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Geschichte und Philosophie

Juni 1936 in Frankreich: Die verpasste Revolution

Von Stefan Langer | 01.07.2006

Im Juni 1936 hätte in Frankreich die Revolution stattfinden können. In über zwei Wochen landesweiten Streiks erkämpfte die französische ArbeiterInnenklasse nicht nur die 40-Stunden-Woche, Tarifverträge und bezahlten Urlaub. Sie gewann auch ungeheures Selbstbewusstsein. Die Arbeiterinnen und Arbeiter fegten durch Hunderte Betriebsbesetzungen die gesamte Klasse der Kapitalisten als Akteure von der Bühne.

Im Juni 1936 hätte in Frankreich die Revolution stattfinden können. In über zwei Wochen landesweiten Streiks erkämpfte die französische ArbeiterInnenklasse nicht nur die 40-Stunden-Woche, Tarifverträge und bezahlten Urlaub. Sie gewann auch ungeheures Selbstbewusstsein.

 
Die Arbeiterinnen und Arbeiter fegten durch Hunderte Betriebsbesetzungen die gesamte Klasse der Kapitalisten als Akteure von der Bühne. Viele Belegschaften wiesen die Verhandlungsergebnisse der bremsenden Gewerkschaftsführungen mehrfach als zu wenig zurück.

Die französische Bevölkerung war in den 30er Jahren mit hoher Arbeitslosigkeit und fallenden Löhnen genau wie die deutsche von der Wirtschaftskrise schwer betroffen. Dazu kam aber noch, dass die französische Arbeiterklasse bis dahin noch keine 40-Stunden-Woche, keine gemeinschaftlichen Arbeitsverträge und nur sehr geringe Sozialversicherung erkämpft hatte! Viele empfanden, dass es Zeit wäre, sich von den Unternehmen etwas zurückzuholen. Die Volksfront war ein Wahlbündnis hauptsächlich von Kommunistischer Partei, Sozialistischer Partei und der Radikalen Partei, der Partei der „kleinen Bourgeoisie”. Das Bündnis war gebildet worden, um den Aufstieg des französischen Faschismus aufzuhalten und um soziale Verbesserungen durchzusetzen. Sie gewann im Mai 1936 überragend die Parlamentswahlen.

Die seit Jahren stalinisierte kommunistische Partei hatte 1934 eine 180-Grad-Wende von der ultralinken Politik zur so genannten „Volksfront-Politik” gemacht. Sie gab dabei das Ziel der Revolution zugunsten von Bündnissen mit Teilen der Bourgeoisie auf. Die Methode des Klassenkampfs verbannte sie zwar nicht ganz aus ihren Reden, aber aus ihrem Handeln! Stattdessen schürte sie unter den Arbeitenden die Erwartungen an eine neue Regierung.
Während also unter den Arbeitenden Einheit und Aufbruchsstimmung herrschte, hielt sich der zukünftige Ministerpräsident der Volksfront, Léon Blum, über vier Wochen sklavisch an die Prozeduren beim Amtsantritt. Seine Wählerinnen und Wähler hielt er hin – nicht sie, sondern er würde im Parlament alle Verbesserungen erreichen.
Schon nach einer Woche platzte die gespannte Ruhe: Weil einzelne ArbeiterInnen wegen Teilnahme an den 1.-Mai-Feiern entlassen wurden, begannen ihre KollegInnen einen Streik. Dabei war den Arbeitenden die Forderung nach Bezahlung der Streiktage völlig selbstverständlich, genauso wie die Besetzung der Fabriken. Die ersten Streiks endeten zum Teil schon am ersten Abend, als die Arbeitenden ihre Schlafsäcke auf dem Fabrikboden ausrollten! Sieg folgte auf Sieg. Die Lawine rollte von Paris aus in andere Regionen des Landes. Dabei wirkte der Streik der 35 000 Arbeiterinnen und Arbeiter bei Renault in Paris als Brandbeschleuniger: Anfang Juni 1936 waren zwei Millionen Menschen im Streik für die 5-Tage-Woche, Lohnerhöhungen, einen Mindestlohn, bezahlten Urlaub und Tarifverträge.

Dabei streikten nicht nur die Arbeitenden in Fabriken, Bergwerken und auf Baustellen, sondern auch in Kaufhäusern, Kinos und Restaurants! Es gab Versammlungen von Delegierten der streikenden Betriebe. Die kleinen Händler, die Beamten und Intellektuellen waren durch die Entschlossenheit und Einheit der Arbeitenden völlig auf ihre Seite gezogen. Viele Läden räumten den Streikenden Rabatte ein. Die Bourgeoisie wetterte: Das ist die Revolution!

Ja, das hätte sie sein können. Das Verhältnis der Arbeitenden zu ihrem Unternehmen und ihren Maschinen hatte sich durch die Besetzungen schon verändert: Die Arbeiterinnen und Arbeiter waren die Herren darüber und fühlten einen bis dahin unbekannten Stolz. Als Léon Blum den Chef eines Unternehmensverbandes fragte, ob die Polizei zur Räumung der Betriebe eingesetzt werden sollte, lehnte er ab: Die herrschende Klasse war sogar zu ängstlich, die Konfrontation zu wagen!

Aber die kämpfende ArbeiterInnenklasse blieb ohne organisierte vorwärts treibende Kraft. Zuerst hatten die Gewerkschaftsführungen versucht, eine Ausweitung der Streiks zu verhindern und Kontrolle über sie zu bekommen. Aber ihre Verhandlungsergebnisse wurden reihenweise von den Streikenden zurückgewiesen. Später wurden die Spaltungsversuche der Gewerkschaftsführungen und der Kommunistische Partei immer offener: Die Streikenden sollten sich nicht von „Anarchisten” und „Trotzkisten” um ihren Sieg bringen lassen. Der Vorsitzende der Kommunistischen Partei brachte die bremsende Haltung auf den Punkt, in dem er sagte: „Man muss einen Streik auch beenden können!”

Es fehlte in dieser Situation den Arbeitenden eine starke Kraft, die ihrem Vertrauen in die bürokratischen und stalinistischen Führungen und in den Parlamentarismus von Anfang an eine wirklich kämpferische und revolutionäre Perspektive entgegengesetzt hätte.

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