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Innenpolitik

Im Namen des Volkes

Von Philipp Xanthos | 14.01.2012

In Griechenland wurde sie abgesagt, in Baden-Württemberg durchgezogen, von manchen Occupy-Demonstrant­Innen als Heilmittel erhofft: die Volksabstimmung. Sie ist immer etwas Momenthaftes, Außergewöhnliches, was uns unmittelbar vor die Wahl zwischen zwei Alternativen stellt. An dieser Stelle wird die These vertreten, dass Volksabstimmungen wenig mit „direkter“ oder „echter“ Demokratie zu tun haben.

In Griechenland wurde sie abgesagt, in Baden-Württemberg durchgezogen, von manchen Occupy-Demonstrant­Innen als Heilmittel erhofft: die Volksabstimmung. Sie ist immer etwas Momenthaftes, Außergewöhnliches, was uns unmittelbar vor die Wahl zwischen zwei Alternativen stellt. An dieser Stelle wird die These vertreten, dass Volksabstimmungen wenig mit „direkter“ oder „echter“ Demokratie zu tun haben.

Die Volksabstimmung ist von Anfang an ein integraler Bestandteil dieses Ungeheuers gewesen, das wir „Staat“ nennen, ganz gleich, ob sich dieser Staat nun „demokratisch“ nannte oder nicht.
Damals in Rom
Die maßgebliche Institution in der römischen Republik war der Senat. Ihm gehörten die reichsten Männer Roms an, die Patrizier (Großgrundbesitzer), und berieten gemeinsam über die Unterwerfung eines immer größeren Teils der ihnen bekannten Welt. Dies ermöglichte die direkte Ausbeutung der übrigen Bevölkerung (Sklav­Innen, Plebejer, Bauern, Stämme) durch eine einzige herrschende, besitzende Klasse. In dem Maße, wie sich das Imperium ausdehnte, entwickelte sich die römische Armee von einer allgemeinen Miliz zum stehenden Heer. Hiermit bildete sich die Keimform eines neuartigen autonomen Akteurs auf der Bühne der Zivilisation: der von der Gesellschaft getrennte Staat. Die Senatoren als direkte Vertreter der herrschenden Klasse bildeten die „Partei“ der Optimaten. Die Gegenseite, die Popularen, waren nun nicht etwa die Vertreter der niederen Klassen. Denn die Popularen schöpften ihre Macht nicht aus einer Rolle als Vertreter einer Klasse, sondern aus dem Klassengegensatz selbst. Die soziale Basis, die sie hierfür als Manövriermasse ausnutzten, waren die landlosen Plebejer und deren Hass und Misstrauen, aber auch Abhängigkeit, gegenüber den Reichen. Eines der Herrschaftsmittel war das Plebiszit, die Volksabstimmung.
Zu den Popularen ging über, d. h. es holte sich seine Mehrheit in der Volksversammlung, wer sich bei den Optimaten nicht durchsetzen konnte. Ihr berühmtester Vertreter war der Patriziersohn Gaius Julius Caesar. Er machte die römische Republik zu seinem Privateigentum – und gleichzeitig seinen Namen zu einer Amtsbezeichnung. Notwendig hierfür waren erstens einige Millionen Sesterzen und zweitens, als alle Konten überzogen waren, ein Bürgerkrieg. Dieser wurde ermöglicht durch die Befehlsgewalt über ein stehendes Heer, und diese Befehlsgewalt stützte sich auf den Rückhalt in den plebejischen Massen. Denn durch deren Volksabstimmung erhielt Caesar den Oberbefehl über Gallien (58 v. Chr.) und später das Quasi-Mandat, den Senat zu entmachten (Kandidatur „in absentia“, 52 v. Chr.). Caesar im Gegenzug gab den urbanen Massen, was sie wollten. Und das waren vor allem zwei Dinge: zum einen die größten Gladiatorenspiele, die Rom, d. h. die Welt, je gesehen hatte – echte Schlachten mit Tausenden Toten – und zum anderen Kriegsdenkmäler zu Ehren der Unterwerfung der Kimbern und Teutonen. Die Plebejer waren demnach nicht nur ökonomisch, sozial und politisch zu keiner Emanzipation fähig, sondern dazu passend auch moralisch. Die Patrizier konnten Mitte des 1. Jh. v. Chr. ihre Position zur unmittelbaren Machtausübung nicht mehr bewahren, die Plebejer konnten die Macht nicht übernehmen (von den Sklaven ganz zu schweigen). Der Gegensatz von allseitiger politischer Handlungsunfähigkeit bei gleichzeitiger extremer sozialer Spannung fand in den Plebisziten seinen Ausdruck. Vergeblich versuchten Pompeius und Marcellus den Aufstieg Caesars mittels senatischer Gesetze aufzuhalten; doch dieser hatte das Potenzial der sozialen Explosion in der Hinterhand. Was im stehenden Heer angelegt war, wurde im Caesarismus vollendet. Der Staat gründete sich von nun an auf die Kooperation der Masse mit „ihren“ Herrschern und die Disziplin der Soldaten.
Später in der Neuzeit
Der moderne Staat seinerseits konnte und wollte zu seiner Anfangszeit auf keine anderen Begriffe und Bilder zurückgreifen als auf die der Antike. Mit dem Staatsstreich vom 18. Brumaire des Jahres VIII (9. November 1799) wurde der 30jährige Napoleon Bonaparte zum „1. Konsul“, d. h. zum Diktator über das revolutionäre Frankreich. Legitimieren ließ er das im Nachhinein durch eine Volksabstimmung. Eine weitere Volksabstimmung zierte die Krönung zum Kaiser 1804. Der Caesarismus Napoleons ist ebenso wie dessen Plebiszite Ausdruck dessen, dass der Staat als über den sozialen Gegensätzen stehende Macht erscheint. Und gerade in seiner Rolle als „neutrale Instanz“ gewährleistet er seine Herrschaftsfunktion.

Mit drei Volksabstimmungen ließ sich Hitler legitimieren: der Volksabstimmung über den Austritt aus dem Völkerbund (1933), der Volksabstimmung über die Zusammenlegung der Ämter Reichspräsident und Reichskanzler (1934) und der über den Anschluss Österreichs (1938). Voraussetzungen für Hitlers Siege waren u. a. die Zerschlagung der Arbeiter­Innenorganisationen, die moralisch-ideologische Bindung der Masse an das Interesse der faschistischen Herrscher­Innen und eine hieraus resultierende gefühlte Alternativlosigkeit. Die moderne Form der Volksabstimmung folgt daher in ihrer Funktionsweise der antiken. Wenn in der Zukunft die sozialen Konflikte eskalieren und gleichzeitig die bewusste Kampfbereitschaft der Benachteiligten nicht steigt, wird die Idee der Volksabstimmung an Gewicht gewinnen.
Drei Bedingungen
Die Institution Volksabstimmung muss immer in dem konkreten Kontext betrachtet werden, in dem sie als politisches Mittel eingesetzt wird. Unter drei Bedingungen, die im Normalfall erfüllt sind, sind Volksabstimmungen für die Herrschenden im Kapitalismus ungefährlich:
Die erste ist, dass die eigentlichen Spielregeln der bürgerlichen Gesellschaft – Privateigentum an Produktionsmitteln und Warentausch – nicht infrage gestellt, sondern mehr oder weniger stillschweigend vorausgesetzt werden. Damit ist schon jede zur Abstimmung vorgelegte Frage eines möglichen politischen Gehalts beraubt. Politisch im Sinne des Wortes wäre die grundsätzliche Frage, wie die Gesellschaft funktionieren soll. Eine Volksabstimmung z. B. über die gesellschaftliche Kontrolle des Energiesektors ist aus zwei Gründen eine Illusion: Zum einen würden die Eigentümer­Innen der Energiekonzerne niemals eine Enteignung hinnehmen; sie könnten sich also auch vorher schon nicht neutral zu einer solchen Volksabstimmung verhalten. Zum anderen lässt sich eine gesellschaftliche Aneignung der entsprechenden Produktionsmittel nur praktisch vollziehen.

Die zweite erfüllte Bedingung ist, dass die Individuen in der modernen Gesellschaft in hohem Maße selbstauferlegten Zwängen unterliegen. Fremde Ideale wie „Wirtschaftswachstum
“, „Fortschritt“, das „Vaterland“ oder einen Spitzenplatz im internationalen Bildungsranking würde eine passive Mehrheit dem tatsächlichen eigenen Wohlergehen vorziehen. Sie sind die Kriegsdenkmäler von heute. Dasselbe gilt in der Praxis häufig für das Wohlergehen „des Betriebs“, für das die Arbeitenden bereitwillig Einbußen hinnehmen. Wer hingegen die eigene Arbeitskraft als „an sich wertvoll“ betrachtet und einen Streik organisiert, bricht zunächst aus dem allgemeinen Konsens aus. Das wird dann meist als egoistische Geste wahrgenommen, bzw. denunziert (siehe der GDL-Streik 2007). Die Volksabstimmung hingegen versucht, den allgemeinen Konsens zu erzwingen, die Lage zu beruhigen.

Die dritte Bedingung für Volksabstimmungen ist die Atomisierung der Individuen und die hieraus resultierende Handlungsunfähigkeit und Passivität. Dem einzelnen Menschen wird plötzlich eine Frage vorgelegt, die in ihren Auswirkungen sein alltägliches Handeln unendlich weit übertrifft und angesichts der er sich machtlos fühlen muss. Wird dann noch – wie üblich – auf allen medialen Wegen das Fehlen einer Alternative zum gewünschten Ergebnis propagiert, ist klar, wie die Abstimmung ausfällt. Initiator­Innen von Volksabstimmungen versuchen meist, das in der Gesellschaft vorhandene Misstrauen gegenüber Organisationen (Gewerkschaften, Parteien etc.) auszunutzen, indem sie diesen Legitimität absprechen und im Gegenzug den vereinzelten (und das heißt in der Wirklichkeit eben oft auch: unpolitischen) Menschen schmeicheln, um sie für ihre Sache zu gewinnen. Doch das erste demokratische Recht für Ausgebeutete ist die Organisationsfreiheit.
Als der ehemalige griechische Ministerpräsident Papandreou in seinen letzten Amtstagen eine Volksabstimmung über die von der EU verordneten Sparmaßnahmen vorschlug, spekulierte er darauf, dass diese drei Bedingungen weiterhin erfüllt wären. Zu riskant, entschieden seine Gegner­Innen.
Rätedemokratie als Alternative
Nicht in der Repräsentativität des parlamentarischen Systems liegt die Ursache für das erlittene Demokratiedefizit im Kapitalismus, sondern in den oben ausgeführten strukturellen Bedingungen für die Passivität der großen Mehrheit. Dies wird häufig sowohl von anarchistischer Seite als auch von einem verkürzten Antiimperialismus (Attac) verkannt. Doch Institutionalisierung – mit den Momenten Repräsentation und Legalität – ermöglicht auch so etwas wie politisches Handeln und damit eine Form freien und intelligenten menschlichen Ausdrucks. In einem Rätesystem mit jederzeit abwählbaren Delegierten, in denen Betroffene in allen Lebensbereichen – Betrieb, Uni, Schule, Wohnhaus, Stadtteil – gleichberechtigt diskutieren und entscheiden, können nicht nur Atomisierung und selbstauferlegte Zwänge überwunden werden, sondern die „Spielregeln“, d. h. die Eigentumsverhältnisse, neu ausgehandelt werden. Da dies im Gegensatz zur Volksabstimmung kontinuierlich vor sich geht, gibt es den Menschen die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst zu gestalten.

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