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Griechenlands Widerstand gegen den freien Fall in den Abgrund

Von Andreas Kloke (Athen) | 21.03.2012

Seit dem 12. Februar ist das Memorandum Nr. 2 durch eine Abstimmung im griechischen Parlament Realität. 199 Abgeordnete hauptsächlich der Regierungsparteien PASOK und ND entschlossen sich, die Interessen der griechischen Bevölkerung, der arbeitenden und der jungen Menschen, aber vor allem auch der kommenden Generationen, restlos auszuverkaufen und das Land der Diktatur der Troika, also des internationalen Banken- und Finanzkapitals, auszuliefern.

Seit dem 12. Februar ist das Memorandum Nr. 2 durch eine Abstimmung im griechischen Parlament Realität. 199 Abgeordnete hauptsächlich der Regierungsparteien PASOK und ND entschlossen sich, die Interessen der griechischen Bevölkerung, der arbeitenden und der jungen Menschen, aber vor allem auch der kommenden Generationen, restlos auszuverkaufen und das Land der Diktatur der Troika, also des internationalen Banken- und Finanzkapitals, auszuliefern.

Die einheimische herrschende Klasse und ihre Handlanger in Regierung und Parlament hoffen auf diese Weise, ihre Rolle als Juniorpartner in EU und Eurozone zu behaupten und durch die Unterwerfung und Verelendung des Proletariats und der bisherigen so genannten Mittelschichten ihre Position zu zementieren und dauerhaft abzusichern. Sie bauen dabei darauf, dass es dem sozialen Widerstand und der Arbeiter/innen-Bewegung trotz einer ganzen Serie von Generalstreiks und Mobilisierungen in den letzten beiden Jahren, mit den Höhepunkten der Besetzung des Syntagma-Platzes vor dem Parlament im Juni und dem zweitägigen Streik vom 19. und 20. Oktober 2011 mit rund 500 000 Demonstrierenden allein in Athen, bisher nicht gelungen ist, die gegen Regierung, Kapital und Troika gerichteten Aktionen entscheidend zu verbreitern und zu zentralisieren. Daher konnte die – in zynischer Weise und unter Verhöhnung jeder inhaltlich bedeutenden Vorstellung des Begriffs „Demokratie“  – vorangetriebene Memoranden-Politik noch nicht zu Fall gebracht werden. 
Parlamentarische Fixierung
Zu den wichtigsten Faktoren, die die Katastrophe dieser seit zwei Jahren betriebenen Politik möglich gemacht haben, zählen: die seit Jahrzehnten vorherrschende Bürokratisierung der Gewerkschaften unter PASOK-Regie, die Spaltung der Bewegung durch die extrem sektiererisch agierende und gleichzeitig zutiefst reformistische Kommunistische Partei KKE, die anhaltende parlamentarische Fixierung von KKE und der anderen reformistischen Linksallianz SYRIZA und die trotz des wichtigsten Ansatzes einer Vereinheitlichung durch ANTARSYA fortgesetzte weitgehende Zersplitterung der antikapitalistischen und revolutionären Kräfte sowie ein oft hilfloser, gewaltbereiter Aktionismus auf der Straße.

Das Memorandum Nr. 2 wird ein beispielloses Absacken der allgemeinen Lebensverhältnisse und de facto die Auflösung der griechischen Gesellschaft, wie sie sich in den letzten Jahrzehnten herausgebildet hat, mit sich bringen. Die Arbeitslosenzahl liegt jetzt schon bei über 20 %, in absoluten Zahlen über einer Million, die Rezession lag 2011 bei über 7 % und wird auch 2012 wieder diese Rekordhöhe erreichen, gleichzeitig werden dem Land immer höhere Schuldenlasten aufgebürdet, die bereits jetzt seinen Ruin bedeuten. Eine Perspektive auf eine vorübergehende Abschwächung der systematischen Verelendungspolitik oder eine noch so winzige Hoffnung auf einen ökonomischen Aufschwung werden von der Troika vom Tisch gefegt. Das Land wird der angeblichen Stabilisierung des Euro und den sakrosankten Bankenprofiten geopfert, Menschenschicksale spielen in der heutigen EU und Eurozone keine Rolle mehr, der Mammon regiert ungehemmt und geht buchstäblich über Leichen. Zerstörung und Verfall sind die (nicht so) neuen Markenzeichen der kapitalistischen und imperialistischen Institutionen EU und Eurozone. Was in Griechenland vorexerziert wird, ist das Startzeichen des allgemeinen Angriffs des Großkapitals auf die Lebensbedingungen und die in über einem Jahrhundert erkämpften Rechte der Arbeitenden in allen EU-Ländern.   
Der Widerstand vom Sonntag, 12.2.  
Dieser ungeheure Verrat der einheimischen „politischen Elite“ spielt sich offen vor den Augen der betroffenen und in bloße Objekte der Ausplünderung verwandelten Menschen ab und ruft immer wieder entsprechende Reaktionen hervor. Am Sonntag, dem 12. Februar, dem Tag der Abstimmung und des Ausverkaufs, versammelten sich Hunderttausende, die Schätzungen schwanken zwischen 500 000 und einer Million, im Athener Zentrum, um gegen ihre Degradierung und die Vernichtung ihrer Lebensperspektive sowie der minimalsten Voraussetzungen einer am Gemeinwohl orientierten Gesellschaft zu protestieren. Die Polizei ging wie gewohnt in brutaler Weise gegen die Demonstrierenden vor und deckte die auf dem Syntagma-Platz Versammelten permanent mit ihren Chemie-Geschossen ein. Sie versuchte dadurch, den Platz zu räumen, bevor der Großteil der Demonstrierenden im Zentrum angekommen war.

Aber der Heroismus der vor dem Parlament ausharrenden Protestierenden verhinderte diese Absicht, und die Wut eines beträchtlichen Teils der Athener Bevölkerung konnte stundenlang, vor allem zwischen 17 und 22.30 Uhr, zum Ausdruck kommen. Wie üblich, lieferten sich schwarz gekleidete Vermummte an verschiedenen Punkten der Innenstadt mit Molotow-Cocktails etc. Scharmützel mit der Polizei. Dort, wo der Großteil der Demonstrierenden von der Polizei zurückgedrängt wurde und dadurch „Leerzonen“ entstanden, tauchten plötzlich Gruppen von Vermummten auf, die verschiedene, teils historische Gebäude in Brand setzten. Ob es sich um Aktionen bezahlter Polizei-Mitarbeiter oder authentisch autonomer Gruppen handelte, bleibt ungeklärt.

Zwei PAME-Blöcke unter Führung von KKE hielten sich, wie immer von den übrigen Demonstrierenden strikt getrennt, in sicherer Entfernung von den Brennpunkten vor dem Parlament und setzten damit ihre Tradition fort, keinesfalls mit der Polizei aneinanderzugeraten. Dieses Auftreten von PAME ist zwar das gewohnte Bild, löst aber trotzdem mit seinem konsequenten Legalismus und seiner Ablehnung jeder einheitlichen Aktion immer wieder Erstaunen aus. Die Frage, wie der Widerstand fortgesetzt werden und seine Ziele erreichen kann, ist nicht leicht zu beantworten. Der Aufruf zu einem unbefristeten Generalstreik mag notwendig sein, kann aber in der gegenwärtigen Phase die Bündelung der Aktionen vielleicht noch nicht gewährleisten. Klar ist nur, dass die ökonomische, politische und soziale Krise ihrem Siedepunkt entgegensteuert und die Spannungen nach einem Ausweg suchen, der mit der kapitalistischen Ausbeuterordnung unvereinbar und nach den Spielregeln der völlig diskreditierten parlamentarischen Demokratie und ihrer Regierungen nicht zu gewährleisten ist. Dieser Ausweg kann sich nur über die Selbstorganisierung der Arbeitenden in den Unternehmen, der Menschen in den Stadtvierteln und letztlich durch eine andere Form der Demokratie auch auf nationaler Ebene nach dem Räteprinzip eröffnen.   

In den griechischen und internationalen Massenmedien wurde die Massenhaftigkeit der am 12.2. im Athener Zentrum Demonstrierenden so gut wie möglich totgeschwiegen, stattdessen der Schwerpunkt der Berichterstattung auf die Brände und Zerstörungen verlegt. Systematisch vernebelt wird vor allem, dass die
betriebene Politik des ersten (vom 5.5.2010) und des zweiten Memorandums einem Staatsstreich gleichkommt, der die bisher bekannte Form bürgerlich-demokratischer Demokratie schlicht aushebelt. Der von den Regierungen Papandreou und jetzt Papadimos durchgezogenen Memoranden-Politik fehlt jede demokratische Legitimation, ihre wesentliche Stütze sind die Knüppelgarden der Polizei, ihr einziges „Argument“ der drohende Staatsbankrott (der sowieso Realität ist), dessen Ausmaße und Ausweglosigkeit durch die herrschende Politik immer weiter zunehmen. Auch die Zielsetzung des Verbleibs in der Eurozone hat durch die voranschreitende Verelendung der Bevölkerung jeden Sinn verloren, da sie einzig auf die Sicherung der Bankenprofite ausgerichtet ist.    
Die Rolle Deutschlands
Jede Berichterstattung über Griechenland ist unvollständig, wenn sie nicht auch Deutschland mit einbezieht. Die deutsche Politik und Minister der Bundesregierung spielen eine schändliche Rolle bei der Ausplünderung und Zerstörung der griechischen Gesellschaft. Die Politiker­Innen weigern sich nicht nur, die durch die Kriegsanleihe und Reparationen fälligen Zahlungen, deren formale Höhe mehrere hundert Milliarden Euro betragen dürfte, anzuerkennen, und legen damit eine beschämende historisch Ignoranz und Arroganz an den Tag. Sie diktieren auch in unerträglicher Weise die Regeln der Demontage Griechenlands bis hin zu unter deutscher oder EU-Kontrolle stehende Konten, auf die Griechenland einzuzahlen hat. Herr Schäuble möchte der griechischen Bevölkerung inzwischen auch vorschreiben, wann und unter welchen Umständen sie zu wählen hat bzw. nicht. 

Dass es sich bei der herrschenden Politik um einen Wahnsinn handelt, der nur dazu geeignet ist, ganz Europa in die Katastrophe zu steuern, zeigt eine Pressemeldung (Spiegel-online, 15.2.) über das Vermögen der Deutschen: „8,5 Billionen Euro Besitz – Deutsche könnten Schulden der Euro-Zone tilgen. Während die Regierungen in der Krise jeden Cent zusammenkratzen, haben die Deutschen ein riesiges Vermögen angehäuft. Abzüglich ihrer eigenen Verbindlichkeiten besitzen sie rund 8,5 Billionen Euro. Genug Geld, um die Schulden aller Euro-Länder komplett abzubezahlen. Sachvermögen wie Autos, Möbel, Schmuck und Kunstsammlungen noch gar nicht eingerechnet.“

Wie lange wird es noch möglich sein, nun auch die Nationen Europas in den Ruin zu steuern, während genug gesellschaftlicher Reichtum vorhanden ist, um allen Menschen, sogar weltweit, ein Leben ohne Arbeitslosigkeit, Armut und quälende Existenzprobleme zu ermöglichen? Die Solidarität gerade der Menschen in Deutschland, soweit sie noch nicht durch den massiven und gezielten Schwindel und die üble Propaganda der Massenmedien zu denken verlernt haben, ist einer der wichtigsten Schlüssel zur Umkehrung der hoffnungslosen Situation, in die Griechenland und fast die gesamte europäische Peripherie geraten sind und von der auch das europäische Zentrum in deutlich absehbarer Zukunft bedroht ist.

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