regierung aufnehmen. Als Conté Anfang Januar durch die Entlassung eines Ministers das Abkommen brach, kam es zu Protesten, die Gewerkschaften drohen mit einem Generalstreik. Derzeit wird verhandelt.

Es gibt auch andere, aus emanzipatorischer Sicht weniger erfreuliche Sicherungsmechanismen. Der Senegal verdankt seine Stabilität nicht zuletzt dem Einfluss der islamischen Bruderschaften, multiethnischen Organisationen, die auch aus ökonomischen Gründen den Frieden wahren wollen, denn sie kontrollieren Transport und Handel.
Chaotischer Klientelismus
Wo solche Sicherungsmechanismen fehlen, wie in Kenia, ist die Demokratisierung eine sehr gefährliche Phase. Sie beginnt mit dem Kontrollverlust des alten Regimes, dem Zerfall des zentral gesteuerten Klientelnetzes. Der Autokrat Daniel arap Moi führte ein Bündnis der Kikuyu und einiger kleinerer Bevölkerungsgruppen. Anfang der neunziger Jahre, als er gezwungen war, ein Mehrparteiensystem zuzulassen, kam es im Wahlkampf zu Unruhen, bei denen 1500 Menschen getötet wurden. Lokale Machthaber und Provinzfürsten traten auf den Plan, die konkurrierende Klientelnetze aufbauten, meist auf ethnischer Grundlage, und ihre Anhänger bewaffneten.

Im Jahr 2002, als das Oppositionsbündnis der Regenbogenkoalition die Wahlen gewann und Mwai Kibaki Präsident wurde, schienen diese Verhältnisse überwunden. Doch unter Kibaki wurden Korruption und Klientelismus nicht geringer, sie wurden nur chaotischer. Die kenianische Tageszeitung East African Standard berichtete regelmäßig über den „Tribalismus in der Regierung“ und die „Vetternwirtschaft“, nun in „zügellosem Wettbewerb“, während unter Moi das „System der Patronage“ zentralisiert war.
Für die politische Oligarchie ist der Appell an die ethnische Loyalität ein machtpolitisches Instrument. Sie versprechen ihrer Klientel Land, lukrative Jobs und Zuwendungen aus der Staatskasse. Die traditionellen Stammesstrukturen sind jedoch längst zerfallen. Die Traditionspflege wäre so harmlos wie der Auftritt eines bayerischen Trachtenvereins, wenn der „Tribalismus“ die ethnische Zugehörigkeit nicht für einen modernen Machtkampf instrumentalisieren würde.

Regierung und Opposition tragen gleichermaßen Schuld an der Eskalation. Kibaki monopolisierte die Macht, und dass es bei den Wahlen zu Manipulationen in großem Ausmaß kam, wurde von unabhängigen BeobachterInnen
bestätigt. Odingas ODM (Orange Democratic Movement) wiederum zog unter anderem mit der Parole „Jetzt sind wir beim Essen dran” in den Wahlkampf, und allen war klar, dass „wir” die bislang benachteiligten Luo sind, die nun auf Kosten der Kikuyu privilegiert werden sollen.
Allgegenwärtige Korruption
Die ethnische Mobilisierung würde nicht funktionieren, wenn sie nicht auch „unten” Anklang fände. Ressentiments gegen die „gierigen“ Kikuyu oder die „faulen“ Luo sind insbesondere auf dem Land weit verbreitet, vor allem aber sind die Kenianer auf ethnische Loyalität angewiesen. Die Korruption ist allgegenwärtig. Wer ein Dokument von der Behörde benötigt oder seine Waren auf dem Markt verkaufen will, muss ein Bestechungsgeld zahlen. Die verständliche Reaktion ist, dass die Menschen ihrerseits nach Kräften die staatlichen Ressourcen ausnutzen wollen. Ein guter Job, eine Stromleitung ins Dorf, ein Kredit – all das für „ihre“ Gruppe zu besorgen, wird weithin als die eigentliche Aufgabe der PolitikerInnen betrachtet.

In einem solchen System existiert kein „nationales“ Interesse mehr. Der Staatsapparat wird zum Kampfplatz der Oligarchen und ihrer Klientel. Soweit ersichtlich, wurden nur kleine Minderheiten in den ethnischen Kämpfen aktiv. Die Mehrheit der KenianerInnen war schockiert über die Massaker, bei denen etwa 700 Menschen getötet wurden. Das setzt auch die PolitikerInnen unter einen gewissen Druck, sich und ihre AnhängerInnen zurückzuhalten. Doch die Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition stocken, und die Strukturen, die die Eskalation hervorgebracht haben, existieren weiter.
Überwunden werden kann die gesellschaftliche Spaltung nur durch Organisationen, die gemeinsame politische und soziale Interessen vertreten. Die kenianischen Gewerkschaften sind jedoch schwach, und es ist nicht gelungen, die Macht der politischen Oligarchie zu brechen. In den zumeist schwach institutionalisierten afrikanischen Staaten, deren Bevölkerungsmehrheit aus Kleinbauern/-bäuerinnen (in Kenia etwa 75 Prozent) und städtischen Armen ohne Lohnarbeit besteht, müssen Gewerkschaften und soziale Bewegungen einen Weg finden, die auf ihren Farmen und in ihren Blechhütten Vereinzelten zu integrieren.

Demokratie macht nicht satt. Der Generalstreik ist ein Mittel, elementare Verbesserungen der Lebensbedingungen zu erkämpfen. Er dient auch der gesellschaftlichen Integration von „unten“, die allein verhindern kann, dass die Unterschichten sich für den Machtkampf oligarchischer Interessengruppen einspannen lassen.

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