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Länder

Indonesien: Kreative Kämpferinnen, 1. Teil

Von Avanti | 01.04.2014

Interview mit Zely Ariane
Unsere indonesische Genossin Zely Ariane war Ende Februar zu Besuch in Deutschland. Bei dieser Gelegenheit hat Avanti sie zur ArbeiterInnenbewegung in Indonesien und hier insbesondere zur Rolle der Arbeiterinnen und ihrer speziellen Arbeitsbedingungen und Kämpfe befragt.
Den zweiten Teil des Interviews mit Zely veröffentlichen wir in der Mai-Ausgabe.

Interview mit Zely Ariane1
Unsere indonesische Genossin Zely Ariane war Ende Februar zu Besuch in Deutschland. Bei dieser Gelegenheit hat Avanti sie zur ArbeiterInnenbewegung in Indonesien und hier insbesondere zur Rolle der Arbeiterinnen und ihrer speziellen Arbeitsbedingungen und Kämpfe befragt.
Den zweiten Teil des Interviews mit Zely veröffentlichen wir in der Mai-Ausgabe.

Indonesien erlebte Ende 2013 eine der größten Bewegungen der ArbeiterInnenklasse seiner jüngeren Geschichte. Was geschah?

Ja, hinsichtlich Umfang und Entschlossenheit der Streikenden war es die bedeutendste Streikbewegung seit der Machtergreifung durch den Diktator Suharto 1966 nach einem Massaker an 500.000 bis einer Million KommunistInnen, Linken und SympathisantInnen.

Der Streik geschah aus verschiedenen Gründen.

Erstens haben die Gewerkschaften begonnen, dem Zeitalter der Billigarbeit massiv den Kampf anzusagen. Sie verlangten die Erhöhung des nationalen Mindestlohns um 50 % in 2013, nachdem sie 2012 eine durchschnittliche Erhöhung von 40 bis 60 % erkämpft hatten. Der nationale Mindestlohn in Indonesien ist der drittniedrigste in Südostasien nach Kambodscha und Myanmar und fast der gleiche wie in Vietnam. In Asien ist er der viertniedrigste nach Pakistan. Der Kampf für die Erhöhung des Mindestlohns findet jedes Jahr statt und zielt ab auf die Beeinflussung der Entscheidung über den nationalen Mindestlohn durch die zentrale Regierung und lokale Behörden im November eines jeden Jahres. Dies ist immer ein wichtiger Kampf. Aber in den letzten zwei Jahren gelang es, eine nationale Kampagne und eine Bewegung aufzubauen.

Zweitens vereinigte der Aufruf zum Generalstreik und dann der Streik selbst fast alle wichtigen Gewerkschaften in Indonesien. Die Barrieren zwischen den verschiedenen Gewerkschaften wurden hierdurch zerbrochen und eine gemeinsame Kampagne aller ArbeiterInnen organisiert. Dies hat zeitweise alle alten Meinungsverschiedenheiten und die Kritik aneinander beiseite geschoben. Und für die klassenkämpferischen Gewerkschaften war es ein wichtiger Moment, den Aufruf der zweitgrößten Gewerkschaft (Indonesian Trade Union Confederation, KSPI) zu unterstützen und mit ihr zusammen zu arbeiten, um den Aufruf zu verbreiten und den Streik landesweit zu organisieren. In nur einem Monat gelang es dem Bündnis (Landesweite Konferenz der ArbeiterInnenbewegung, KNGB), Bewegungen aus 20 Provinzen, 150 Städten und Landkreisen sowie 40 Industriegebieten zusammen zu bringen. Es gibt keine exakten Zahlen vom Streik in 2013, aber es sollen 2,5 Millionen ArbeiterInnen in ganz Indonesien erreicht worden sein.

Ein dritter Faktor war der wachsende Grad der Radikalisierung der Beschäftigten gegen die „Arbeitgeber“ und den Staat. Direkte Aktion und Streik wurden das wesentliche Mittel des Kampfes. Die relative Freiheit gewerkschaftlicher Organisation in Indonesien seit 1998 spielte ebenfalls eine Rolle, auch wenn viele GewerkschaftsaktivistInnen sich Kriminalisierungsversuchen ausgesetzt sahen und einige von ihnen sogar inhaftiert wurden. Auf Betriebsebene wurden tausende von Gewerkschaften gegründet – mehr als 12.000 nach Aussage von Said Iqbal, dem Vorsitzenden von KSPI – hunderte von Branchengewerkschaften und vier Gewerkschaftsbünde. Für 2009 ist bekannt, dass mehr als 8 Millionen oder 9 % aller Arbeitskräfte im formellen Sektor gewerkschaftlich organisiert waren. Es gibt keine aktuelleren Untersuchungen, aber Berichte weisen drauf hin, dass tausende ArbeiterInnen sich in den letzten zwei Jahren den Branchengewerkschaften und Gewerkschaftsbünden angeschlossen oder neue Gewerkschaften gegründet haben.

Welche Rolle spielen die _Arbeiterinnen?

In jeder Gewerkschaft kämpfen sie in vorderster Reihe mit ihren männlichen Kollegen. Arbeitsintensive produzierende Gewerbe, in denen prekäre Arbeitsverträge2 dominieren, wie Elektronik, Schuhfabrikation, Leder, Textilien, Bekleidung, Fahrzeuge, Nahrungsmittel, Getränke und Chemie sind die vorherrschenden industriellen Sektoren in Indonesien. Die ArbeiterInnen sind wichtige KämpferInnen beim Streik für Lohnerhöhung. Frauen überwiegen in allen diesen Bereichen, insbesondere bei Bekleidung und Textilien.

In diesen Sektoren haben die Frauen härter gekämpft – trotz einer Menge von Hindernissen und Belastungen in der Familie und in den Gewerkschaften. Wenn sie spät nach Hause kommen, nach all den Treffen, um den Streik vorzubereiten, dem Verteilen von Flugblättern, dem Organisieren von Diskussionen, den Verhandlungen etc., müssen sie immer noch die ganze Hausarbeit machen. Sie sind entschlossener und zeigen mehr Opferbereitschaft, da sie verstanden haben, dass der Streik wichtig ist. Außerdem ist dies eine Möglichkeit für sie, sich frei zu fühlen, selbstbewusst und frei von häuslichen Lasten – selbst wenn es nur für ein oder zwei Tage ist.

In der Bekleidungs- und Textilindustrie im Industriegebiet Nusantara Bonded Industrial Zone (KBN) in Cakung, Nord-Jakarta, zum Beispiel, wo Frauen mit 95 % die überwältigende Mehrheit der ca. 100.000 Beschäftigten stellen, gibt es nur einen Verband, die Unternehmensübergreifende ArbeiterInnenvereinigung (FBLP), der hauptsä
chlich von Arbeiterinnen geführt und verwaltet wird. Die anderen werden von Männern geführt. FBLP ist der kleinste Verband, verglichen mit den anderen, aber er ist bekannt für seine Entschlossenheit und Militanz bei der Verteidigung der Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter in dem Gebiet. Er ist auch bekannt dafür, der einzige konsequente Gewerkschaftsverband zu sein, frei von Korruption und Bestechung durch die Bosse. FBLP führte die Streiks bei Bekleidung und Textil in dem Gebiet in 2010 und 2013.

Es gibt nur zwei Frauen in Indonesien, die eine Gewerkschaft führen: Jumisih, die Vorsitzende von FBLP, und Nining Elitos, die Vorsitzende von KASBI, eines linken Gewerkschaftsdachverbandes. FBLP ist die einzige Vereinigung, die offen eintritt für und stark involviert ist in die Verteidigung der Rechte von Arbeiterinnen und LGBT3. Zusammen mit Perempuan Mahardhika („Freie Frauen“) setzen sie sich ein für spezifische Frauen- und LGBT-Rechte in Betrieb und Gesellschaft.

Welches sind ihre speziellen Arbeitsbedingungen?

Der Textil- und der Bekleidungssektor sind die Bereiche mit den niedrigsten Löhnen im landesweiten Durchschnitt, da die Tätigkeit dort für gering qualifiziert, arbeitsintensiv und frauendominiert gehalten wird – wobei Frauen immer noch als industrielle Reserve angesehen werden. Ähnlich sieht es bei  Nahrungsmitteln und Getränken aus. Im Zeitalter der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes können wir kaum dauerhafte, „normale“ Arbeitsverhältnisse in diesen Sektoren finden. Nach dem deutlichen Anstieg des nationalen Mindestlohns seit 2012 waren diese ArbeiterInnen die ersten, die die Aussetzung der Lohnerhöhung erlebten. Die indonesische Regierung hat den Bossen in den verarbeitenden Industrien die Möglichkeit gegeben, Lohnerhöhungen auf der Grundlage der so genannten „finanziellen Unfähigkeit zur Vertragserfüllung“ auszusetzen. So bekommen die meisten ArbeiterInnen denselben Betrag wie 2012, obwohl der Mindestlohn sich nacheinander um 40 % und 30 % erhöht hat.

Insbesondere im Industriegebiet KBN Cakung erfahren Arbeiterinnen seit vielen Jahren ein System des Akkordlohns, bei dem die Vorgabezeiten von Bossen und Managern so unrealistisch festgelegt werden, dass am Ende im Grunde automatisch unbezahlte Überstunden zu leisten sind. Die Arbeiterinnen arbeiten so mehr als 48 Stunden pro Woche und machen meist am Wochenende Überstunden, um etwas mehr Geld zum Leben zu erhalten. Sie stehen morgens früher auf und stellen einfaches Gebäck her, das sie im Betrieb verkaufen, manche verkaufen Guthabenkarten für Mobiltelefone. Die meisten der Bank-Karten (vergleichbar EC-Karten) der ArbeiterInnen sind in den Händen von Kredithaien (Geldverleihern), und diese lassen ihnen nur wenige Tausend Rupiah (20 bis 30 Euro von den rund 210 Euro, die sie monatlich bekommen).

In vielen Fällen gibt es keinen bezahlten Mutterschaftsurlaub, oder sie werden sogar entlassen wegen Schwangerschaft und Mutterschaft. Es gibt keinen Menstruationsurlaub, keine Still-Ecke, keine reproduktive Gesundheitsvorsorge, kein sauberes Wasser, saubere Luft, Toiletten etc. Ganz zu schweigen von den Elendsvierteln mit sechs bis zwölf Quadratmeter großen Räumen, wo sie jahrzehntelang sogar mit ihren Familien leben. „Vorteilhaft“ sieht dies allerhöchstens aus verglichen mit den Arbeitsbedingungen in derselben Branche in Europa und den USA im 19. und frühen 20. Jahrhundert.

Wir haben in 2012 eine kleine Umfrage unter den Arbeiterinnen des Industriegebiets KBN Cakung zum Thema sexuelle Gewalt durchgeführt und fanden heraus, dass mindestens jede fünfte Arbeiterin die eine oder andere Form von sexueller Gewalt erlebt hat. Es ist ein offenes Geheimnis, dass die meisten prekär beschäftigten Arbeiterinnen sexuellen Missbrauch erfuhren, wenn sie sich um einen Job bewarben oder wegen der Verlängerung ihres Vertrages vorsprachen. Da das Bewusstsein für Frauenrechte und sexuelle Gewalt in der Leitung und bei den Organisatorinnen der FBLP gewachsen ist, haben sie bald verstanden, dass sie alle ihr ganzes Leben lang sexuelle Gewalt erfahren haben. Manche von ihnen mussten ein Kind gebären, das durch eine Vergewaltigung entstanden ist, und es gibt Opfer von Polygamie ohne legale Heirat, Opfer von häuslicher Gewalt über mehr als 15 Jahre, erzwungene Heirat, Gewalt in gleichgeschlechtlichen Beziehungen etc.
Arbeiterinnen in diesen Fabriken produzieren Dinge, die sie selbst nie kaufen können: Zara, Gap, Old Navy, Victoria Secret, La Senza, PINK, JCP, Kohl’s, C&A, H&M, Express, Mango, Limited, American Eagle Outfit, Under Armour, Juicy Couture, Justice, Adidas, Reebok, Abercrombie & Fitch, Hollister, Gilly Hicks, Walmart.

Fortsetzung folgt.

Die Fragen stellte W.A.
Übersetzung: L.M.


1Zely Ariane ist Mitglied des Nationalen Komitees von Perempuan Mahardhika („Freie Frauen“) und des nationalen Kollektivs von Politik Rakyat („Politik des Volkes“), einer linken indonesischen Organisation mit Beobachterstatus bei der IV. Internationale.

2Prekäre Arbeitsverträge bezeichnen Beschäftigungsverhältnisse, die befristet sind, keine aus Dienstalter abgeleiteten Rechte kennen (Abfindung bei Kündigung etc.) und auch sonst die meisten arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen unterlaufen.

3Abkürzung für Lesbian, Gay, Bisexual und Trans, also Lesben, Schwule, Bisexuelle und Trans.

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