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Jemen: Der Präsident geht, die Generäle kommen

Von Harry Tuttle | 01.07.2011

Auch nach der Ausreise Präsident Salehs hat die Demokratiebewegung im Jemen nicht gesiegt, es droht ein Bürgerkrieg. Die arabische Revolte tritt in eine Phase der Stagnation, und unter Führung Saudi-Arabiens organisiert sich die Konterrevolution.

Auch nach der Ausreise Präsident Salehs hat die Demokratiebewegung im Jemen nicht gesiegt, es droht ein Bürgerkrieg. Die arabische Revolte tritt in eine Phase der Stagnation, und unter Führung Saudi-Arabiens organisiert sich die Konterrevolution.

Wenigstens einmal in seiner nunmehr knapp 33jährigen Amtszeit hat Präsident Ali Abdullah Saleh den JemenitInnen eine Freude gemacht. Als Anfang Juni bekannt wurde, dass er das Land verlassen hatte, kam es in zahlreichen Städten zu spontanen Jubelfeiern. „Verschwinde“ war die an Saleh gerichtete Hauptforderung seit dem Beginn der Proteste im Februar gewesen.

Salehs Ausreise war nicht freiwillig. Am 3. Juni war der Präsident bei einer Explosion in seinem Palast schwer verletzt worden. Vermutlich hat er sich in diesem Moment gewünscht, er hätte etwas mehr für das Gesundheitssystem im Jemen getan. Die Entscheidung, sich zur medizinischen Behandlung nach Saudi-Arabien zu begeben, dürfte ihm nicht leicht gefallen sein, denn er weiß wohl, dass seine langjährigen Verbündeten ihn nicht mehr ausreisen lassen werden. Saleh hat das saudische Königshaus und andere ausländische Unterstützer gegen sich aufgebracht, weil er alle Vermittlungsversuche sabotiert hat.

Der Golfkooperationsrat (GCC), das Bündnis der Golfmonarchien, hatte mit den Oppositionsparteien ein Abkommen ausgehandelt, das einen „geordneten Machtwechsel“ vorsah. Saleh sagte die Unterzeichnung des Vertrags im Ausland zu, weigerte sich dann aber plötzlich, den Jemen zu verlassen. Später ließ er die zur Unterschriftszeremonie in den Jemen gereisten ausländischen Diplomaten der EU, der USA und des GCC von regimetreuen Schlägertrupps belagern, die Unterzeichnung fiel erneut aus. Noch immer weigert sich Saleh, sein Amt aufzugeben.
Dass GCC und westliche Regierungen sich gegen Saleh wandten, sollte nicht als Unterstützung für die Demokratiebewegung missverstanden werden. Vielmehr reagierten sie darauf, dass der Präsident mehr und mehr die Kontrolle verlor. Obwohl die Protestierenden immer wieder von Militär, Polizei und regimetreuen Todesschwadronen angegriffen wurden – allein am 18. März starben in der Hauptstadt Sana’a 52 Menschen im Gewehrfeuer der Heckenschützen Salehs –, wuchs die Zahl der Demonstrant­Innen. Hunderttausende forderten unermüdlich den Rücktritt Salehs, nach dem Vorbild der ägyptischen Revolutionär­Innen errichteten sie Protestcamps, die im Jemen „Plätze des Wandels“ genannt werden.
Mehr Waffen als Brot
Es erwies sich jedoch, dass die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu zerrüttet sind, um eine schnelle Demokratisierung zu ermöglichen. Etwa 40 Prozent der JemenitInnen leben unter der Armutsgrenze, und jüngst warnte UNICEF, bei der Hälfte der Kinder habe der Nahrungsmangel zu Wachstumsverzögerungen geführt. Während es an Brot mangelt, gibt es Waffen im Überfluss. Schätzungen zufolge kommen auf jeden erwachsenen Jemeniten drei Schusswaffen, es finden sich jedoch auch Raketenwerfer und schwere Waffen in Privatbesitz.
Wenn Protestierende massakriert werden, mag es zunächst vorteilhaft erscheinen, dass die Opposition nicht wehrlos ist. Doch die Einbindung in den kapitalistischen Weltmarkt hat im Jemen nicht zur Entwicklung einer Gesellschaft geführt, in der sich Lohnabhängige und Bourgeoisie gegenüberstehen. Außerhalb der großen Städte haben „Stammesführer“ das Sagen. Faktisch handelt es sich jedoch um die mächtigen Familien, die Privatarmeen unterhalten und diese je nach Interessenlage für oder gegen das Regime einsetzen. Dass der Jemen im Gender Gap Report, der die Fortschritte bei der Gleichstellung misst, unter allen Staaten den letzten Platz belegt, weist nicht allein auf die katastrophale Lage der Frauen hin. Es ist auch ein Indiz für eine zu großen Teilen von einem militaristischen Männlichkeitswahn geprägte Gesellschaft.
Die derzeit mächtigsten „Stammesführer“ sind die al-Ahmars. Lange Jahre mit dem Regime verbündet, haben sie sich nun der Opposition angeschlossen. Vermutlich haben sie versucht, den Präsidenten zu töten. Dessen Soldaten hatten zuvor das Hauptquartier der Ahmars in Sana’a beschossen. Offiziell unterstützen die Ahmars die Forderungen der Demokratiebewegung, doch dürfte ihr Interesse eher sein, die Tatsache, dass sie die größte Privatarmee kommandieren, für eine Erweiterung ihrer Macht auf Kosten der anderen Fraktionen der Oligarchie zu nutzen. Ähnlich verhält es sich mit den Generälen, die sich von Saleh losgesagt haben. Die Armee ist gespalten, doch kommandieren Familienangehörige Salehs weiterhin die kampfstärksten Truppen, darunter die von den USA trainierten und ausgerüsteten „Antiterroreinheiten“.
Überdies brechen nun zuvor unterdrückte Konflikte auf. Die „Wiedervereinigung“ des Jemen im Jahr 1994 war ein von Saleh geführter Eroberungszug der Armee des Nordens, nun fordert die „Südliche Bewegung“ die Unabhängigkeit. Der Jemen gehört überdies zu den wenigen Staaten, in denen bewaffnete Islamisten eine bedeutende Rolle spielen. Auch sie haben sich in die Kämpfe eingemischt.

Ein Sieg der Demokratiebewegung, an der sich viele Frauen beteiligten, hätte das Land stabilisieren und die Voraussetzungen für die Lösung der drängendsten Probleme schaffen können. So beruht die Macht der „Stammesführer“ auch auf der Marginalisierung der Landbevölkerung. Ein demokratisch-föderales System, das ihr die Verwaltung kommunaler Angelegenheiten ermöglicht, würde in Verbindung mit Entwicklungsprojekten den Drang junger Männer, sich mit der Waffe in der Hand einen Beuteanteil zu verschaffen, ebenso mindern wie die Macht der „großen Familien“. Doch aus dem Kampf für die Freiheit ist ein Mehrfrontenkrieg geworden, und die Demokratiebewegung ist die zahlenmäßig mit Abstand stärkste, aber am schlechtesten bewaffnete Fraktion.
Das Schicksal der Monarchen
Dass Saleh von westlichen Regierungen mit Geld und Waffen überschüttet wurde, hat die Militarisierung des Landes weiter vorangetrieben. Wie bei anderen arabischen Revolten kamen Zweifel an der Eignung des Autokraten erst auf, als unübersehbar geworden war, dass Saleh seine Position nicht würde halten können. Derzeit scheint es so, als würden USA und EU das Krisenmanagement Saudi-Arabien überlassen, der einzigen Regionalmacht der Region, die noch nicht von Massenprotesten erschüttert wurde.

Saudi-Arabien und den anderen Golfmonarchien bleiben westliche Mahnungen weitgehend erspart. Auch die Niederschlagung der Freiheitsbewegung in Bahrain zog keinerlei Sanktionen nach sich. Im März marschierten dort Truppen des GCC ein, die Intervention wurde mit dem „gemeinsamen Schicksal“ der Golfmonarchien begründet. Die Botschaft war deutlich: Jede Demokratisierungsbemühung in einem Mitgliedsland so
llte im Ansatz unterbunden werden.

Derzeit läuft die Aufnahmeprozedur für die Monarchien Jordanien und Marokko, obwohl sie 1000 bzw. 2500 Kilometer vom Golf entfernt sind. Der GCC wird zum Bündnis der arabischen Könige und Emire, deren wichtigstes Ziel es ist, die Demokratisierung zu verhindern. Die Monarchen scheinen dabei die zumindest stillschweigende Unterstützung des Westens zu genießen, obwohl die Aktivitäten insbesondere Saudi-Arabiens den islamistischen Terror fördern – allerdings „nur“ gegen Araber­Innen.

So unterstützt Saudi-Arabien die ägyptischen Salafisten, eine noch rechts von der Muslimbruderschaft stehende islamistische Bewegung, die für mehrere Angriffe auf KoptInnen verantwortlich sind. Im Jemen gilt General Ali Mohsen al-Ahmar als Wunschkandidat Saudi-Arabiens für die Nachfolge Salehs. Mohsen rekrutierte einst Kämpfer für den Krieg gegen die sowjetische Armee in Afghanistan, auch für Ussama bin Laden, als dieser noch ein Verbündeter der USA war. Er hat noch immer gute Kontakte auch zu bewaffneten Islamisten.
„Wir stehen erst am Anfang“
Saudi-Arabien ist die unangefochtene Führungsmacht des GCC, fällt die dortige Monarchie, dürfte es zumindest den Herrschern von Kleinstaaten wie Bahrain schwerfallen, sich an der Macht zuhalten. Dass die Vorstellung, die Saudis seien strenggläubige, ihrem König ergebene PuritanerInnen, ein Klischee ist, belegte bereits 2005 eine groß angelegte Umfrage in Ländern des Nahen Ostens. Nirgendwo ist die religiöse Observanz niedriger, nur 28 Prozent der Saudis besuchen wöchentlich den Gottesdienst, obwohl – oder weil – Zögerliche manchmal von der Religionspolizei mit dem Knüppel in die Moschee getrieben werden. Zwei Drittel gaben an, dass sie die Demokratie für die beste Regierungsform halten.

Im Frühjahr kursierten im Internet mehrere Aufrufe der Opposition, die unter anderem freie Wahlen, eine konstitutionelle Monarchie und die Gleichstellung der Frauen forderten. Doch an den angekündigten Protesttagen blieb es weitgehend ruhig. Protestierende müssen befürchten, dass die Reaktion auf Massenproteste nicht anders ausfällt als in Libyen und Syrien. Seit dem 17. Juni aber fordern die Frauen das Regime heraus. Bei der Aktion „Women2Drive“ übertreten sie das Verbot, sich an das Steuer eines Autos zu setzen. Das mag harmlos klingen, ist jedoch ebenso revolutionär wie die Aktionen schwarzer BürgerrechtlerInnen in den USA Anfang der 60er Jahre, die sich demonstrativ in den für Weiße reservierten Teil von Bussen setzten.

Nach den ersten schnellen Erfolgen tritt die arabische Revolte in eine Phase der Stagnation. In manchen Ländern kann die Freiheit wohl nur in einem revolutionären Krieg erkämpft werden, und die Konterrevolution organisiert sich unter Führung Saudi-Arabiens, des wichtigsten arabischen Verbündeten der westlichen Staaten. Doch eine Rückkehr zur Friedhofsruhe der vergangenen Jahrzehnte ist nunmehr ausgeschlossen. „Wir stehen erst am Anfang“, schrieb Eman al-Nafjan im Saudiwoman’s Weblog. „Sicher ist nur, dass die Araber es satthaben und dass wir nicht nachgeben werden.“

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