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Betrieb & Gewerkschaft

Generalstreik als Mittel des Widerstands

Von B. B. | 01.10.2010

Im ersten Halbjahr 2010 war die Streikentwicklung in der BRD rückläufig. Ist es unter diesen Bedingungen sinnvoll, für einen (europaweiten) Generalstreik einzutreten?

Im ersten Halbjahr 2010 war die Streikentwicklung in der BRD rückläufig. Ist es unter diesen Bedingungen sinnvoll, für einen (europaweiten) Generalstreik einzutreten?

Den ersten politischen Massenstreik führten 1842 Hunderttausende Arbeiter­­Innen in Nordengland, als eine Petition der Chartist­Innen für das allgemeine Wahlrecht vom Parlament abgelehnt wurde. Die grundlegenden Debatten, die sich auch heute noch um den Generalstreik drehen (als Kampf für Sofortforderungen, revolutionäre Kampfmethode / Propaganda der Tat oder Mittel zum Aufstand?), wurden schon von den Chartist­Innen geführt.
Marxismus versus Anarchismus
Politisch trat zuerst der Anarchismus für den Generalstreik als Kampfmittel gegen den Krieg ein. Der Marxismus lehnte dies ab. Von Sozialdemokrat­Innen und Sozialist­Innen wurde Engels als Kronzeuge gegen den Generalstreik angeführt. Am rechten Rand der SPD traten Reformisten wie Bernstein und Eisler ebenso für den Generalstreik ein wie auf dem linken Flügel Hilferding und Rosa Luxemburg, während sich das Parteizentrum um Bebel zögerlich-defensiv verhielt. Der Ausdruck „Massenstreik“ wurde geprägt, um das Unwort „Generalstreik“ nicht in den Mund nehmen zu müssen. Die sozialdemokratische Gewerkschaftsbürokratie lehnte den Generalstreik rundheraus ab, wollte sie doch die eigenen Kassen schonen und die Existenz der Organisation im Kaiserreich erhalten.
Dass sich die Idee des Generalstreiks innerhalb der sozialistischen Arbeiter­Innenbewegung verbreiten konnte, ist aber weder dem Anarchismus noch dem revolutionären Marxismus, sondern dem Kampf der Arbeiter­Innenklasse selbst zu verdanken. Die Streiks der Arbeiter­Innen in Belgien 1886 und 1887 für das allgemeine Wahlrecht wiesen der Arbeiterpartei Belgiens 1891, 1893 und 1902 den Weg des Generalstreiks. Die spontane Streikwelle 1904 in Italien, als die Polizei in Sizilien auf Arbeiter­Innen schoss, ergriff das ganze Land und war der erste Generalstreik der Weltgeschichte.
Rosa Luxemburg und Trotzki
Den großen Durchbruch erzielte die Debatte um den Generalstreik mit der russischen Revolution von 1905. Die spontanen Streikwellen, die im Januar, Oktober und Dezember das Zarenreich überrollten, Millionen Arbeiter­Innen erfassten und in Generalstreiks gipfelten, demokratische Rechte durchsetzten und den Zarismus beinahe hinwegfegten, sind von Rosa Luxemburg in ihrer Broschüre Massenstreik, Partei und Gewerkschaften eingehend analysiert worden, wobei sie für die Diskussion in den deutschen Gewerkschaften mehr den taktischen Aspekt betonte. Für Rosa Luxemburg war der elementare Massenstreik wie in Rußland „eine historische Erscheinung, die sich in gewissem Moment aus den sozialen Verhältnissen mit geschichtlicher Nowendigkeit ergibt“. Für sie konnten solch umfassende Generalstreiks weder durch Propaganda noch Vorstandsbeschlüsse hervorgerufen werden, wobei sie die Propaganda für den Generalstreik durchaus befürwortete, der ja auch ihre Broschüre diente.
Einer der politischen Führer der Streikbewegung im St. Petersburger Arbeiter-Delegiertenrat war der sechsundzwanzigjährige Leo Trotzki. Für ihn, der in der Schrift Die russische Revolution 1905 mehr die strategischen Konsequenzen betonte, konnte der Generalstreik die Klassen der Gesellschaft nur einander gegenüberstellen, die Armee der Revolution mobilisieren und den Feind schwächen. Die Machtfrage konnte der Generalstreik nicht lösen. Dazu bedurfte es des bewaffneten Aufstands wie im Dezember 1905 in Moskau oder in der Oktoberrevolution 1917.
Große Generalstreiks
Bespiele für elementare Streiks im Sinne Rosa Luxemburgs waren z. B. der Generalstreik 1920 in Deutschland, der den monarchistischen Militärputsch des Generallandschaftsdirektors Kapp und des Generals von Lüttwitz scheitern ließ. Das organisierte Element spielte eine große Rolle, hatten doch Gewerkschaften, SPD und USPD, nicht aber die KPD, zum Streik aufgerufen, aber auch der spontane Widerhall. Gegen putschende Reichswehr und Freikorps bildete sich die Rote Ruhrarmee, die sich nach der Niederschlagung des Coups unter dem Einfluss von SPD und USPD freiwillig entwaffnen ließ bzw. durch reaktionäre Truppen niedergeschlagen wurde.

Zwei weitere erfolgreiche Generalstreiks fanden in Frankreich ein riesiges Echo. Der eine brachte am 12.2.1934 allein in Paris eine Million Menschen gegen einen wenige Tage vorher stattgefundenen Sturm des französischen Faschismus auf das Parlament auf die Beine, der durch die gewaltige Gegenbewegung bald auseinanderfiel. Und nach dem Wahlsieg der Volksfront im Mai 1936 in Frankreich besetzten während eines Generalstreiks zwei Millionen Arbeiter­Innen die Betriebe. Die Gewerkschaft CGT wuchs innerhalb eines Jahres von einer Million auf fünf Millionen Mitglieder. Nur durch starke Arbeitszeitverkürzung und Lohnerhöhungen konnte unter der Vermittlung des Reformismus die Herrschaft des Kapitals in den Betrieben wieder hergestellt werden.
In der jüngeren Geschichte erreichte der Generalstreik im Mai 1968 unglaubliche Ausmaße, als in Frankreich zehn Millionen Lohnabhängige das Land für Wochen unregierbar machten. Daraufhin unterschrieb die kommunistische Gewerkschaftsführung ein Abkommen, das mit keiner einzigen Forderung den Kapitalismus in Frage stellte. Die Arbeiter­Innen lehnten es zwar ab, aber eine alternative revolutionäre Partei, die die Gunst der Stunde zu nutzen wusste, gab es nicht.

In Italien griff über das ganze Jahr 1969 eine Streikwelle um sich, die Millionen im „schleichenden Mai“ erfasste.  Die Herrschaft der Kapitaleigner­Innen in den Betrieben wurde aus den Angeln gehoben und konnte z. B. bei FIAT erst 1980 (!) wieder hergestellt werden. Allerdings wurde das revolutionäre Potenzial vertan, indem zwar in den Betrieben Strukturen der Doppelmacht entstanden, aber der Aufbau einer revolutionären Alternative in den Gewerkschaften und damit einer über den Einzelbetrieb hinausreichenden Perspektive verweigert wurde. Letztendlich fanden Kapital, Regierung und Gewerkschaften einen Kompromiss, dessen Nachwirkungen noch heute in Italien zu spüren sind.
Europaweite Aktionsperspektiven
Wer hier und heute für einen Generalstreik eintritt, will damit weder einen Krieg, einen Putsch des Militärs oder eine faschistische Machtübernahme verhindern, noch umgekehrt zum revolutionären, bewaffneten Aufstand schreiten. Generalstreik meint einen Proteststreik gegen den sozialen Kahlschlag und gegen die Offensive des Kapitals.
Die Situation ist aber anders als vor 50 oder 100 Jahren. Mit der Europäischen Union stehen die Arbeiter­Innen der verschiedenen Länder einem zentralisierten, koordinierten Feind gegenüber, der die Abwälzung der Krise des kapitalistischen Systems auf die Arbeiter­Innenklasse anleitet. Das Bewusstsein, dass der Widerstand international organisiert werden muss, nimmt unter Gewerkschafter­Innen zu. Selbst der Europäische Gewerkschaftsbund muss darauf reagieren und mobilis
ierte am 29. September knapp 100 000 Mitglieder nach Brüssel gegen ein Treffen der EU-Finanzminister­Innen. Die Gewerkschaften im spanischen Staat riefen am gleichen Tag zum Generalstreik auf. Allerdings demonstrierten die Gewerkschaften in Luxemburg bereits am 16. September. In Frankreich gingen am 7. September drei Millionen Menschen gegen die Verlängerung des Renteneintrittsalters auf die Straßen. Was wäre, wenn all diese Aktionen am gleichen Tag stattgefunden hätten?

Durch den sozialen Kahlschlag impft die „EU-Regierung“ den Arbeiter­Innen die Notwendigkeit der internationalen, gemeinsamen, koordinierten Aktion ein, die die Ungleichzeitigkeit der Entwicklung, die verschiedenen Traditionen und Aktionsformen früher oder später überwinden wird und z. B. in einem von den Gewerkschaften organisierten europaweiten Generalstreik münden kann. Elementare Streikwellen im Sinne Rosa Luxemburg würden jedoch viel weiter gehen, und, irgendwo beginnend, über die Ländergrenzen hinwegschwappen.
Streik- und Konjunkturentwicklung
In der BRD ist die größte Gegnerin eines Generalstreiks traditionell die Gewerkschaftsbürokratie. Allerdings debattiert ihr linker Flügel seit mehreren Jahren über den „politischen Streik“, der einen Teilaspekt des Generalstreiks betrifft. Diese Diskussion greift unter Vertrauensleuten und Betriebsräten weiter um sich.

Die Basis für einen Generalstreik bildet die allgemeine Streikentwicklung. Nur wenn diese einen Aufschwung nimmt, ist ein Generalstreik überhaupt möglich. Im ersten Halbjahr 2010 gab es jedoch in der BRD einen deutlichen Rückgang der Arbeitskämpfe. Hier wurden nur 86 000 Streikende (ein Drittel des Vorjahresvergleichszeitraums) und 140 000 Streiktage (gegenüber 350 000 im ersten Halbjahr 2009) gezählt.

Die Streikentwicklung steht in engem Zusammenhang mit dem Konjunkturverlauf. Sie ist auf dem Tiefpunkt einer Weltwirtschaftskrise mit Massenentlassungen und mangelnder Auslastung der Produktionskapazitäten rückläufig. Eine Konjunkturbelebung, wie sie ab dem 2. Halbjahr 2010 zu spüren ist, stärkt dagegen das Selbstbewusstsein der Lohnabhängigen. Sie fühlen sich wieder gebraucht. Das Bedürfnis das Verlorene zurückzuholen – in der BRD erfolgte sogar in der letzten Hochkonjunktur ein Reallohnrückgang – greift um sich. Die aktuelle Stahltarifrunde ist Ausdruck davon. Eine positive Konjunkturentwicklung in ganz Europa wird die Kämpfe um höhere Löhne, kürzere Arbeitszeit und gegen den Sozialabbau unweigerlich beleben. Mit solchen Streiks würde dem „politischen Streik“ bzw. dem „Generalstreik“ eine Grundlage verschafft.
Den Boden vorbereiten
In der BRD treten nur einige trotzkistische und anarchistische Organisationen für den „Generalstreik“ als Kampfmittel ein. Es versteht sich von selbst, dass Organisationen, die mehr oder weniger am Rande der Arbeiter­Innenklasse stehen, nicht einem Generalstreik „ausrufen“ können. Das schaffte selbst die KPD der Weimarer Republik mit über einhunderttausend Mitgliedern nur ein einziges Mal 1923. Propaganda für einen europaweiten Generalstreik kann nur kleine Kreise von Aktivist­Innen erreichen. Sie ist der Versuch, dem zersplitterten Widerstand eine gemeinsame, internationalistische Perspektive des Kampfes zu vermitteln, die die Offensive des Kapitals in der EU auch wirklich stoppen kann. Generalstreiks als Proteststreiks werden von Gewerkschaften ausgerufen; umfassende, elementare Generalstreiks sind Ausdrucksform des Klassenkampfes der Arbeiter­Innen selbst. Aufgabe der Revolutionär­Innen ist es also nicht den Generalstreik zu „machen“, sondern den Boden zu lockern, auf dem die Saat des Generalstreiks aufgehen kann. 

Einen Flyer des RSB zur Stahltarifrunde findest du unter www.rsb-ruhrgebiet.de.

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