Am Vorabend der Wahlen zum Europäischen Parlament richten aktive Gewerkschafter:innen aus Krywyj Rih einen Appell an die Kandidat:innen und möchten die Politiker:innen daran erinnern, dass die Lohnabhängigen die Last des Krieges gegen den Aggressor tragen. Sie sind es, denen die Munition ausgeht, und es sind ihre Interessen, die an höchster Stelle diskutiert werden müssten. Die Gewerkschafter:innen sind der Meinung, dass es zu katastrophalen Folgen führen wird, wenn diese Tatsachen ignoriert würde. Sie warnen davor, die Unterstützung für die Ukraine zu nutzen, um egoistische Vorhaben zu verschleiern, die bei gewissen internationalen Eliten ganz üblich ist.
Juri Samoilow, der Vorsitzende der Unabhängigen Bergarbeitergewerkschaft, sagte: „In unseren Familien drehen sich alle Gespräche um den Krieg, um diejenigen, die derzeit dienen, und darum, wie man ihnen helfen kann, denn die große Mehrheit der Mobilisierten sind ganz normale Arbeiter. Das ist zur Priorität der Gewerkschaft geworden. Aber gleichzeitig wird das Arbeitsrecht ausgesetzt, die Sozialausgaben werden gekürzt, und die Kinder von Geschäftsleuten und Beamten amüsieren sich im Ausland. Ist das gerecht?“ So fragt Juri.
Der Aufruf hat bereits die Unterstützung einer vielfältigen Gruppe von Gewerkschafts-, Bürger- und studentischen Aktivist:innen aus verschiedenen Teilen der Ukraine gefunden. Ihnen gemeinsam ist die Unzufriedenheit mit dem mangelnden Interesse an den Anliegen der Beschäftigten, sie glauben fest daran, dass ihre kollektive Stimme der Schlüssel zum Wandel ist. Sie betrachten diejenigen, die diesen Aufruf in Europa und der Welt lesen, als Freunde und Freundinnen der Ukraine und Verbündete der Arbeitenden.
Oleksandr Skyba, der Vorsitzende der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner des Depots Darnyzja [einer der zehn Verwaltungsbezirke der Stadt Kiew], betont, dass die Arbeitsrechte seit Beginn des Krieges erheblich eingeschränkt wurden. Seiner Meinung nach haben die meisten Änderungen die Verteidigungsfähigkeit nicht gestärkt, sondern geschwächt. „Arbeitgebern zu erlauben, Arbeitsverhältnisse und tarifvertragliche Bestimmungen willkürlich auszusetzen, ist ein schwerer Schlag gegen die Rolle der Gewerkschaften und die Grundlagen der Demokratie“, sagt er. Oleksandr betont sein Vertrauen in die Macht der Einheit und der gegenseitigen Unterstützung im Kampf und zählt auf die Solidarität seiner ausländischen Kollegen und Kolleginnen.
Aufruf an die politischen Vertreter:innen der Völker Europas und der Welt
Da unser Schicksal oft von Ihren Entscheidungen abhängt, möchten wir, ukrainische Gewerkschafter:innen und Aktivist:innen, uns direkt an Sie wenden und Folgendes betonen:
Während die internationale Gemeinschaft in ihrer Unentschlossenheit verharrt, intensivieren die russischen Besatzungstruppen ihre Offensive nach Belieben. Unsere Kollegen sterben an der Frontlinie, sind gezwungen zu kämpfen, ohne dass sie über ausreichend Waffen zu verfügen, und in Ermangelung einer angemessenen Luftabwehr werden unsere Kraftwerke, Fabriken und Häuser von verheerenden Schlägen getroffen. Bei einer wahrhaft „unerschütterlichen Unterstützung“ wäre dies nicht unvermeidlich gewesen. Im Moment müssen wir uns dem Aggressor jedoch hauptsächlich mit unseren eigenen Mitteln entgegenstellen.
Die Widerstandsfähigkeit der ukrainischen Gesellschaft hängt von den einfachen Arbeiter:innen ab, die die Mehrheit der Streitkräfte stellen und dafür sorgen, dass die Heimatfront in den Bereichen Logistik, Produktion und Instandhaltung kritischer Infrastruktur funktioniert. Gleichzeitig gibt es eine zunehmend sichtbare soziale Kluft, öffentliche Güter existieren nur für die Elite, und der Rest der Bevölkerung hat nichts als Pflichten. Das demoralisiert und bedroht die Verteidigungsfähigkeit des Landes und seine Zukunft. Während wir weiterhin mit Brosamen bezahlt werden, Überstunden machen und unter der ständigen Bedrohung leben, auf die Straße gesetzt zu werden, kümmert sich unsere Regierung viel mehr um die Deregulierung und die Schaffung günstiger Bedingungen für Firmenbesitzer.
Sicherheit und Wohlergehen unserer Familien und Freunde sind für uns von höchster Bedeutung; das hält uns am Leben. Dennoch ist leider klar, dass die Nachkriegsukraine keine Möglichkeiten für ein menschenwürdiges Leben bieten kann, wenn die abhängig Beschäftigten nicht über die nötigen Druckmittel verfügen, um ihre Probleme zu lösen. Mit Schrecken stellen wir fest, dass wir uns wahrscheinlich auf die Suche nach einem besseren Leben im Ausland begeben, Tag und Nacht arbeiten, um Hungerlöhne von gierigen Herren wetteifern müssen.
Es ist auch kein Geheimnis, dass Ihre Eliten die Löhne einfrieren, Preise erhöhen, Urlaub streichen und Sozialausgaben kürzen und all dies mit der Notwendigkeit rechtfertigen, die Ukraine zu unterstützen, während sie gleichzeitig einen für beide Seiten vorteilhaften Handel mit Russland treiben, mit Geld und Technik, die dessen militärischer Leistungsfähigkeit zugutekommen. Diese Politik ist äußerst gefährlich für die Solidarität und das Vertrauen zwischen unseren Völkern.
Wir haben das Verständnis, dass wir Demokratie und soziale Gerechtigkeit gegen die Invasionen von Imperialisten, den Druck von Diktatoren, den Appetit von Oligarchen und die Demagogie der extremen Rechten nur gemeinsam verteidigen können.
Deshalb rufen wir Sie auf:
1. Stoppen Sie Waffenexporte in Drittländer und geben Sie der Lieferung von Waffen und Munition, die ab sofort für die Verteidigung der Ukraine benötigt werden, Vorrang. Unser Krieg darf nicht zu einem Vorwand für die Bereicherung von Sicherheitsverkäufern werden!
2. Machen Sie es dem Putin-Regime unmöglich, die Sanktionen zu umgehen. Dies erfordert unter anderem, dass dubiose Projekte von russischen, ukrainischen und anderen Oligarchen gestoppt werden. Jede Transaktion und jedes gelieferte Ersatzteil ermöglichen es Russland, den Krieg fortzusetzen!
3. Streichen Sie ungerechte Schulden und stellen Sie sicher, dass Ihr Geld nicht für unsoziale Experimente in unserem Land ausgegeben wird! Internationale Unterstützung sollte es ermöglichen, die allgemeine Gesundheitsversorgung und Bildung wiederherzustellen und auszuweiten, erschwingliche Wohnungen und öffentliche Infrastruktur wieder aufzubauen und menschenwürdige Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.
4. Knüpfen Sie Kontakte zu ukrainischen Gewerkschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen, üben Sie Druck aus, damit sie in die Entscheidungsfindung auf allen Ebenen einbezogen werden und betonen Sie die Bedeutung von Tarifverhandlungen und Vereinigungsfreiheit! In einem deformierten politischen System ist dies für normale Bürger:innen fast die einzige Möglichkeit, ihre Rechte einzufordern.
5. Verurteilen Sie den Missbrauch von Solidarität zur Verschleierung von eigennützigen Interessen! Beschlagnahmen Sie russische Vermögenswerte, schließen Sie Offshore-Firmen und besteuern Sie Superreiche; aber stellen Sie die Menschen nicht vor die falsche Alternative: die Ukrainer ihrem Schicksal überlassen oder den Schwächsten des eigenen Landes etwas wegnehmen!
Dieser Aufruf ist auf einem Treffen von Gewerkschafts- und Studentenaktivist:innen der Region Krywbas anlässlich des Internationalen Tags der Arbeit verabschiedet worden, das von Juri Samoilow moderiert wurde und an dem Vertreter:innen der unabhängigen Gewerkschaften bei ArcelorMittal Krywyj Rih, Eisenerzfabrik Krywyj Rih, Metinvest und Rudomain, der unabhängigen Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheitswesen in Krywyj Rih, der unabhängigen Gewerkschaft der Erzieher und Wissenschaftler von Krywyj Rih, der Studierendengewerkschaft „Prjama dija“ (Direkte Aktion), der NRO „Widmi Kriwbasy“ (Die Hexen von Krywbas), der NRO „Sprawedlywist“ und der NRO „Sozialnyj Ruch“ (Soziale Bewegung) teilnahmen.
Unterzeichnet unseren Aufruf!
Auf Ukrainisch: https://rev.org.ua/zakordonnim-politikam-pro-spravedlivist-dlya-ukra%D1%97nskix-pracivnikiv/
Auf Englisch: https://rev.org.ua/to-foreign-politicians-justice-for-ukrainian-workers/
(*) Dieser Aufruf wird individuell unterstützt von:
1. Oleksandr Skyba, Vorsitzender der Freien Gewerkschaft der Eisenbahner des Depots Darnyzja
2. Natalja Semljanska, Ukrainische Gewerkschaft der Arbeiter, Unternehmer und Wanderarbeiter
3. Oksana Slobodjana, Vorsitzende der Regionalgewerkschaft Lwiw von Bud Jak Nina (Sei wie Nina)
4. Wassyl Andrejew, Vorsitzender von PROFBUD, Bauarbeitergewerkschaft der Ukraine
5. Lilija Wasyljewa, stellvertretende Direktorin der Gewerkschaft der Kranführer in der Region Lwiw
6. Katja Grizewa, Aktivistin der unabhängigen Studierendengewerkschaft Prjama dija (Direkte Aktion) und von Sozialnyj Ruch sowie Künstlerin
7. Vitali Dudin, Mitbegründer von Sozialnyj Ruch, Doktor der Arbeitsrechtswissenschaft
8. Artjom Tidwa, hauptamtlicher Organisator, Mitarbeiter des Europäischen Gewerkschaftsverbands für den Öffentlichen Dienst (EGÖD; engl. EPSU)
9. Oksana Dutschak, Redakteurin der Zeitschrift Spilne/Commons
10. Lidija Luchyschyn, Schatzmeisterin der Gewerkschaft der Kranführer in der Region Lwiw
11. Taras Bilous, Redakteur
12. Andrij Pacan, Dreher
13. Pawlo Bryshatyj, Mitglied der unabhängigen Studierendengewerkschaft Prjama dija und von Sozialnyj Ruch, Student an der Nationalen Universität der Ostroh-Akademie
14. Daria Selischtschewa, Psychologin
15. Wolodymyr Skimira, Kranführer
16. Maksym Schumakow, Aktivist der Studierendengewerkschaft Prjama dija
17. Irina Strumeljak, Arbeiterin
18. Denys Pilasch, Aktivist von Sozialnyj Ruch
19. Dmytro Lypezkyj, Kranführer
20. Walerij Petrow, Aktivist von Sozialnyj Ruch, Kandidat der Philosophischen Wissenschaft, Spielentwickler
21. Igor Duleba, Kranführer
22. Romanenko Maksym, Arzt, Aktivist von Sozialnyj Ruch
23. Ihor Wasylez, Mitglied der Studierendengewerkschaft Prjama dija
24. Sachar Popowytsch, Aktivist, Dr. phil.
25. Mykhailo Zwir, Kranführer
26. Oleksandr Kyselow, Migrant, Mitglied des Vorstands von Skånes Industrisyndikat
27. Marija Sokolowa, Aktivistin der unabhängigen Studierendengewerkschaft Prjama dija
28. Artjom Remisowskyj, Doktorand in Kulturwissenschaften, Nationale Universität Kiew-Mohyla Akademie
29. Ruslana Masurenok, Vorsitzende der Gewerkschaft der Beschäftigten im Gesundheitswesen des Krankenhauses Derashnjanska, Aktivistin von Bud Jak Nina
Stand: 14. Mai 2024, 12.00 Uhr
Quelle: https://www.europe-solidaire.org/spip.php?article70730
Insgesamt 53 Namen von Unterzeichner:innen und die ukrainischen Bezeichnungen der Namen und Organisationen usf. sind hier zu finden:
https://docs.google.com/forms/d/e/1FAIpQLSexMj6P9ZTaJIUZEH8lJuUxhLAujGVTydTe4F-gH9d9wyzAuA/viewform
Aus dem Englischen übersetzt von Wolfgang und Wilfried