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Gold tragen, Disteln essen

Von Harry Tuttle | 01.04.2011

Im Irak wird gegen autoritäre Verhältnisse und die soziale Misere protestiert.

Im Irak wird gegen autoritäre Verhältnisse und die soziale Misere protestiert.

Auch in Bagdad gibt es einen Tahrir Square, einen Platz der Befreiung. Es lag nahe, nach dem Vorbild der Proteste in Ägypten auch in der irakischen Hauptstadt diesen Ort für Demonstrationen auszuwählen. Anfang Februar kursierten Aufrufe im Internet. Mit einer ersten, überwiegend von Studierenden und Intellektuellen getragenen Demonstration in der al-Mutanabi-Straße, traditionell eine Straße der Buchhändler, begannen die Proteste. Obwohl die Regierung Brücken und Straßen hatte sperren lassen, versammelten sich wenige Tage später Demonstrant­Innen auf dem Platz der Befreiung, sie forderten ein Ende der Repression und die Respektierung der Menschenrechte.
Formal gesehen ist der Irak eine Demokratie. Es gibt ein gewähltes Parlament, und offiziell gelten die Menschen- und Bürgerrechte, auch wenn in vielen Bereichen des Familien- und Personenstandsrechts Regelungen der Sharia angewendet werden. Doch, obwohl es weniger Gewalt gibt, als in den Jahren nach der US-Invasion 2003 sind Fälle von willkürlicher Verhaftung und Folter häufig, Oppositionsgruppen werden eingeschüchtert und müssen mit Repressalien rechnen.
Angst vor der Gewalt
Die staatlichen Institutionen sind fraktioniert, die Parteien behandeln sie als Beute, die es unter den Anhängern und Klienten aufzuteilen gilt. Zu diesem Zweck werden im Süd- und Zentralirak religiöse Unterschiede politisiert. „Das konfessionelle Quotensystem paralysiert das politische Leben“, urteilt die Sozialwissenschaftlerin Zaynab Saleh. Dass die Versorgung der Parteiklientel Vorrang hat, trägt auch zur Paralysierung der Entwicklungspolitik und zur Korruption bei.

Der erbärmliche Zustand der Infrastruktur ist einer der Hauptkritikpunkte der Demokratiebewegung. So fließt selbst in Bagdad der Strom nur zeitweise, und in den öffentlichen Krankenhäusern fehlt es an Medikamenten, die hygienischen Zustände sind oftmals haarsträubend. Nur wer viel Geld hat, kann sich im Krankheitsfall eine angemessene Behandlung leisten. Doch nach offiziellen Angaben liegt die Arbeitslosigkeit knapp unter 20 Prozent, mit 17 Prozent ist die Frauenerwerbsrate selbst im regionalen Vergleich (Kuwait: 52 Prozent) sehr niedrig.

Der Ölreichtum wird unzureichend genutzt, die Einnahmen kommen vornehmlich der Oligarchie zugute. Die Korruption prägt die Politik, aber auch den Alltag, etwa bei der Vergabe von Wohnungen. „Wir sind wie Esel, die Gold tragen, aber Disteln essen“, fasst ein Aufruf der Protestbewegung zusammen.

Dennoch zögern viele, sich an Protesten zu beteiligen. Im Zentral- und Südirak gab es im Februar Massendemonstrationen, doch im März ist die Zahl der Protestierenden kleiner geworden. Ähnlich wie in Algerien, wo die meisten Menschen unter der Traumatisierung durch den Bürgerkrieg der neunziger Jahre zwischen den Islamisten und dem Regime leiden, fürchten auch sehr viele Irakis nach den Jahren des Kriegs und des Terrors weitere Gewalt.

Möglicherweise sind deshalb die Proteste im überwiegend kurdischen Nordirak heftiger. Diese Region ist seit Anfang der neunziger Jahre autonom, sie blieb von der Gewalt der Nachkriegsjahre weitgehend verschont. Hier ist die gesellschaftliche Demokratisierung weiter vorangeschritten, auch in Kleinstädten gehören Demonstrationen mittlerweile zur Normalität. Im Sommer vorigen Jahres etwa kam es zu Protesten gegen die Ermordung eines Journalisten, im Dezember wurde in Dutzenden Städten für das Recht auf spontane Demonstrationen demonstriert.
Schüsse aus dem Hauptquartier
Die Machtverhältnisse und die soziale Lage sind jedoch ähnlich wie im Rest des Landes. Die beiden herrschenden Parteien, die KDP (Kurdische Demokratische Partei) und die PUK (Patriotische Union Kurdistan), hatten lange Zeit getrennte Herrschaftsgebiete. Die Verwaltungen wurden mittlerweile zusammengelegt, doch viele Polizei- und Militäreinheiten unterstehen faktisch nicht der Regierung, sondern den jeweiligen Parteiführungen.

Die Polizisten der PUK, die Suleymaniah dominiert, sahen daher keinen Grund, sich um die Demonstration vor dem Hauptquartier der KDP in dieser Stadt zu kümmern. Am 18. Februar hatten sich dort einige Hundert Demonstrant­Innen versammelt, um gegen die Korruption und gegen die autoritären Verhältnisse zu protestieren. Als einige Jugendliche versuchten, das Gebäude zu stürmen, schossen darin stationierte KDP-Milizionäre und töteten einen 17jährigen. Anschließend besetzten mehrere Tausend Bewaffnete der KDP-Anhänger wichtige Plätze in der Stadt. Doch die Protestierenden ließen sich nicht einschüchtern, Massendemonstrationen zwangen die KDP schließlich zum Rückzug.

Premierminister Nuri al-Maliki hat versprochen, binnen 100 Tagen ein Reformprogramm vorzulegen, an den Verhältnissen hat sich jedoch nichts geändert. Bislang wurden im Irak etwa 30 Protestierende getötet. Derzeit scheint die Regierung die Demonstrationen allerdings zu dulden. Im Nordirak gingen die Proteste im März weiter. „Es gab keine Antwort der Regierung“, sagte Nasik Qadir, eine Sprecherin der kurdischen Protestbewegung. Weiterhin gebe es weder Arbeit noch Gerechtigkeit, „wir sind hier, um das despotische System zu ändern“.

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