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RSB4

Grundrisse einer alternativen Gesundheitspolitik

Von Thadeus Pato | 13.02.2006

Zum Beginn
Der folgende Text soll versuchen, skizzenhaft die Grundzüge eines möglichen postkapitalistischen Systems des Umgangs mit Gesundheit und Krankheit zu formulieren. Der Autor ist sich dabei wohl bewusst, dass er, wie alle, dem Diktum von Karl Marx unterliegt, nach dem das herrschende Bewusstsein das der herrschenden ist. Folglich kann es so oder auch ganz anders kommen und es wäre sogar zu hoffen, dass ein zukünftiges Gesundheitssystem, das diesen Namen auch verdient, so weit weg vom heutigen wäre, dass es für uns nicht vorstellbar ist. Nichtsdestotrotz enthebt uns das nicht der Verpflichtung, unsere manchmal sehr allgemeinen Zukunftsvisionen so weit es geht zu konkretisieren. In diesem Sinne ist der vorliegende Essay ein Versuch, der zur weiteren Diskussion anregen soll und sollte nicht als programmatische Äußerung missverstanden werden.

 

Die Medizin besteht aus drei Komponenten:
Erhalten, Verhüten und Heilen
Ausonius

Eins
Bei den vielen Diskussionen, die ich in den letzten Jahrzehnten mit den verschiedensten Menschen zur Frage eines zukünftigen Gesundheitswesens geführt habe, bin ich immer wieder auf die gleiche Schwierigkeit gestoßen. Und zwar die, die sich daraus ergibt, dass selbst sehr (medizin)kritische Geister, ja, selbst marxistisch geschulte Individuen, sich sehr schlecht von dem herrschenden Bewusstsein, in diesem Fall konkret von der Grundvorstellung eines Gesundheitswesens lösen können, wie wir es „gewohnt“ sind.

Wie tief diese Vorstellungen verankert sind, konnte man in den so genannten realsozialistischen Gesellschaften beobachten, die zwar teilweise die Erscheinungsform, nicht jedoch das Wesen der tradierten Systeme änderten und das Ergebnis dieser Änderungen dann als sozialistisches Gesundheitswesen missverstanden.  Darum gilt es zunächst einmal festzustellen, was die grundlegenden Schwachpunkte des vorherrschenden Systems der Krankenversorgung und – soweit vorhanden – die der Krankheitsvorsorge sind, um von diesem Punkt aus etwas Neues entwickeln zu können.

Die Ärzte glauben, ihrem Patienten
sehr viel genützt zu haben, wenn sie
seiner Krankheit einen Namen geben.
Immanuel Kant

Zwei
In erster Linie handelt es sich bei dem heutigen so genannten Gesundheitssystem um einen veritablen Etikettenschwindel. Medizin, wie sie weltweit stattfindet, geht nicht vom Gesundheits-, sondern vom Krankheitsbegriff aus. Die konstituierende Wissenschaft im herrschenden Medizinsystem ist die Pathologie – die Lehre von den Krankheiten. Entsprechend konzentriert sich die Forschung auch auf die Ätiologie  und Pathogenese  von Erkrankungen, deren Definition und schlussendlich deren Diagnostik und Behandlung, allerhöchstens noch ihre Früherkennung. Die eigentlich viel wesentlichere und im Sinne einer wirklichen Gesundheitspolitik Ziel führende Frage nach der Herkunft der Krankheit und Aufrechterhaltung von Gesundheit wird erst seit kurzem gestellt, nämlich im Konzept der Salutogenese, aber diese Fragestellung ist bisher mitnichten ins Bewusstsein der Medizinprofessionellen vorgedrungen. Wir können festhalten: Im heutigen Gesundheitssystem ist von Gesundheit sehr wenig, von Krankheit sehr viel die Rede. Dass die Frage, wer gesund und wer krank ist, dann auch noch über teilweise recht willkürlich gesetzte Normvorgaben beantwortet wird, soll hier nur kurz angemerkt werden. Auf diesen Punkt werden wir noch zurückkommen.

Unser Gesundheits-, oder, wie der Soziologe Niklas Luhmann schreibt, Krankenbehandlungssystem, ist eigentlich noch nicht einmal das letztere, sondern meist ein Krankheitsbehandlungssystem – im Vordergrund steht weder der gesunde noch der kranke Mensch, sondern eine Krankheit, die von den Medizinprofessionellen meistens von der Gesamtperson abstrahiert diagnostiziert und behandelt wird.

Und da wären wir beim nächsten Stichwort. Die Entscheidung, was als gesund, und was als krank zu betrachten ist, trifft schon längst nicht mehr der oder die Betroffene. In den letzten 200 Jahren hat sich ein schleichender Prozess abgespielt, der dazu geführt hat, dass den Menschen langsam aber systematisch die Kompetenz, über gesund oder krank selbst entscheiden zu können, genommen und auf eine Heerschar von Professionellen verlagert wurde, die eine Geheimsprache sprechen, über einen immensen technischen und wissenschaftlichen Apparat verfügen und deren Wort in Sachen Gesundheit und Krankheit Gesetz ist. Diesen Prozess nennt man gemeinhin Medikalisierung.

Das Interessante ist, dass selbst bei den schärfsten Medizinkritikern generell die Existenzberechtigung dieser Kaste von Wissenden nicht in Frage gestellt wird. Dabei gäbe es Anlass genug, an deren Allwissenheit und -macht zu zweifeln.

Nun bekommt man auf diese Feststellung immer wieder das Argument zu hören, es bedürfe ja schließlich eines nicht allgemein verfügbaren Spezialwissens, um als Medizinprofessionelle/r tätig sein zu können, und die Vorstellung vom mündigen Patienten sei insofern eine Fiktion, als eine „Waffengleichheit“ nicht herstellbar sei.

Daran ist etwas Wahres, allerdings nur insofern, als es sich um den kleinen Teil von Gesundheitsproblemen dreht, die die heutige Medizin tatsächlich effektiv zu behandeln versteht. Allerdings ist es ebenso wahr, dass selbst die vorgeblich allwissenden Medizinprofessionellen in den Fällen, die über ihren kleinen Spezialisierungsbereich hinausgehen, nichts anderes tun, als jede/r tun könnte, der des Lesens mächtig ist, nämlich Lehrbuch, Fachzeitschrift o. ä. zu Rate zu ziehen. Mit dem Wissen über eine ganze Reihe von Krankheiten, die sehr verbreitet sind, und mit den Möglichkeiten, sie zu behandeln, ist es außerdem nicht weit her, z. B. beim Gelenkrheumatismus oder bei bestimmten chronischen Nervenerkrankungen. Wissen und Möglichkeiten der behandelnden und diagnostizierenden Medizin werden in der Öffentlichkeit weit überschätzt.

Das soll nun nicht heißen, dass die existierende Medizin überflüssig sei. Aber man sollte sich im Klaren darüber sein, dass das medizinische Wissen immer noch sehr lückenhaft ist, die Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkt (und teilweise kontraproduktiv) sind und deshalb die Ehrfurcht, die dieser Wissenschaft entgegengebracht wird, unberechtigt ist.

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Wie sich körperlich viele für krank halten,
ohne es zu sein, so halten umgekehrt
geistig sich viele für gesund, die es nicht sind.
Lichtenberg

Drei
Was in der gesundheitswissenschaftlichen Diskussion der letzten hundert Jahre immer deutlicher wurde, aber erst durch das Konzept
der Salutogenese von Antonofsky größere Verbreitung erlangte, ist die Erkenntnis, dass die entscheidende Frage nicht ist, wie Krankheit entsteht, sondern, wie Gesundheit erhalten werden kann. Die Forschungen, die von dieser Fragestellung ausgehen, werden allerdings von der Industrie, die stattdessen mit Milliardenaufwand neue Medikamente, Instrumente und Implantate entwickelt, kaum unterstützt – damit ist wenig Profit zu machen.

Und damit wären wir bei dem ersten und wichtigsten Ansatzpunkt für einen anderen Umgang mit Gesundheit und Krankheit und damit für die Schaffung eines wirklichen Gesundheitswesens: Das grundlegende Medizinparadigma, es gehe in erster Linie darum, Krankheit vom Kopf auf die Füße zu stellen. Der herrschende Gesundheitsbegriff geht von einer Definition aus, die technisch gesetzt ist, die sich auf willkürlich gesetzte Normalitätsbegriffe stützt, extrapoliert aus Durchschnittslaborwerten, Durchschnittsgewichtsbestimmungen, Durchschnittsanatomie und Durchschnittsintelligenzquotienten (und Durchschnittswahnvorstellungen – eine Halluzination ist krank, die Gier nach der dritten Milliarde ist gesund). So werden Menschen krank argumentiert und -klassifiziert und laufen ihr Leben lang hinter einem fiktiven Ideal hinterher, zu dem ihnen die Segnungen der modernen Medizin verhelfen sollen – im Extremfall von der Brigittediät über die Fettabsaugung bis hin zum Facelifting und Silikonbusen.

Die meisten der so genannten Vorsorgeuntersuchungen sind nichts anderes als Früherkennungsuntersuchungen.  Das, was in diesem System an Krankheitsvorsorge und Gesundheitsförderung (die es ja durchaus auch gibt) betrieben wird, ist ebenfalls auf diese Fiktion einer idealtypischen „Gesundheit“ bezogen und generiert erneut eine Kaste von Professionellen, von Spezialisten, die auf der Grundlage des geltenden Gesundheits- und Krankheitsbegriffes im besten Fall die schlimmsten durch menschenfeindliche Umwelt- und Gesellschaftspolitik bedingten Gesundheitsrisiken minimieren. Im schlechtesten Fall, und das ist die Regel, sollen sie die gesellschaftlich bedingten Risiken durch individuenbezogene Propagierung und Einübung so genannten gesundheitsförderlichen Verhaltens abpuffern.

Wehre den Anfängen, zu spät wird
die Medizin verabreicht.
Ovidius Naso

Vier
So wäre denn die erste, wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe beim Aufbau einer Gesundheitspolitik, die diesen Namen verdienen würde, eine komplette Umdeutung des Gesundheits- und Krankheitsbegriffes. Dazu gehört, dass das in unserer Gesellschaft vorherrschende Paradigma – dass nämlich Gesundheit und Krankheit individuelles Schicksal sind und damit der individuellen Verantwortung unterliegen – beseitigt wird.

Paradoxerweise ist bekannt und belegt, dass die zahlenmäßig bedeutendsten Erkrankungen, mit denen sich sowohl die Schulmedizin wie auch die so genannten alternativen Medizinrichtungen beschäftigen, sämtlich vorwiegend auf gesellschaftlichen und nicht auf individuellen Phänomenen fußen: Die exponentielle Zunahme an Herz- und Kreislauferkrankungen in den letzten Jahrzehnten beispielsweise wird vom herrschenden Medizinsystem beantwortet mit dem Aufbau von Katheterlabors, Entwicklung von Medikamenten gegen zu hohen Fettspiegel, Eröffnung von herzchirurgischen Kliniken und der Propagierung der Organtransplantation.

Interkulturelle Vergleiche zeigen, dass sie eine direkte Folge der herrschenden Arbeits- und Lebensweise sind. Alle Versuche, diesem Problem auf dem Wege der chirurgischen und medikamentösen Zurichtung des Individuums an diese Verhältnisse zu Leibe zu rücken, haben den grundlegenden Trend nicht umkehren können. Studien belegen dagegen zweifelsfrei, dass die unbestreitbar in den reichen Industrieländern gestiegene Lebenserwartung mitnichten mit dem Einsatz dieser Mittel im Zusammenhang steht, sondern dass die wesentlichen Gründe hierfür in allererster Linie in den verbesserten Lebensbedingungen (Wohnen, Ernährung, Hygiene) zu suchen sind.

Wir brauchen also einen Paradigmenwechsel, der den Fokus auf die gesellschaftlichen Verhältnisse richtet und an die erste Stelle der Gesundheitspolitik die Schaffung gesundheitsförderlicher Lebens- und Arbeitsbedingungen setzt.

Nicht die Medizin als solche verurteilten unsere Vorfahren, sondern den Arztberuf, und vor allem stießen sie sich daran, dass er als Lohngewerbe zum Lebensunterhalt ausgeübt wurde.
Plinius der Ältere

Fünf
Und da wären wir an einem entscheidenden Punkt. Denn eine solche Gesundheitspolitik ist nur als eine gesamtgesellschaftliche, das heißt öffentliche, denkbar. Unser öffentliches Gesundheitswesen, soweit überhaupt noch existent, fristet eine Randexistenz und erschöpft sich zum größten Teil in der Wahrnehmung von (völlig unzureichenden) Kontrollfunktionen betreffend den Rest des zunehmend privatisierten Medizinkonglomerats, das sich Gesundheitswesen nennt. Eine wirkliche öffentliche Gesundheitspolitik setzt voraus, dass zunächst eine gesamtgesellschaftliche Debatte darüber geführt wird, worauf der Schwerpunkt des Mitteleinsatzes zu legen ist, statt geschäftstüchtigen privaten Anbietern oder „unabhängigen“ Forschern an den Universitäten unter dem Vorwand der „Freiheit der Wissenschaft“ es zu überlassen, die angeblichen Prioritäten und Notwendigkeiten zu definieren.

Das heißt konkret, dass der gesamte Bereich der Gesundheitspolitik aus der Profitsphäre herausgenommen werden muss. Nur so kann vermieden werden, dass, wie derzeit die Regel, Entscheidungen für oder gegen die Forschung auf bestimmten Gebieten ausschließlich nach Profitinteresse getroffen werden. Die Frage, auf welchem Gebiet der Forschung und Anwendung die vorhandenen Mittel eingesetzt, bzw. in welchem Umfang der gesellschaftliche Reichtum überhaupt dafür verwendet werden soll, ist statt wie bisher dem Gesetz von Angebot und Nachfrage dem Ergebnis eines kollektiven demokratischen Konsensbildungsprozess zu unterwerfen, dessen Basis das Prinzip des größtmöglichsten Nutzens für die größtmögliche Zahl von Menschen sein muss. Das heißt aber auch, dass alle Komponenten des heutigen medizinisch-industriellen Komplexes entprivatisiert werden müssen. Universitäre wie private Forschung, die Produktion von medizinischen Gütern wie Pharmazeutika, Instrumente, Geräte, Implantate, Heil- und Hilfsmittel, ambulante wie stationäre Behandlungseinrichtungen zur Krankenversorgung müssen in öffentliche Hand überführt werden.

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Sechs
Wie wäre aber dann ein solches System zu organisieren, das an wissenschaftlichen Erkenntnissen über die gesellschaftliche Bedingtheit von Gesundheit und Krankheit orientiert ist und das die Sorge um Gesundheit vor die Sorge um Krankheit stellt? Diese Frage muss auf verschiedenen Ebenen gestellt und beantwortet werden:

Zum einen wäre da die Frage, inwieweit Gesundheitspolitik überhaupt als von anderen Politikbereichen ab
getrennter eigener Bereich zu sehen und zu behandeln ist.

Dann stellt sich die Frage der Verfasstheit, was die Forschungs- und Behandlungsbereiche betrifft. Dabei geht es wesentlich um die Alternative zwischen einem über die Staatsorganisation zentral gesteuerten quasi-Wohlfahrtssystem und einem, das die unmittelbare Steuerung und Mitentscheidung durch die Betroffenen in den Mittelpunkt rückt, das heißt, es müsste näher bestimmt werden, welcher Art die so genannte öffentliche Hand sein soll.

Und schließlich gilt es, die Frage zu beantworten, wie im Konkreten mit dem umgegangen wird, was heute schamhaft verschwiegen wird, dass nämlich ein bestimmter Teil der medizinischen Leistungen nur einem kleinen Teil der Menschen vorbehalten bleibt (und teilweise: vorbehalten bleiben muss) – also der Frage der so genannten Elitemedizin.

 
Licht bringt Gesundheit
Seneca

Sieben
Was die Frage nach Gesundheitspolitik als von anderen gesellschaftlichen Teilbereichen abgegrenztem Bereich betrifft, so entspricht der derzeitige Zustand ziemlich exakt der Aufgabe, die ihr implizit zugemessen wird, nämlich der, die durch die jetzige Art der Gesellschaftsorganisation verursachten Schäden und Risiken zu minimieren – wobei daraus dann in den letzten einhundertfünfzig Jahren ein gigantischer Wirtschaftsbereich geworden ist.  Ein klassischer Reparaturbetrieb also im besten Falle, wobei manche Medizinkritiker sogar davon ausgehen, dass die so genannte moderne Medizin mehr Schäden verursacht als Nutzen stiftet.

Vernünftig wäre es stattdessen, Gesundheitspolitik als Konstante in alle gesellschaftlichen Lebens-, Arbeits- und Produktionsprozesse zu integrieren. Die schüchternen Ansätze, die es hierzu heute schon zum Beispiel in der betrieblichen Gesundheitsförderung gibt, greifen zwar, wie wir gleich sehen werden, ebenfalls zu kurz, zeigen aber zumindest, in welche Richtung es gehen muss.

Es geht nämlich darum, die bestehenden Wissens- und Forschungskapazitäten zu nutzen, um bereits von vorne herein bei allem, was eine Gesellschaft an Aktivitäten betreibt, die Frage danach zu stellen, welche Auswirkungen das in Hinblick auf Gesundheit und Krankheit hat und entsprechend nicht erst im Nachhinein den Medizinbetrieb als Reparatursystem für gesundheitsfeindliche Planungen in Anspruch zu nehmen.

Statt also ein flächendeckendes Rettungssystem (gegen das prinzipiell wohlgemerkt nichts einzuwenden ist) zu installieren, einschließlich unfallchirurgischer Spezialkliniken, um die Folgen des ausufernden Individualverkehrs abzupuffern, wäre eine Verkehrsplanung vonnöten, die ersteren abbaut und kollektive Verkehrssysteme fördert.

Statt der zunehmenden Luftverpestung durch eben diesen Verkehr mit der Entwicklung von Filtersystemen und Klimaanlagen (die ihrerseits wieder die Zahl der Atemwegserkrankungen in die Höhe treiben) Paroli zu bieten, wäre eine Politik der Verkehrsvermeidung zu betreiben, indem beispielsweise durch entsprechende Ansiedlungspolitik die Arbeit zu den Menschen gebracht wird statt umgekehrt.  

Statt die Folgen menschenfeindlicher Arbeitsplatz-, Arbeitszeit- und Arbeitsorganisationsbedingungen durch sekundäre Maßnahmen abzumildern zu versuchen, wäre eine Orientierung dieser Bedingungen an den Prinzipien des Gesundheitsschutzes vonnöten – nicht nur auf dem Gebiet der Ergonomie (auf dem heute schon aus Profitgesichtspunkten Anstrengungen unternommen werden), sondern auch in Bezug auf Stressbedingungen – Akkord, Leistungsdruck, Hierarchie.

Das sind nur einige Beispiele. Entsprechendes lässt sich für die meisten gesellschaftlichen Bereiche formulieren: Soziale Ausgrenzung durch menschenfeindliche Wohnungsbaupolitik zum Beispiel erzeugt Krankheiten und Störungen, deren Behandlung heute des Psychologen und des Sozialarbeiters bedarf, erzeugt Lebenssituationen, besonders im Alter, die dann den Aufbau von gesonderten Anstalten wie Alters- und Pflegeheime notwendig machen, was dann folgerichtig zur weiteren Ausgrenzung und Isolation führt.  Die Entwicklung kollektiver Wohn- und Lebensformen, umgesetzt in eine (im Übrigen dann auch gegenüber der Häuslebau-Manie umweltschonenderen, weil Fläche sparenden) intelligente öffentliche Ansiedlungs- und Wohnungsbaupolitik könnte gewährleisten, dass jede/r sein/ihr Leben auch im Alter im gewohnten Umfeld verbringen und beschließen kann. Damit könnten wir die heute geltende menschenfeindliche Verfahrensweise, alle, die noch nicht oder nicht mehr „richtig funktionieren“, seien es Alte, Kranke, Kinder oder Behinderte, eben „Andere“, in gesonderte Einrichtungen – Kindergärten, Krankenhäuser, Altenheime, Pflegeeinrichtungen, psychiatrische Klinken – zu verbringen, überflüssig machen.  Das zeigen im Kleinen bereits existierende Beispiele wie etwa das so genannte Hundertwasser-Haus in Wien, das in dieser Hinsicht eine mögliche Richtung weist.

Voraussetzung für eine wirkliche Gesundheitspolitik, die mehr ist als Risikomanagement, ist also, sie als eine Querschnittsaufgabe zu begreifen und zu organisieren. Brauchen wir also einen neuen Gesundheitsbegriff, um der Lösung des Problems näher zu kommen?

Reich ist, wer keine Schulden hat.
Glücklich ist, wer ohne Krankheit lebt.
Aus der Mongolei

Acht
Eigentlich bräuchten wir ihn nicht, denn gehen wir von der Definition der Weltgesundheitsorganisation aus, dann ist Gesundheit „der Zustand körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“. Nach dieser Definition ist implizit eigentlich klar, dass eine Gesundheitspolitik, die sich nicht als Querschnittsaufgabe, sondern als gesonderter Arbeitsbereich begreift, nicht dazu geeignet ist, diesen Zustand herzustellen. Denn soziales Wohlbefinden in einer extrem ungleichen, hierarchisch strukturierten, zunehmend individualisierten und damit segregierten Gesellschaft beispielsweise ist schlicht nicht denkbar. Damit wäre logischerweise ein zentraler Ansatz die Beseitigung dieses Zustandes.

Mit dem expliziten Gesundheitsbegriff der WHO verhält es sich so, dass er mit dem impliziten, d.h. dem in dieser Gesellschaft tatsächlich wirkmächtigen, recht wenig zu tun hat. Über 90% des weltweiten Mitteleinsatzes im Gesundheitsbereich dienen der Erkennung und Behandlung, allenfalls noch der Früherkennung und – z.B. auf dem Feld der Impfungen – Prophylaxe individueller Erkrankungen und der Forschung auf diesem Gebiet. Das bedeutet, dass der sozusagen heimliche, unformulierte Gesundheitsbegriff der ist, Gesundheit schlicht als Abwesenheit von Krankheit zu definieren. Und was krank ist, wird von den Medizinprofessionellen definiert – teilweise aus recht vordergründigen Motiven. Teilweise wird es aber auch durch einen Normalitätsbegriff definiert, gegen den beispielsweise Behindertenverbände seit langem kämpfen, die gegen das allgemeine Schema krank-gesund das „Andere“ setzen und darauf bestehen, dass sich auch jemand mit schweren Handicaps durchaus „gesund“ im Sinne der WHO-Definition fühlen kann.

Was folgern wir daraus: Der herrschende imp
lizite Gesundheitsbegriff, der letztendlich auf eine Normierung hinausläuft, ist tief in das Bewusstsein der Gesamtbevölkerung eingedrungen und eine der Aufgaben einer anderen Herangehensweise an Gesundheit und Krankheit wäre es, eine entsprechende Bewusstseinsänderung zu befördern.

Besonders deutlich wird dies in den Extrembereichen wie dem der Eugenik (heute beschönigend Humangenetik genannt) und dem der kosmetischen Chirurgie (heute gerne als ästhetische Chirurgie verkleidet). Im ersteren Falle werden bestimmte Normabweichungen im embryonalen Genom nicht als „anders“, sondern als krank klassifiziert und die Forschungsanstrengungen darauf gerichtet, derartige Abweichungen entweder zu verhindern (durch pränatale Diagnostik und Abtreibung beispielsweise), oder – derzeit noch Zukunftsmusik, aber durchaus nicht Science Fiction – von vorne herein durch entsprechende Techniken möglichst „perfekte“ Wesen zu programmieren.

Im letzteren Fall wird ebenfalls ein „Idealzustand“ postuliert, der dann durch entsprechende Eingriffe hergestellt werden soll. Nun ist unter den herrschenden gesellschaftlichen Bedingungen eine derartige Entwicklung nur logisch, denn unter den Voraussetzungen einer entwickelten Warengesellschaft wird letzten Endes auch der Mensch zur Ware, einschließlich seiner Einzelteile.

Auch hier zeigt sich also, dass eine andere Herangehensweise an Gesundheit und Krankheit ein anderes Verhältnis der Individuen zu sich selbst und untereinander zur Voraussetzung hat. Es wäre nun aber ein vulgärmarxistischer Trugschluss, zu meinen, wenn dem so ist, dann müssten erst die allgemeinen gesellschaftlichen (Macht)verhältnisse umgestürzt werden, bevor an eine Neubestimmung einer Gesundheitspolitik, die eine solche ist, gegangen werden kann. Im Gegenteil: Die Keimformen für eine solche Politik müssen heute gelegt werden – und einige Ansätze gibt es bereits, zum Beispiel in dem oben erwähnten Fall der Behindertenorganisationen.

Das heißt, eine zukünftige Gesellschaft müsste den Gesundheitsbegriff der WHO aufgreifen und im Rahmen eines allgemeinen gesellschaftlichen Diskussionsprozesses für sich definieren, welche Strukturen notwendig sind, um ihn einzulösen. Und das kann nicht nur auf der konkreten Ebene, welche gesundheitspolitischen Maßnahmen im Einzelnen zu treffen wären – einige Beispiele wurden weiter oben genannt –, stattfinden, sondern es muss auch auf der Ebene des Überbaus geschehen.

Also brauchen wir nicht nur einen neuen Begriff von Gesundheit und Krankheit, sondern als Voraussetzung dafür ein neues Bild des Menschen. Und der Erweiterung des WHO-Gesundheitsbegriffes im Sinne des oben gesetzten Postulates wäre dann hinzuzufügen, dass der individuelle Zustand des körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefindens nie als individueller denkbar ist, sondern immer als gesellschaftlicher.

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Unter Gesunden ist der Arzt überflüssig.
Tacitus

Neun
Der Grundgedanke, Gesundheit und Krankheit als gesellschaftliches und nicht als individuelles Phänomen zu begreifen, ist so neu nicht. Bereits die so genannten Sozialhygieniker des 19. Jahrhunderts wie etwa Virchow thematisierten ihn und in Gestalt der Epidemiologie beispielsweise (derzeitiges Beispiel die Maßnahmen gegen die Vogelgrippe) hat er durchaus stellenweise Eingang in die staatliche und suprastaatliche Gesundheitspolitik gefunden. Der englische Medizinsoziologe Mc Keown wies schlagend nach, dass die Anstrengungen der Individualmedizin zur Bekämpfung der wesentlichen gefährlichen Massenerkrankungen der letzten einhundertfünfzig Jahre am wenigsten beigetragen haben.

Diese Erkenntnis hat sich allerdings mitnichten in der real existierenden Gesundheitspolitik durchgesetzt – weder in den kapitalistischen noch in den nichtkapitalistischen Gesellschaften. Am Beispiel der nichtkapitalistischen Parteidiktaturen des ehemaligen Ostblocks, Chinas und Kubas lässt sich zeigen, wie tief die Vorstellung von Gesundheit und Krankheit als individuenzentriertes Konstrukt im Bewusstsein verankert war bzw. ist. Die Fortschritte des „Gesundheitswesens“ wurden auch dort vorwiegend im Ausbau der individuellen Krankheitsversorgung – Krankenhäuser, Polikliniken, Pharmaforschung etc. – gesehen, auch wenn, zum Beispiel in Bereichen wie dem Mutterschutz, durchaus Ansätze in eine andere Richtung zu beobachten waren. Hinzukommt, dass die bürokratisch zentralisierte Planung eine wirkliche gesamtgesellschaftliche Debatte und damit die Grundvoraussetzung für eine kollektive Umdeutung des Gesundheits- und Krankheitsparadigmas verunmöglichte. 

Auch in diesen Gesellschaften monopolisierte eine Kaste von „Wissenden“ nicht nur das Wissen selbst, sondern auch die Diskussion darüber, welche Maßnahmen sinnvoll oder nicht sinnvoll sind. Diese Erfahrungen müssen in die Überlegungen über eine zukünftige Gesundheitspolitik, insbesondere ihre Strukturen betreffend, einfließen.

 
Wie die Ratten die gefüllten Speicher heimsuchen,
so auch die Krankheiten die überfütterten Menschen.
Diogenes

Zehn
Es ist hier nicht der Platz, um den Grundgedanken von Gesundheitspolitik als öffentlich und kollektiv zu diskutierende Querschnittsaufgabe auf alle Bereiche des täglichen Lebens herunterzubrechen. Aber wir wollen uns einmal ein Beispiel herausgreifen, um deutlich zu machen, was konkret dabei herauskommen könnte.

Eine wesentliche Grundlage für die Förderung von kollektiver Gesundheit ist die Ernährung. In der BRD ist es heute theoretisch (im Gegensatz zum größten Teil der restlichen Welt) durchaus möglich, sich gesund und ausgewogen zu ernähren – vorausgesetzt, man hat das Geld dazu und das entsprechende Bewusstsein bzw. Wissen. Allerdings gibt es eine Unmenge von im besten Fall überflüssigen, im schlechtesten gesundheitsschädlichen Lebensmitteln. Gesundheitsschädlich sind viele davon nicht nur im engeren Sinne, nämlich für die Konsumenten, weil sie etwa per se krankmachend sind (vom wieder in Mode gekommenen Absinth bis zu den mit Acrylamid verseuchten Pommes Frites) oder weil sie beispielsweise mit Pestiziden, Insektiziden, Konservierungsmitteln, Radioaktivität oder chemischen Beimengungen versehen sind.

Gesundheitsschädlich ist ein Teil davon auch, weil ihre Produktion unter die Produzenten krankmachenden Bedingungen geschieht oder weil die – zentralisierten – Produktionsstätten entsprechende Auswirkungen auf die Umwelt haben.  Aber es gibt noch einen weiteren Punkt: Die überall und ganzjährige Verfügbarmachung sämtlicher denkbarer Produkte führt einerseits zum genannten Einsatz von entsprechenden Stoffen zur Haltbarmachung etc., andererseits erzeugt sie in ungeheurem Ausmaß Verkehr, der in mehrerlei Hinsicht gesundheitspolitisch desaströs ist – von der Klimaveränderung auf der allgemeinsten Ebene über den Landschaftsverbrauch bis
hin zum Verkehrstoten und Lärmgeschädigten auf der konkreten. Damit entsteht die paradoxe Situation, dass ein vorgeblich gesundheitsförderlicher Ansatz, nämlich gesunde Lebensmittel für alle ganzjährig verfügbar zu machen, sich bei konkreter Betrachtung ins Gegenteil verkehrt: Die Konsumenten bekommen bedenkliche Ware, die Produzenten, beispielsweise auf den Bananenplantagen Mittelamerikas, vergiften sich mit Chemikalien, Kleinbauern wird die Lebensgrundlage entzogen und mit dem zunehmenden Verkehr und seinen Auswirkungen auf das globale Klima  kommt der nächste Hurrikan bestimmt.

Unser Beispiel zeigt, dass diese Ernährungsm(eth)ode global wie lokal gesehen nicht gesund ist – und zwar für alle Beteiligten, vom Produzenten bis zum Konsumenten. Die gesundheitliche Gesamtbilanz wird negativ ausfallen. Es muss also in diesem Zusammenhang regional darüber diskutiert werden, in welchem Umfang welche Lebensmittel wie produziert werden sollen und dürfen, wie Transport und Überausbeutung lokaler natürlicher Ressourcen (Wasser, Boden) durch regionale Produktion und regionalen Vertrieb vermieden werden können, und welche Produktionsmethoden und -bedingungen zu ändern wären.  Das hieße dann, die Frage, welcher Bauer welche Lebensmittel für welchen Markt produziert, welcher Verarbeitungsbetrieb wie was wohin liefert und welche Produktionsstrukturen zu schaffen sind, nicht mehr dem Belieben des Einzelnen oder einer Gruppe  zu überlassen.

Bildung ist eine Form des Zugangs zur Welt,
die das Gegenstück zur Lebenspraxis ist, über
die in den traditionellen Gesellschaften eine
Identität ausgebildet wird.
Günter Dux

Elf
Entsprechendes wäre für alle gesellschaftlichen Teilbereiche zu formulieren, wie wir es weiter oben bereits ansatzweise für die Wohnungspolitik getan haben. Zwei grundlegende Voraussetzungen müssen allerdings geschaffen werden, damit ein solcher Prozess der Umsteuerung in Gang gebracht werden kann. Die eine davon ist auf Weltebene bereits erreicht: Der Zustand des gesellschaftlichen Reichtums. Der Globus ist in der Lage, aufgrund des heutigen Standes der Produktivkräfte genug zu produzieren, um alle Grundbedürfnisse aller zu befriedigen – es geht aktuell eigentlich nur noch um eine gerechte und der Gesundheit zuträgliche  Verteilung.

Die zweite Voraussetzung wäre ein System verallgemeinerter Bildung, die die Menschen in die Lage versetzt, autonom und verantwortlich gemeinsam darüber zu entscheiden, wie zum Beispiel mit Produktion und Distribution von Nahrungsmitteln zu verfahren ist.

Demokratische Entscheidungsfähigkeit setzt Bildung voraus – und somit ist die Bildungspolitik ebenfalls ein Bereich, der in die „Querschnittaufgabe“ Gesundheitsförderung einzubeziehen ist. Heutige Gesundheitsförderung, soweit sie überhaupt betrieben wird, ist in erster Linie individuenbezogen, d.h., sie stellt darauf ab, nicht nur dem Individuum zu suggerieren, dass es selbst und allein für seine Gesundheit und -erhaltung verantwortlich ist, sondern sie hat im heutigen System auch zur Folge, dass sich auf dieser Grundlage zum einen wieder eine Heerschar von Spezialisten herausbildet (die die Kompetenz und Deutungsmacht für die Gesundheitsförderung für sich reklamieren), zum anderen, dass eine neue Gesundheitsindustrie die abstrusesten Artefakte für diese individuellen „Gesundheitsanstrengungen“ auf den Markt wirft – vom Hometrainer bis zum Stock fürs Nordic Walking.

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Kein kranker Mensch genießt die Welt
Johann Wolfgang Goethe

Zwölf
Setzt man das eben Gesagte auf das heutige politische System um, so würde es bedeuten, dass öffentliche Gesundheitsförderung in Zukunft nicht mehr ein gesonderter Politikbereich wäre, sondern dass sie als Konstante in jedem Politikbereich, ob nun Verkehr, Wohnungsbau, Industrieansiedlung, Energiepolitik, Agrarwirtschaft, als wesentlicher Entscheidungsparameter präsent wäre. Nun gibt es in verkrüppelter, d. h. systemimmanenter Form Versatzstücke durchaus auch schon heute. So zum Beispiel die so genannten Umweltverträglichkeitsprüfungen bei bestimmten Projekten, und es werden auch von verschiedenen Seiten analog dazu
Gesundheitsverträglichkeitsprüfungen gefordert. Allerdings geht es dabei erstens in der Regel um Ort und/oder Art der Produktion/der Bauten und was dabei herauskommt, sind bestimmte Auflagen, allenfalls wird noch das St. Florians-Prinzip angewendet und statt hier eben anderswo gebaut, produziert oder abgezapft. Zweitens wird die Sinnhaftigkeit des jeweiligen Produkts selbst praktisch nie in Frage gestellt. So kann es zwar geschehen, dass ein Aluminiumwerk andere Filteranlagen einbauen oder seinen Produktionsstandort verlagern muss, über die Frage der grundsätzlichen Notwendigkeit einer derart schmutzigen Technologie wird jedoch kein Wort verloren.

Wesentlich wäre jedoch, diese Fragen von der Expertenebene herunterzuholen und in der Form direkter Demokratie vor Ort, d. h. in den betroffenen Regionen, zu entscheiden. Konkret gesprochen: Die Frage, ob in Costa Rica unter unsäglichen Arbeitsbedingungen mit massivem Pestizideinsatz und entsprechender Exposition von Arbeitern und Umgebung für den europäischen Markt Bananen produziert werden sollen, muss von den Bewohnern der entsprechenden Region entschieden werden – ohne dass sie dadurch vor die Alternative „Gift oder Hunger“ gestellt werden.

Dreizehn
Natürlich kann eine vernünftige, d. h. gesundheitsförderliche, basisdemokratische gesellschaftliche Planung nicht sämtliche Gesundheitsrisiken beseitigen, und schon gar nicht bei einem gewissen Prozentsatz der Menschen angeborene oder erworbene Handicaps, die der Hilfe von Medizinprofessionellen bedürfen.  Aber sie kann einen großen Teil des heutigen überdimensionierten Medizinapparates schlicht überflüssig machen.

Trotzdem werden auch in einem im Grundsatz gesundheitsförderlich ausgerichteten Gemeinwesen die Menschen über einen Stein stolpern und sich den Knöchel brechen, sie werden im Alter inkontinent werden, einen Kaiserschnitt benötigen, unter einer behandlungsbedürftigen Zuckererkrankung leiden oder einen Herzinfarkt bekommen.

Schwere Unfälle wird es mit der Beseitigung des Individualverkehrs viel seltener geben, aber es wird sie geben, der Bluthochdruck und seine Folgen wird mit Abbau von Stressfaktoren und vernünftiger Ernährung als Massenkrankheit zurückgehen, aber es wird ihn weiter geben. Folgerichtig wird es wie in der gesamten Menschheitsgeschichte auch in einer solchen Gesellschaft weiter Medizinprofessionelle geben (müssen), die sich mit diesen Problemen auf der individuellen Ebene befassen und Einrichtungen, in denen geforscht, gelehrt und behandelt wird.

Die Frage bleibt, wie diese dann zu organisieren wären und wer die Schwerpunktsetzung, die Ausformung und den Zugang zu diesem Bereich bestimmt.

Welcher Arzt kann seine
Patienten im

Vorübergehen behandeln?
Seneca

Vierzehn
Was die Frage der Organisierung betrifft, so ist diese relativ konkret abzuhandeln – und es gibt auch kleine Ansätze im internationalen Vergleich der heute existierenden Systeme, deren Betrachtung hierbei hilfreich sein kann. Entgegen dem heute grassierenden Wildwuchs von einzeln, in kleinen Gruppenpraxen, großen und kleinen privaten und öffentlichen Kliniken arbeitenden Medizinprofessionellen, die sich zunehmend nach dem Markt ausrichten , wäre eine breite gesellschaftliche Planung nach den Prinzipien der medizinischen Notwendigkeit und der Erreichbarkeit im Sinne einer abgestuften regionalen Versorgung zu installieren. Entgegen der Tendenz, die Flächenversorgung zugunsten großer (im Sinne des Prinzips der Gewinnmaximierung effektiver, aber nicht unbedingt medizinisch besser arbeitender) Einheiten auszudünnen, wären entsprechend der Bevölkerungsdichte und einer zu definierenden Maximalentfernung abgestufte Versorgungseinrichtungen aufzubauen. Eine Trennung von so genannter stationärer und ambulanter Versorgung dürfte es ebenso wenig geben wie die heutige Trennung von behandelnder und vorsorgender Gesundheitsfürsorge. Ein Netz von ambulanten Versorgungszentren, die Mediziner aller Richtungen, Psychologen, Gesundheitserzieher, Krankengymnasten etc. gleichberechtigt integrieren, gekoppelt mit einem abgestuften System von stationären Einrichtungen, finanziert aus öffentlichen Mitteln, mit festen Gehältern und unter Kontrolle der regionalen Bevölkerung, würde den heutigen Wildwuchs ersetzen.

Dabei sollte man sich dieses im Gegensatz zu heute nicht so vorstellen, dass die Frage ambulante oder stationäre Behandlung sich grundsätzlich alternativ stellt. Die Grenzen werden durchlässig sein, es kann durchaus sein, dass ein Kranker nachts in der Einrichtung und tags zuhause ist oder umgekehrt, dass der Spezialist aus dem Krankenhaus einen Hausbesuch macht oder der Psychologe oder Arzt aus dem Ambulatorium in ersterem mitarbeitet, wenn es nötig ist, weil beispielsweise einer seiner Betreuten dort ist.

Nun stellt sich dabei erstens die Frage, ob eine effektive Kontrolle über einen so hoch spezialisierten Bereich möglich ist und zum zweiten, wie diese Kontrolle ausgeübt werden soll.

Ein Beispiel aus dem kubanischen System: Jede Behandlungseinrichtung hat einen festgelegten Versorgungsauftrag. Das heißt, dass wenn ein Fall behandelt wird, der über diesen Auftrag hinausgeht (für den also potentiell diese Einrichtung nicht kompetent und/oder technisch ausgrüstet ist), sofort eine Kommission in Tätigkeit tritt, die nachfragt, warum es nicht möglich war, den betreffenden Patienten in ein entsprechend ausgelegtes Zentrum zu verlegen. Wohlgemerkt geschieht das nicht nur – wie hierzulande üblich – wenn etwas schief gegangen ist, sondern grundsätzlich.

Dieses Prinzip wäre geeignet, Kontrollmechanismen zu installieren, die ein System der abgestuften Versorgung praktikabel machen. Die Kontrolle wiederum sollte allerdings nicht, wie in Kuba üblich, zentralisiert erfolgen (wobei man die Bevölkerungszahl in Rechnung stellen muss, die dort mit 11 Millionen einem Bundesland in der BRD entspricht), sondern regional. Und die Kontrollfunktionen sollten von einem Komitee von gewählten – und absetzbaren – Bürgern wahrgenommen werden, die von entsprechenden Fachleuten unterstützt werden.

Und da wären wir beim nächsten Grundsatz: Die Behandler in den Versorgungseinrichtungen sollten ebenfalls öffentlicher Kontrolle unterliegen, ihr Amt sollte ein Wahlamt sein und sie sollten dementsprechend auch von den Bewohnern ihres Einzugsbereiches absetzbar sein. Das würde Zustände verhindern helfen, wie sie heutzutage in manchen Gegenden herrschen, wo inkompetente Ärzte die Leute dazu zwingen, weite Wege zum nächsten Arzt oder Krankenhaus in Kauf zu nehmen.

Und sage niemand, es könnten die Betroffenen nicht zwischen einem guten und einem schlechten Gesundheitsarbeiter unterscheiden. Denn dieser würde ja in einem solchen System nicht nur als Behandler im engeren Sinne (s. o.), sondern auch als Lehrer, Berater und Planer in Erscheinung treten.

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Dem Arzt verzeiht, denn doch einmal
Lebt er mit seinen Kindern
Die Krankheit ist sein Kapital
Wer wollte das vermindern.
J.W. Goethe

Fünfzehn
Das grundlegende Prinzip, von dem der (dann erheblich kleinere) Bereich der forschenden und behandelnden Medizin bestimmt werden muss, wird in den Sonntagsreden der heutigen Gesundheitspolitiker von Ex-Gesundheitsminister Seehofer bis zum Ärztekammerpräsidenten Hoppe immer wieder beschworen: Jede/r muss den gleichen und freien Zugang zu allen notwendigen Gesundheitsleistungen erhalten. Dass die Realität anders aussieht, ist ebenso bekannt.

Wie wäre es, den Satz einmal umzudrehen? Gesundheitsleistungen, die nicht für jede/n potentiell erreichbar sind, sind grundsätzlich abzulehnen oder zumindest hintanzustellen.

Dementsprechend wäre auch mit der Forschung zu verfahren. Die heute beschworene „Freiheit der Wissenschaft“ ist eine Fiktion, mit der Auftragsforschung zugunsten entweder direkt des eigenen Geldbeutels oder von Drittmitteleinwerbung aus der Industrie gerechtfertigt wird. Forschung und Lehre in einem zukünftigen Medizinsystem sollten ausgerichtet werden nach den Ergebnissen öffentlicher Debatten über die grundlegenden Gesundheits- und Krankheitsprobleme der Gesellschaft. Allein mit diesem Verfahren würden sich Diskussionen über bestimmte Auswüchse der Ersatzteilmedizin von selbst erledigen. Gleichzeitig könnten auf diesem Wege die Forschungsinstitutionen endlich auch in Bereichen arbeiten, für die sich die Industrie mangels Profitaussichten bis heute weigert, Gelder zur Verfügung zu stellen.

Selbstverständlich würde es auch keine Patentrechte mehr geben:

Forschungsergebnisse und –zwischenergebnisse würden regelmäßig veröffentlicht, Wettstreit zwischen verschiedenen Institutionen fände nicht mehr hinter der Mauer von Betriebsgeheimnissen statt und periodisch sich wiederholende Skandale wie der jüngste in Korea, wo die international hochgejubelten Durchbrüche eines Genforschers sich als pure Erfindung erwiesen, wären ebenso damit zu verhindern wie die derzeit regelhaft vorkommenden Wettläufe um das gleiche Ergebnis, wie es beispielsweise bei der Entzifferung des menschlichen Genoms der Fall war.  Die unglaubliche Ressourcenverschwendung, die bei solchen Gelegenheiten stattfindet, könnte mit der Abschaffung des Patentrechtes und der Verpflichtung zu völliger Transparenz beendet werden.

Forschung und Entwicklung müssen also als komplett öffentliche und öffentlich kontrollierte Veranstaltung stattfinden. Und sie müssen darauf ausgelegt sein, dass ihre Ergebnisse dazu geeignet sind, grundsätzlich allen, die ihrer bedürfen, zugänglich gemacht zu werden. Das betrifft beispielsweise Bereiche wie die Organtransplantation, wo von vo
rne herein klar ist, dass die Anwendung dieser Techniken heutzutage eine Selektion voraussetzt, also den größten Teil der potentiellen Empfänger von ihren Möglichkeiten ausschließt und damit der Willkür Tür und Tor öffnet.

Sechzehn
Fassen wir zusammen: Was wir in einem zukünftigen System der Absicherung gegen Krankheitsrisiken und zur Erhaltung von Gesundheit zuvörderst brauchen, ist Folgendes:

Ein neuer Begriff von Gesundheit, der mehr auf die individuelle Befindlichkeit abstellt als auf schematisch gesetzte Normierungen, der die Deutungsmacht nicht mehr einer Kaste von Wissenden überlässt und der Krankheit nicht generell als Abweichung von einer technisch ermittelten und dann gesellschaftlich propagierten Idealnorm definiert – und der nicht zuletzt die Unterscheidung zwischen gesund und krank tendenziell aufhebt im Sinne der Erkenntnis, dass beides unterschiedliche Erscheinungsformen einer wesenhaft gleichen Realität sind.

Eine völlig andere Schwerpunktsetzung beim Ressourceneinsatz in Forschung und Anwendung, weg von der Beschäftigung mit Krankheit, hin zur Beschäftigung mit den Möglichkeiten von Gesundheitsvorsorge und -förderung.

Gesundheitspolitik nicht als gesonderter Politikbereich, sondern als Konstante in allen Teilbereichen, um Gesundheitspolitik vom Reparaturbetrieb zum Motor für eine gesundheitsförderliche materielle und soziale Umwelt zu machen.

Eine gesellschaftliche, basisdemokratische Kontrolle von Forschung und Anwendung einschließlich kompletter Entprivatisierung des gesamten medizinisch-industriellen Komplexes.


Nachrede
Der größte Irrtum, den man begehen kann, ist, zu meinen, dass eine derartig weitgehende Umwälzung auf dem Wege einer administrativen Änderung stattfinden könnte oder auch nur durch eine solche quasi automatisch ausgelöst würde – das wäre zutiefst undialektisch. Würde man heute den gesamten Medizinbetrieb verstaatlichen, so würde sich am Umgang der Menschen mit Gesundheit und Krankheit erst einmal wenig ändern. Der notwendige Bewusstseinswandel, der die obigen Überlegungen erst wirkmächtig werden lassen kann, wird ein lang andauernder Prozess sein. Aber es gilt, diesen Prozess anzustoßen, zu befördern und gleichzeitig bei sich selbst damit zu beginnen.

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