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Innenpolitik

Hartz IV aktuell: Anhaltende Armut und Perspektivlosigkeit

Von Walter Weiß | 01.04.2009

Hartz IV wird im fünften Jahr praktiziert, der soziale Widerstand in der Fläche ist verebbt und die Betroffenen führen ein zwischen finanzieller Not und repressiver Arbeitsgemeinschaft (ARGE) eingeengtes menschenunwürdiges Leben.

Hartz IV wird im fünften Jahr praktiziert, der soziale Widerstand in der Fläche ist verebbt und die Betroffenen führen ein zwischen finanzieller Not und repressiver Arbeitsgemeinschaft (ARGE) eingeengtes menschenunwürdiges Leben.

Die sogenannten Tafeln, die kostengünstig oder umsonst Lebensmittel verteilen, stellen in ihrer Entwicklung quasi einen sozialpolitischen Seismographen dar, der die Armutskurve illustriert. Gab es 1994 nur vier solcher Tafeln, waren es vier Jahre später bereits 100. Im Jahr der Einführung der Hartz IV-„Reformen“ 2005 und im letzten Jahr existierten über 800 Tafeln.
Tafeln und Suppenküchen
Sie versorgen circa eine Million Menschen u. a. auch mit gebrauchter Kleidung, Spielzeug, Schulranzen usw. Jede sechste Tafel unterhält zudem eine Suppenküche. Die Lebensmittelspenden erhalten sie u. a. von Großmärk­ten, Supermärkten, Bäckereien etc. Einer der Spender, der gerne auf seinen Großmut hinweist, ist eher durch seine schickanösen Arbeitsbedingungen und die Bespitzelung seiner MitarbeiterInnen bekannt geworden. Da liegt dann auch schon mal das Magazin einer ökologisch orientierten Organisation an der Kasse aus. So sind kapitalistische Ausbeutung und narzisstisches Gutmenschentum oft nur zwei Seiten derselben Medaille!

Dann verwundert es auch nicht, dass die Unternehmens- und Strategieberatungsfirma McKinsey, eine Zitadelle des Neoliberalismus, dieses Sozialmodell favorisiert. Entspricht es doch der Vorstellung vom „schlanken Staat“, der die „Fürsorge“ privatisiert und die „Eigenverantwortung“ stärkt. Die Verschlankung des Staates bezieht sich ausdrücklich nicht auf den Ausbau des Überwachungstaates und die Aufstockung der finanziellen Mittel für die als „Friedensmissionen“ deklarierten Militäreinsätze out of area.

Dabei sollte das ehrenamtliche Engagement von über 30000 Menschen bei den Tafeln nicht diskreditiert werden. Allerdings dürften sie auch manchen sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz ersetzt haben. Und andererseits haben die Betroffenen keine Rechte und Ansprüche. So klagt das Berliner Sozialforum auch richtig „soziale Rechte statt Almosen“ ein. Und Peter Grottian ist zuzustimmen, wenn er die bloße Existenz der Tafeln als sozialpolitischen Skandal wertet.

An das Bild von unzähligen Pfandflaschen sammelnden Menschen haben wir uns gewöhnt. Im Grau unserer anonymen Großstädte sind Menschen, die Abfallkörbe nach Essensresten durchwühlen, auch keine Seltenheit mehr. Ergänzt wird das Ganze durch das „Containern“, also die Suche nach weggeworfenen Lebensmitteln in den entsprechenden Behältern, was rechtspolitisch dann schon mal als Diebstahl gewertet wird. Das erinnert an die Armutsszenarien des 19. Jahrhunderts – im 21. Jahrhundert in einem der reichsten Länder der Welt. Garniert wird das in höchst unappetitlicher Weise von einer Unzahl von Benefizveranstaltungen, bei denen die upper class ihr humanistisches Profil pflegt und sich als der bessere Teil der Menschheit feiert.
Hartz IV light
Das Verhältnis zu den nach dem vorbestraften Wirtschaftskrimiellen Peter Hartz benannten „Reformen“ ist zur Gretchenfrage in der Sozialpolitik geworden. Die Partei Die Linke – Motto: Hartz IV ist Armut per Gesetz! – gerät hier ins Schlingern. Als Reaktion auf ein Papier der Bundestagsfraktion vom Dezember 2008 hatten sich 80 Personen getroffen, die sich als Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Hartz IV konstituierten. Sie soll 500 Personen umfassen. Auf dem Treffen waren sechs Bundestagsabgeordnete anwesend, unter ihnen Klaus Ernst. Das Papier hatte erheblichen Unmut ausgelöst, denn es fordert nur eine Erhöhung des Regelsatzes auf 435 Euro und einige Nachbesserungen. Leistungskürzungen nach unten sollen bei Verweigerung zumutbarer Arbeit möglich sein, es sei denn, die Menschenwürde sei gefährdet. Die Zumutbarkeit wird letztlich von der ARGE definiert, die in der Regel am längeren Hebel sitzt.

Wenn aber die Freiheit der Berufswahl, des Arbeitsplatzes, mitunter der Wohnungswahl nicht mehr gewährleistet sind, die „Sozialkontrolleure“ die Wohnung und das persönliche Umfeld durchforsten dürfen, die finanziellen Verhältnisse bis in den letzten Winkel durchleuchtet werden können und alle gesundheitlichen Unterlagen offenlegt werden, dann kann von Menschenwürde keine Rede mehr sein.

In einem Gastkommentar in der jungen Welt vom 11. 3.2009 verwahrt sich das Mitglied des Parteivorstandes Die Linke, Michael Schlecht, gegen den Vorwurf Peter Grottians einer Vernachlässigung der Rentner, Hartz-IV-BezieherInnen und Geringverdiener. Schlecht weist auch die Behauptung von Wolfgang Fritz Haug zurück, Die Linke habe kein Konzept für die Bewältigung der Krise.
Allein die Forderung nach einer Erhöhung des Regelsatzes auf 435 Euro muss den Betroffenen wie ein blanker Hohn erscheinen. Um eine adäquate Ernährung zu garantieren, müsste der tägliche Ernährungssatz von 3,85 Euro auf 6,37 Euro erhöht werden. Der magere Mobilitätsbetrag von 14,26 Euro müsste um 40 Euro erhöht werden, der Energiekostenbetrag müsste um circa 18 Euro, der für kulturelle Teilhabe um 20 Euro und der für Gesundheit um den gleichen Betrag angehoben werden. Das heißt: Selbst die Forderung nach einer Anhebung auf 500 Euro monatlich ist mehr als bescheiden und wird dem Grundbedarf nicht gerecht. Als konsensfähige politische Forderung ist sie zurzeit aber am vermittelbarsten. Allerdings existieren hinsichtlich des Mindestlohns zumindest unterschiedliche Vorstellungen bei Bundestagsfraktion und Parteivorstand (jungeWelt, 19. März 2009).

Nach einer Studie der Hans Böckler Stiftung teilten 42,7 % der Befragten mit, dass die ARGEN die Mietkosten als unangemessen hoch bezeichnen, obwohl allein 28,4 % der Befragten einen Teil der Miete aus dem Regelsatz mitfinanzieren. Es gibt wohl keine staatliche Institution, deren Bescheide zu über 50 % als fehlerhaft gelten und deren Tun keine abgesicherte Rechtsgrundlage hat. Im Zweifel aber gilt: „Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschenden Klasse“ (Ernst Bloch). Im Zuge der weiteren Parlamentarisierung und dem Streben nach Regierungsfähigkeit ist Die Linke für die Menschen in den Bedarfsgemeinschaften kein Hoffnungsträger. Trotzdem ist die Entwicklung der BAG Hartz IV zu beobachten und sind konkrete Bündnisse vor Ort anzustreben.
Soziale Demagogie
Die Denunziation der Langzeiterwerbslosen erfährt nun eine neue Variante. Nach dem altrömischen Motto „Divide et impera!“ (Teile und herrsche!) hetzen die bürgerlichen Medien die Schwachen gegen die Schwächsten auf. Konzentrierte sich die Hetze (siehe Novemberausgabe 2008 der Avanti) medial direkt auf BezieherInnen des ALG 2, so beschimpfen nun prekär Beschäftigte, die für Hungerl&o
uml;hne arbeiten, z. B. über Sat 1 Erwerbslose vor einem Millionenpublikum als Sozialschmarotzer.

Der Vorsitzende der Jungen Union, Philipp Mißfelder, unrühmlich bekannt geworden durch seinen Vorschlag, 85jährigen eine notwendige Hüftoperation zu verweigern und das Renteneintrittsalter auf 70 zu erhöhen, überraschte mit der Erkenntnis, dass die Erhöhung des Regelsatzes für Kinder unter 14 Jahren einen „Anschub für die Tabak- und Spirituosenindustrie bewirkt“ habe. Dabei entsprechen die „Erhöhungen“ oft nicht einmal dem Preis für eine Packung Zigaretten. Aber die Hegemonie über die Stammtische ist gesichert.

Und immer wieder wird die alte Leier vom steigenden Leistungsmissbrauch – gemeint ist nicht Klaus Zumwinkel und andere Seelenverwandte – wiederholt, obwohl bereits der Arbeitsmarktbericht 2005 (in diesem Jahr legte Superminister Clement seine „Sozialschmarotzerbroschüre“ auf) einen Rückgang der aufgedeckten Sozialmissbrauchsfälle von 290 000 im Jahr 1998 auf 42 000 anno 2005 registrierte (Handelsblatt 13.10.2006).

Die realen Zahlen als Folge der Agenda 2010 werden eher kleinlaut gehandelt. So werden von 4,8 Millionen ALG 2-BezieherInnen nur 2,2 Millionen als Arbeitslose erfasst. Und lediglich 3,4 % aller Ein-Euro-Jobber fanden ein reguläres Beschäftigungsverhältnis. In der Heimat des selbsternannten „Arbeiterführers“ Jürgen Rüttgers gilt jedes vierte Kind als arm. Und nach der Bundestagswahl wird man in der als historisch zu bezeichnenden Krise des gegenwärtigen Kapitalismus den Schwächsten der Schwachen weitere Bürden auferlegen.
Widerstand von unten
Resignation ist fehl am Platz. Die gewaltige und in hohem Maße erfolgreiche Klagewelle bei den Sozialgerichten, die in die Fläche geht, sollte als Erfolg gewertet werden. Andererseits sind die Aktivitäten vor Ort wie die Aktionen um und in der Arge in Köln, die solidarische Begleitung Erwerbsloser durch die Arbeitslosenselbsthilfegruppe Oldenburg und der Kampf gegen die Heizkostenpauschale in Hagen (Ruhr) Exempel eines selbstorganisierten Basiswiderstandes, der multipliziert und vernetzt werden muss. Es ist eine Illusion, das punktuelle und zeitliche begrenzte Mobilisierungen auf nationaler Ebene gleichsam naturwüchsig eine konstante soziale und politische Bewegung hervorbringen. Dazu sind auch die Wunden, die die Agenda 2010 geschlagen hat, zu tief und das Klima der paralysierenden Existenzangst zu groß. Nur der kontinuierliche und langfristige Widerstand vor Ort und in der Region kann das Fundament einer solchen Bewegung sein. Flankiert von einer seriösen Analyse der Krise in einem umfassenden politischen Diskurs.

Die Kritik richtet sich nicht mehr nur gegen die Praktiken des Neoliberalismus, die mitunter nostalgisch den rheinischen Kapitalismus reanimieren möchte, sondern gewinnt immer deutlicher einen antikapitalistischen Grundtenor.

Nach unserem marxistischen Selbstverständnis ist der Mensch für den Menschen das höchste Wesen, der höher steht als alle Profit­interessen. Deshalb arbeiten wir daran, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist (Marx).

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