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Innenpolitik

Gesundheit und Umwelt: Reparaturbetrieb Medizinwesen

Von Thadeus Pato | 01.02.2011

Der niederländische Soziologe Abram de Swaan definierte die Sozialsysteme im Allgemeinen und das Medizinwesen im Besonderen als Institutionen, die dafür da seien, die externen Kosten und Risiken der Industriegesellschaft abzufedern. Inzwischen gibt es eine weitere Unterabteilung.

Der niederländische Soziologe Abram de Swaan definierte die Sozialsysteme im Allgemeinen und das Medizinwesen im Besonderen als Institutionen, die dafür da seien, die externen Kosten und Risiken der Industriegesellschaft abzufedern. Inzwischen gibt es eine weitere Unterabteilung.

Diese Unterabteilung ist die sogenannte Umweltmedizin. Anders, als es die Bezeichnung nahelegt, beschäftigt sich dieser relativ junge Zweig der Medizin nicht mit der Behandlung der Umwelt. Neben der präventiven Umweltmedizin, in der sich nur relativ wenige Mediziner betätigen, gibt es auch die klinische Umweltmedizin. Deren Feld ist die Betreuung von Patient­Innen, die Symptome aufweisen, die von ihnen selbst oder vom Arzt auf Umweltfaktoren zurückgeführt werden.

Nun hat jede neue Disziplin in der Medizin den unstillbaren Drang, sich und ihr „Leistungsspektrum“ auszuweiten, im Falle der Umweltmedizin ist das nicht anders. Von neuen Krankheitsbildern bis zu neuen Labormethoden erzeugte und erzeugt auch dieser Zweig der Schulmedizin seinen Bedarf teilweise selbst – kein neues Phänomen im „Gesundheits“wesen.
Das soll nicht heißen, dass es nicht sinnvoll wäre, eine wissenschaftliche Disziplin zu haben, die sich mit den gesundheitlichen Folgen von Umweltveränderungen befasst. Aber da liegt der Hase im Pfeffer…
Am falschen Ende
Das Problem besteht ja eigentlich nicht darin, im Nachhinein festzustellen, welche Folgen der Umgang der spätkapitalistischen Industriegesellschaft mit der natürlichen Umwelt und mit den Menschen hat, die in und von dieser leben müssen. Es ist nämlich eine (traurige) Tatsache, dass hinterher im besten Falle Schadensbegrenzung betrieben werden kann – mit individualmedizinischen Methoden den Konsequenzen der chronischen Schädigung der Bevölkerung durch Umweltgifte wie Dioxin, radioaktive Strahlung oder die Weichmacher im Plastik beikommen zu wollen, ist ungefähr so Erfolg versprechend, wie die Tätigkeit des alten Griechen Sisyphos.

Hinzukommt ein nicht ganz zufälliger richtiger Etikettenschwindel: Von den mit der Zusatzbezeichnung „Umweltmedizin“ versehenen ÄrztInnen machen sich nur die wenigsten darüber Gedanken, dass „Umwelt“ sehr viel mehr bedeutet, als nur die physische Umwelt. Auch die psychosozialen Störungen, die durch die menschenfeindliche Binnenorganisation dieser Gesellschaft erzeugt werden, wären als umweltverursachte Störungen aufzufassen. Nähme mensch die Bezeichnung ernst, wären beispielsweise auch die Berufserkrankungen (für die es wiederum das schöne Gebiet der „Arbeitsmedizin“ gibt) unter die Umweltmedizin einzuordnen.
Florierender Markt
Die Schulmedizin bietet zwar in (begrenztem) Maße Methoden, um Umweltbelastungen festzustellen und teilweise auch zu quantifizieren, aber für die Lösung der Probleme hat sie keinen Ansatz – und kann ihn auch gar nicht haben. Stattdessen ist ein florierender Markt für Produkte entstanden, die im besten Falle schlicht nutzlos, im schlechtesten schädlich sind. „Ausleitungs“behandlungen, spezielle (extrem teure) Nahrungs(„ergänzungs“)mittel und Filtersysteme werden heftig beworben, und das Wachstum dieser Branche ist imponierend.

Aber auch hier gilt der Satz, dass der Versuch, einen individuellen Ausweg aus einem gesamtgesellschaftlichen Problem finden zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist. Für die meisten relevanten Umweltgifte gilt, dass aufgrund der Tatsache, dass sie inzwischen überall verbreitet sind (Beispiel Dioxine), jede und jeder ihnen ausgesetzt ist, und dass eine aktive Entfernung aus dem menschlichen Körper, von wenigen Ausnahmen abgesehen, deswegen weder möglich ist noch, wenn es denn gelänge, nachhaltig wäre.
Die Individualmedizin kann in diesen Fällen noch nicht einmal, wie etwa bei der Behandlung eines Arbeitsunfalls, als Reparaturbetrieb fungieren, sondern allenfalls die Probleme feststellen. Einige MedizinInner, die sich mit diesem Gebiet beschäftigen, haben konsequenterweise daraus den Schluss gezogen, ihre Aktivitäten auf das Gebiet der Prävention zu verlagern. Aber es ist darauf hinzuweisen, dass es eine individuelle Prävention ebenfalls nicht geben kann. Das Problem der durch die Petro-, bzw. Chlorchemie erzeugten und in die Umwelt gelangenden Gifte (und das trifft sinngemäß auf eine ganze Reihe anderer Substanzen zu) lässt sich ausschließlich auf einem Wege lösen: durch vollständigen Stop der Produktion und der schleichenden flächendeckenden Vergiftung der Umwelt.

Aber das würde an die Grundfesten unserer öl-basierten Industriegesellschaft rühren – und da verdient mensch dann lieber weiter an den Kollateralschäden mit, statt das einzig Richtige zu tun: die Betroffenen zum Aufstand aufzurufen.

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