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Generalstreiks in Griechenland gegen Regierung, EU und IWF

Von Claudio Reiser | 01.06.2010

Seit Monaten streiken und demonstrieren Hunderttausende in Griechenland gegen die geplanten massiven Kürzungen bei Löhnen, Renten und Ausgaben für die Bildung, gegen Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Steuererhöhungen auf Konsumgüter und die Anhebung der Mehrwertsteuer.

Seit Monaten streiken und demonstrieren Hunderttausende in Griechenland gegen die geplanten massiven Kürzungen bei Löhnen, Renten und Ausgaben für die Bildung, gegen Stellenabbau im öffentlichen Dienst, Steuererhöhungen auf Konsumgüter und die Anhebung der Mehrwertsteuer.

Die Regierung Papandreou, die aus den letzten Wahlen im Oktober 2009 vor allem deshalb als Sieger hervorging, weil viele Griech­­­Innen genug hatten von der neoliberalen Politik der Konservativen, hat im Abstand weniger Wochen immer neue Pakete mit sozialen Grausamkeiten auf den Tisch gelegt. Folgende Maßnahmen sind in ihrem „Stabilitäts- und Wachstumsprogramm“ u. a. vorgesehen:

  • Erhöhung von Konsumsteuern und Anhebung der Mehrwertsteuer bis zum Jahr 2012 zwischen 1-3 % und eine Reihe von Privatisierungsmaßnahmen, um so den Staatshaushalt zu „sanieren“.
  • Einkommenskürzungen im Öffentlichen Dienst von 10 %.
  • Einfrieren der Renten und Anhebung des Renteneintrittsalters auf 63 Jahre (bei Frauen beträgt die Anhebung zwischen 5 und 17 Jahren) und volle Rentenzahlung erst ab 65 Jahren. Daraus ergibt sich eine Rentenkürzung um fast 30 % ab dem Jahr 2015.

Trotz der patriotischen Appelle der Regierung an die Bevölkerung sich mit dem „Stabilitätsprogramm“ abzufinden, um einen Staatsbankrott zu verhindern, und trotz des zunehmenden Drucks durch die Regierungen der Europäischen Union (EU) und des zwischenzeitlich eingeschalteten Internationalen Währungsfonds(IWF), lässt in den letzten Monaten der Widerstand gegen die unsozialen Maßnahmen nicht nach.
Erster Höhepunkt der Streikbewegung
Nach mehreren Generalstreiks im Februar und März 2010 kam es Anfang Mai zu einem ersten Höhepunkt der Streikwelle. Die Gewerkschaft des Öffentlichen Dienstes (ADEDY) und die Gewerkschaft der Beschäftigten in der Privatindustrie (GSEE) hatten zu einem 24-stündigen Generalstreik am 5. Mai aufgerufen. Das öffentliche Leben in Griechenland lag an diesem Tag lahm. Es fuhren weder Busse noch U-Bahnen in den großen Städten. Der Fährbetrieb zu den Inseln wurde eingestellt. Die Züge blieben in den Bahnhöfen und alle Flüge von und nach Griechenland fielen aus. Auch die Journalist­­­Innen und Beschäftigten bei Rundfunk und Fernsehen waren im Streik. Landesweit legten Hunderttausende Beschäftigte sowohl im Öffentlichen Sektor als auch in der Privatindustrie die Arbeit nieder und beteiligten sich an den Demonstrationen und Kundgebungen. Allein in Athen zogen mehr als 200 000 Menschen in mehreren Demonstrationszügen durch die Straßen und machten ihrem Unmut lautstark Luft. Es war die größte Demonstration in Griechenland seit dem Ende der Militärdiktatur. Das Ziel der Protestierenden war das Parlamentsgebäude im Zentrum von Athen, wo das griechische Parlament über die geplanten Maßnahmen beriet. Dort angekommen versuchten sich die wütenden Teilnehmer­­­Innen der Massendemonstration Eingang in das Gebäude zu verschaffen und forderten die Parlamentarier auf, zu ihnen auf die Straße zu kommen und mit ihnen zu reden. Nur durch den brutalen Einsatz von Sondereinheiten der Polizei, die massiv Tränengas einsetzte und sich regelrechte Schlachten mit den Protestierenden lieferte, konnten diese zurückgedrängt werden. Im Verlauf der Demonstration am 5. Mai kam es zu einem tragischen Zwischenfall als drei Bankbedienstete durch eine Rauchvergiftung im Gebäude einer Athener Bank starben, als durch einen Brandsatz ein Feuer in den Räumen ausbrach. Alle Bankangestellten waren an diesem Tag von ihrer Gewerkschaft zum Streiken aufgefordert worden, aber in dieser Bank hatte der Direktor der Bank gedroht, alle Beschäftigten zu entlassen, die den Streikaufruf befolgen. Deshalb waren sie im Gebäude eingeschlossen, in dem es, wie inzwischen bekannt wurde, keinen Feuerschutz gab. Die Regierung Papandreou versuchte, aus dem Tod der Bankangestellten politisches Kapital zu schlagen und der Protestbewegung die Verantwortung für die Todesfälle zu geben. Diese Rechnung ging trotz einer entsprechenden Berichterstattung in der Mehrzahl der griechischen Medien nicht auf. An diesem Tag gab es Demonstrationen in allen größeren Städten – in Thessaloniki beispielsweise beteiligten sich 50 000, in Patras mehr als 20 000, und überall dort gab es Zerstörungen an Banken und Konzernniederlassungen. Selbst mittelgroße Städte wurden in die Mobilisierung einbezogen und es kam dort zur Besetzung von Rathäusern und Verwaltungsgebäuden durch die streikenden kommunalen Bediensteten.
Mobilisierungen und antikapitalistische Perspektive
Die Lohnabhängigen, Schüler­­­Innen, Student­­­Innen und Rentner­­­Innen in Griechenland sehen die geplanten Maßnahmen der Regierung als Frontalangriff auf ihre Errungenschaften und wehren sich dagegen mit allen Mitteln. Schon jetzt ist die Situation für die Mehrheit der griechischen Bevölkerung sehr schwierig. Sie muss von deutlich niedrigeren Löhnen als in Deutschland leben und das bei vergleichbaren Preisen (s. Kasten). Durch die Einschaltung des IWF, die eine Mehrheit der Griech­­­Innen ablehnt, erwarten viele Menschen noch drastischere Einschnitte in das Sozialsystem.

Sie befürchten Verhältnisse wie in Lettland, das milliardenschwere IWF- und EU-Kredite bekommen hat und seit Anfang 2009 ein drastisches Austeritätsprogramm durchführt, das bereits jetzt schon zu erheblichen sozialen Verwerfungen geführt hat. Im Durchschnitt wurden die Gehälter im öffentlichen Dienst um 25 % gekürzt und die Löhne in der privaten Wirtschaft sogar um 30 %. Es gab einen Kahlschlag im Bildungssektor und bei den sozialen Sicherungssystemen. Die Kürzungen im Gesundheitssektor führten dazu, dass Dutzende Gesundheitseinrichtungen in Lettland schließen mussten. Die Arbeitslosigkeit stieg sprunghaft an und hat mit einer Quote von nahezu 22 % den höchsten Wert in der EU erreicht. Diese Perspektive vor Augen treibt viele Menschen in Griechenland auf die Straße, zuletzt am 20. Mai, um ihren Widerstand gegen die Kahlschlagspolitik deutlich zu machen, auch wenn sie die Verabschiedung der entsprechenden Gesetzesvorhaben im Parlament nicht verhindern konnten.
Gespaltener Widerstand
Die Führungen der großen Gewerkschaften ADEDY und GSEE sind immer noch eng mit der Regierung Papandreou verbunden und müssen zu Widerstandsaktionen gezwungen werden. Die mit der griechischen Kommunist­ischen Partei (KKE) verbundene Gewerkschaftsfront PAME führt auch in der aktuellen Situation noch ihre eigenen Demonstrationen durch und beteiligt sich nicht an Einheitsaktionen. Da die KKE immer noch die stärkste Kraft auf der Linken ist, schwächt dieses Verhalten den sozialen Widerstand erhebl
ich. Um so größere Bedeutung kommt einem seit einigen Monaten bestehenden „Koordinationskomitee der Basisgewerkschaften im öffentlichen und privaten Sektor“ zu. Dieses „Komitee“ hat sich die Organisierung und Mobilisierung der nichtorganisierten Lohnabhängigen in den Privatunternehmen, der Immigrant­­­Innen, der Bauarbeiter und der in der Touristikbranche Beschäftigten zur Aufgabe gestellt. Bei einigen Mobilisierungen der letzten Zeit hat dieser Zusammenschluss schon eine wichtige Rolle gespielt. Am gleichen Tag, als Papandreou die Hilfe von EU und IWF angefordert hat, demonstrierten mehrere Tausend vor den EU-Büros in Athen, einem Aufruf der Koordination der Basisgewerkschaften folgend. Unterstützt wurden sie durch das Bündnis der Antikapitalistischen Linksallianz für den radikalen Wechsel (ANTARSYA), an dem auch die OKDE-Spartakos, Sektion der IV. Internationale in Griechenland, beteiligt ist.
Unsere Aufgabe
Aber auch wir in Deutschland sind gefordert, die griechischen Kolleg­­­Innen in ihrem Kampf zu unterstützen, denn ein erfolgreicher Kampf gegen die Vorhaben der EU und der griechischen Regierung würde eine Ermutigung für alle Beschäftigten in Europa darstellen. Wir müssen uns gegen die Hetze hierzulande wehren (s. Kasten) und gemeinsam gegen die Politik des sozialen Kahlschlags kämpfen. Die Demonstrationen am 12. Juni 2010 können ein erster Schritt dazu sein.

 

Mediale Hetze gegen Griechenland
Die Medien überbieten sich gegenseitig an unerträglicher Hetze gegen die „Pleite-Griechen“, die „über ihre Verhältnisse gelebt haben“. Überall, ob in den Printmedien oder bei Talkshows, ist seit Wochen die Krise in Griechenland und der drohende Staatsbankrott Thema. Die Vertreter der Banken (oft die Gläubiger griechischer Schulden) und Finanzinstitute kommen dabei fast immer zu Wort und ermahnen die griechische Regierung zu „drastischen Einsparungen“ und zu „strenger Haushaltsdisziplin“. Politiker­Innen und selbsternannte Experten werden nicht müde, dementsprechende Forderungen an Griechenland zu stellen und sich über die „Misswirtschaft“, „Schlamperei“ und „Korruption“ der Griechen zu ereifern. Vertreter­Innen aller bürgerlichen Parteien verbinden die Genehmigung von Geldern der EU und des IWF, mit der Forderung an die griechische Regierung keine Abstriche an ihrem „Sparprogramm“ vorzunehmen. Einer der Propheten der freien Finanzmärkte und des Sozialabbaus, Professor Sinn, der Vorsitzende des Münchner Ifo-Instituts, der eigentlich längst ideologischen Bankrott anmelden müsste, fordert: „Griechenland muss billiger werden. Die Löhne und Sozialleistungen dort sind raketenhaft gestiegen“. Diese neoliberalen und antisozialen Vorschläge werden nur noch von der üblen chauvinistischen Hetze der „Bild-Zeitung“ und der übrigen Boulevard-Presse übertroffen, die dazu aufordern, „keine deutschen Steuergelder für die Pleite-Griechen“ auszugeben.

Claudio Reiser

Fakten zur sozialen Lage in Griechenland
Arbeitslosigkeit: 766 000 Erwerbslose (offizielle Zahl März 2010) bei einer Gesamtbevölkerung von 11 Millionen, Anstieg um mehr als 250 000 seit dem letzten Quartal 2009, Arbeitslosigkeit nach Angaben des griechischen Arbeitsministeriums bei 18 % landesweit in einigen Großstädten zum Teil bei 25 % (Beispiel Piräus). Der Anteil von Frauen und Jugendlichen unter den Erwerbslosen ist überproportional hoch.
Prekäre Beschäftigung: Schätzungen liegen bei 1,5 Millionen, z. B. sind 12 000 Beschäftigte bei privaten Postbetrieben ohne Tarifvertrag, rückständige Lohnzahlungen, Unfälle im Außendienst werden nicht als Arbeitsunfälle behandelt. In privaten Telefonzentralen Beschäftigte mit Individualverträgen für 5 Tage in der Woche, darunter auch am Sonntag von 20-24 Uhr für 650 € im Monat. Leiharbeiter­­Innen arbeiten in großen Unternehmen für 650 € im Monat acht Stunden am Tag.
Renten: 70 % der Rentner­­Innen beziehen eine Rente, die bei 700 € und oft sogar noch darunter liegt.
In Großstädten gibt es inzwischen verstärkt ein bisher in Griechenland nicht gekanntes Phänomen: Obdachlosigkeit.

Claudio Reiser

 

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