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Innenpolitik

Gipfel der Heuchelei

Von Walter Weiß | 01.02.2011

Der französische Schriftsteller Vauvenargues, ein Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts, charakterisierte die Heuchelei als einen Tribut des Lasters an die Tugend. Lebte er heute, hätte er wohl die aktuelle Hartz IV-Debatte im Auge gehabt.

Der französische Schriftsteller Vauvenargues, ein Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts, charakterisierte die Heuchelei als einen Tribut des Lasters an die Tugend. Lebte er heute, hätte er wohl die aktuelle Hartz IV-Debatte im Auge gehabt.

Arbeitslosengeld II (ALG II), Sozialgeld und Regelsätze firmieren nun unter dem Oberbegriff Regelbedarf, wahrscheinlich als Vorstufe zu dem charmanteren Wort Bürgergeld. Und die Hilfsbedürftigen werden zu Leistungsberechtigten geadelt.
Verschleiernde Sprache
Erinnern wir uns an die Sanktionsverschärfungen, die in der euphemistischen Sprache der bürgerlichen Jurisprudenz zum Optimierungsgesetz verklärt wurden. Mit einem Lächeln wurden bei den Betroffenen die Daumenschrauben angezogen.
Da werden zwar die Regelsätze faktisch gedeckelt, aber Bildungsgutscheine für Kinder vermitteln ein sauberes soziales Image im Geiste christlicher Nächstenliebe. Ein Herz für Kinder plus Gutmenschentum kommt in der deutschen Betroffenheitskultur immer gut an und lässt keinen Platz für kritische Diskurse.

Gleiches gilt für die vermeintliche Anhebung des Schonvermögens, die ganze 0,2 % (!) der Betroffenen erreicht und somit für den Staat quasi kostenneutral ist. Wenn diese Botschaft aber von Guido Westerwelle kommt, dem tapferen Streiter gegen die spät­römische Dekadenz bei den Langzeitarbeitslosen, sollte eine gewisse Skepsis gerechtfertigt sein.
Eine Scheindebatte
Angeblich streiten sich Opposition und Regierung um die Auslegung und die Folgen des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom Frühjahr 2010 zu den Hartz-IV-Regelsätzen. Bei näherem Hinsehen sind kaum nennenswerte konkrete Streitpunkte sichtbar. Beide Seiten wollen das Terrain als Sieger verlassen. Insbesondere die deutsche Sozialdemokratie, einst das Flaggschiff der internationalen Arbeiter­Innenbewegung, will die Erinnerung daran verdrängen, dass sie unter dem Architekten der Agenda 2010, Frank Walter Steinmeier, der Arbeiter­Innenklasse die tiefste sozialpolitische Niederlage in der Nachkriegsgeschichte der BRD beigebracht hat. Und bei der Verdoppelung der Kinderarmut stand die SPD auch an der Wiege Pate!

Die „Reform der Reform“ verschlechtert die Lebenslage von Millionen Menschen. De facto minimiert sich deren Einkommen seit 2005, und die „Erhöhung“ um stolze 5 Euro deckt nicht einmal die Kosten für die gestiegenen Fahrkosten im ÖPVN und bei den Strompreisen. Letztlich ist man sich augenzwinkernd bei der Streichung des Elterngeldes und dem befristeten Zuschlag zum Arbeitslosengeld einig.

Die Sanktionspeitsche wird weiter geschwungen. Verweigert mensch die Zustimmung zur Eingliederungsvereinbarung, droht eine Kürzung der Bezüge um 30 %, ein Meldeversäumnis liegt bereits vor, wenn der „Kunde“ nicht zur festgesetzten Uhrzeit präsent ist oder kein „angemessenes Verhalten“ bei einer Bewerbung zeigt. Der Willkür werden Tür und Tor geöffnet. Und bei Absenkung der Leistungen bestehen keine Ansprüche auf Sozialgeld nach dem Sozialgesetzbuch XII.

Und die Stigmatisierung der Langzeiterwerbslosen findet kein Ende. Mißfelder (CDU) erblickt in der „Anhebung“ des Regelsatzes einen Auftrieb für die Tabak- und Spirituosenindustrie. 2003 wollte der gleiche Herr älteren Menschen künstliche Hüften verweigern, um das Budget der Krankenkassen zu schonen. Für Sinnverwandtes ist in der SPD das Parteimitglied Thilo Sarrazin zuständig!
Welcher Widerstand?
In den Artikeln „Die Büchse der Pandora“ und „Hart am Limit“ (avanti 3/2010 und 11/2010) wurde versucht, die Hintergründe der gegenwärtigen Diskussion zu analysieren und auf die Schwäche des Sozialprotests hinzuweisen. Im verflixten siebten Jahr von Hartz IV sind die Betroffenen mehr mit der Bewältigung ihrer prekären Lebenslagen beschäftigt als mit der Teilhabe am Aufbegehren. Die Verbündeten sind rar und die Vertreter der Kirchen, die die Agenda 2010 mit abgesegnet haben, profitieren in einer Form pervertierter Nächstenliebe von Abertausenden 1-Euro-Jobber­Innen oder geringfügig Beschäftigten. Die Gewerkschaften sind nicht in der Lage oder Willens, den Kampf gegen die Erwerbslosigkeit als strategische Aufgabe in Angriff zu nehmen, obwohl das Damoklesschwert von Hartz IV über allen Häuptern der 40 Millionen abhängig Beschäftigten schwebt und ein Klima der gesamtgesellschaftlichen Angst erzeugt.

Der Armutssektor mit Tafeln, Kleiderkammern und Gutscheinen wird zur Normalität erhoben und dabei vergessen, dass „die Blüte der Tafeln gleichzeitig der Niedergang des bröckelnden Sozialstaats ist“ (Peter Grottian). Auf jeden Fall wird sich der Sozialprotest neu und in bisher nicht praktizierten Formen aufstellen müssen. Vielleicht erfährt er durch den Protest gegen Stuttgart 21 und die Auseinandersetzungen in Gorleben einen politisch-moralischen Impuls, der wieder mehr Menschen für ihre Anliegen auf die Straße bringt. „Aktivitäten des zivilen Ungehorsams“ – so Peter Grottian – „sind der Schlüssel für die Entzündung von gesellschaftlichen Konflikten“! Die revolutionären Sozialistinnen und Sozialisten sollten diesen Widerstand unterstützen und ihn befördern.

 

TiPP!
Peter Grottian: Missbrauchtes Engagement. Warum man Arbeitslosigkeit und Tafeln gleichzeitig abschaffen muss (August 2010) über: www.erwerbslosenforum.de

 

 

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