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Betrieb & Gewerkschaft

Freigabe der Ladenöffnungszeiten: Ein Angriff auf uns alle!

Von Daniel Berger | 01.01.2007

Mit den neuen Landesgesetzen zur Freigabe der Ladenöffnungszeiten haben die Herrschenden einen großen Schritt in Richtung generelle Flexibilisierung aller Arbeitszeiten durchsetzen können. Die Argumentation von ver.di gegen diese Gesetze und die bisher erkennbaren Abwehmaßnahmen greifen viel zu kurz. Bisher konzentrieren sich die Stellungnahmen von ver.di und den Kirchen auf den besonderen Schutz der Familie und auf die Sonntagsruhe.

Mit den neuen Landesgesetzen zur Freigabe der Ladenöffnungszeiten haben die Herrschenden einen großen Schritt in Richtung generelle Flexibilisierung aller Arbeitszeiten durchsetzen können. Die Argumentation von ver.di gegen diese Gesetze und die bisher erkennbaren Abwehmaßnahmen greifen viel zu kurz.

Bisher konzentrieren sich die Stellungnahmen von ver.di und den Kirchen auf den besonderen Schutz der Familie und auf die Sonntagsruhe. Dabei haben sie zwei Abwehrmaßnahmen im Auge: Eine Verfassungsklage und die Beschränkung der Ladenöffnungszeiten (meist auf 22.00 Uhr) über entsprechende Betriebsvereinbarungen. Die Öffentlichkeitskampagne von ver.di ist eher schwach und hat bisher als schärfste Waffe…diverse Unterschriftenkampagnen (so etwa in Thüringen) eingesetzt. Bleibt es darauf beschränkt ist die Gegenwehr zum Scheitern verurteilt.
Deregulierung
Die unmittelbarste Auswirkung der längeren Betriebsnutzungszeiten ist die gesundheitliche Beeinträchtigung, die sich aus dem Schichtdienst ergibt. Heute schon arbeiten fast 10% der Beschäftigten mindestens zeitweise nachts und jedeR siebte arbeitet sonntags (s. Kasten 1). Die neuen Gesetze werden dieser Entwicklung einen gewaltigen Schub verleihen. Auch die bisher üblichen tariflichen Zuschläge kommen dadurch unter Druck (s. Kasten 2).

In den letzten 6 Jahren wurden nicht nur 90 000 Stellen im Einzelhandel ganz gestrichen (insgesamt arbeiten noch ca. 2,7 Mio. Beschäftigte im Einzelhandel): 713 000 Beschäftigte wurden in die geringfügige Beschäftigung gedrängt. Gerade der Austauschprozess des Personals mit dem Trend zu Minijobs wird mit der Freigabe der Ladenöffnungszeiten deutlich zunehmen.
Nicht nur werden mit der Flexibilisierung der Arbeitszeiten noch mehr Menschen von der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Mit dem Schichtdienst wird das Leben mit der Familie und den FreundInnen nachhaltig beeinträchtigt. Beschäftigte im Einzelhandel sind in ganz besonderem Maße den Unternehmerwünschen nach flexiblen Arbeitszeiten (etwa Arbeit auf Abruf) ausgesetzt. Für sie gehören folgende Probleme in Zukunft noch mehr zur Tagesordnung:
Wie soll man sich kurzfristig auf veränderte Arbeitszeiten einstellen? Wie geht man mit festen Verpflichtungen um, z.B. der Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen oder privaten Verpflichtungen?  „Wer trägt die Kosten, wenn es heißt, ‚ab morgen fangen Sie erst um16:00 Uhr an und bleiben bis 22:30 Uhr oder länger’? Wie kommt mensch zu später Stunde mit dem öffentlichen Personennahverkehr nach Hause? Wie lässt sich so kurzfristig die Betreuung der Kinder organisieren? Wer hilft den Kindern bei den Hausaufgaben? Wer holt sie vom Kindergarten oder Hort ab? Und wer bringt sie zum Fußball- oder Handballtraining, wer zum Musikunterricht?“ (aus einem Flyer von ver.di Berlin).
Trend zur Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft
Aber auch die nicht direkt Betroffenen werden unter dem verschärften Trend zur flexibilisierten Gesellschaft zu leiden haben. Zunächst über den Konzentrationsprozess im Handelskapital, denn die Familienbetriebe werden in dem dadurch verschärften Konkurrenzkampf nicht mithalten können, es sei denn diese Familien betreiben  extremen Raubbau an der eigenen Gesundheit. Dadurch wird ein vermehrtes Ladensterben einsetzen und die Ladendichte wird deutlich sinken. Die Folge: verlängerte Wege zum Einkauf, worunter vor allem (aber nicht nur) Arme, Alte und Behinderte zu leiden haben. Gleichzeitig wird der (hauptsächlich motorisierte) Individualverkehr zu den zwangsläufig weiter entfernten Geschäften zunehmen. Und: Die Städte kommen auch spätabends nicht mehr zur Ruhe. Die Verlärmung der Städte und ihres Umlandes wird zunehmen.

Doch niemand wird sich mehr über die Tendenz zur weiteren Flexibilisierung freuen als das industrielle Kapital. Wird erst einmal das ganze Leben „flexibilisiert“, wird der Schichtdienst, die Nacht- und Sonntagsarbeit erst einmal zum völlig „normalen“ Leben und fallen dann erst mal im Dienstleistungssektor die Schichtzulagen, dann wird auch der Druck in der Industrie sehr groß werden, Zulagen oder Arbeitszeitbeschränkungen am Wochenende als „überholt“ hinzunehmen.
Mit den nächtlich geöffneten Geschäften kann eine gewisse Verschiebung der Umsätze hin zu den großen Kaufhäusern vorangetrieben werden, aber der Gesamtumsatz wird logischerweise nicht steigen. Der ist und bleibt von der Kaufkraft abhängig und die wird mit dieser Entwicklung eher gedrückt als angehoben.

Die wichtigste Funktion der aktuellen Gesetzesänderungen für das Gesamtkapital und für die Politik ist die Funktion des Türöffners zur Deregulierung der gesamten Arbeitswelt. Denn längere Maschinennutzungszeiten in der Industrie sind für das Kapital ein unschätzbarer Gewinn. Werden die Maschinenlaufzeiten beispielsweise am Wochenende um zwei Schichten (später vielleicht auch um 3 oder 4 Schichten) verlängert, verkürzt sich die Amortisierungsphase um bis zu 20 (resp. 30) Prozent. Mit anderen Worten: Es verkürzt sich damit die Umschlagszeit des fixen Kapitals (also die Verwertungszeit für Maschinen und Anlagen), mit direkten Auswirkungen auf die Profitrate. Vor allem das Kapital der Exportindustrie würde davon profitieren. Alle politischen Kräfte, die der Standortpolitik huldigen, unterstützen deswegen offen oder verdeckt diese Tendenz. Letztlich war auch die Linkspartei in Berlin von diesem Gedanken beherrscht, als sie zusammen mit der SPD den Vorreiter für die Freigabe machte. Dass selbst die CSU in dieser Frage links von der L.PDS steht ist mehr als peinlich. Und dass der Berliner Landesverband nur kritisiert wurde, aber nicht zur Änderung seiner Politik gezwungen werden konnte (oder sollte?) wirft ein bezeichnendes Bild auf diese Partei.
Alles verloren?
Bisher führen die Beschäftigten in den Kaufhäusern einen sehr schweren Kampf, denn längst nicht überall können sie sich auf ihre Betriebsräte (so es sie in ihrem Haus gibt) verlassen, wenn es um die Festlegung neuer Arbeitszeiten geht. Viele sind schon unter dem Argumentationsdruck der Konkurrenz eingeknickt. Einige Betriebsräte werden auch zurzeit gekauft. Am krassesten ist dies bei Metro der Fall, bei der die Arbeitszeiten eh meist schon anders sind und wo bisher schon die Betriebsräte bisweilen eine Sonderstellung haben (nicht nur den Metroeinkaufsausweis, sondern auch Firmenwagen etc.).

Die Gewerkschaft (ver.di) wendet sich zwar gegen die Nacht- und Sonntagsarbeit, aber ihre Argumentation gegen eine Ausdehnung auf 22.00 Uhr ist viel zu defensiv und nur auf Fahrgelegenheiten, Rotation und Z
uschläge konzentriert. Damit lässt sich aber nichts wirklich verhindern. Am schlimmsten sind die Versäumnisse in der Bündnispolitik. Weder werden die anderen Gewerkschaften öffentlich und offensiv aufgefordert, die Interessen der Beschäftigten im Einzelhandel zu verteidigen, noch gibt es konkrete Aktionsvorschläge.

Den KollegInnen in allen anderen Branchen gilt es klar zu machen: Diese Flexibilisierung bedroht auch sie, der Druck auch auf ihre Arbeitszeitregelungen wird wachsen. Arbeit auf Abruf ist auch für das industrielle Kapital eine Wunschvorstellung. Schon aus Eigeninteresse gilt es aktive Solidarität zu üben, sowohl bei gewerkschaftlichen und politischen Aktionen gegen diese Regelungen wie auch beim eigenen Verhalten als KonsumentInnen (KäuferInnen).

Bisher waren die Stellungnahmen der anderen Gewerkschaften äußerst mau. Deswegen wären Aktionen vor den Kaufhäusern zum Wachrütteln nicht schlecht. Aktionskomitees können sich aus Beschäftigten, RentnerInnen, Erwerbslosen und Abordnungen anderer Gewerkschaften zusammensetzen. Nichts wäre jedenfalls fataler als diesen Kampf den (oft nur Teilzeit- oder prekär) Beschäftigten in den Kaufhäusern zu überlassen.

 

JedeR siebte Beschäftigte muss sonntags arbeiten
Nacht-, Wochenend- und Schichtarbeit nehmen stark zu. 19,3 Millionen Menschen waren 2004 von einer dieser als „atypisch“ bezeichneten Formen der Arbeitszeit betroffen. Das sind 51 Prozent aller abhängig Beschäftigten. 1991 waren es erst 38 Prozent […] So leisten 4,2 Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer (14,1 Prozent aller Beschäftigten) ständig oder regelmäßig Sonn- und Feiertagsarbeit. Gut 2,7 Millionen Beschäftigte (9,2 Prozent) arbeiten ständig oder regelmäßig in der Nacht. Zwischen beiden Gruppen gibt es zudem Überschneidungen.
15.07.2005

Aus: WSI-Tarifarchiv vgl. auch Die ZeitSchrift unter: www.tempi.de

Zuschläge unter Druck
„Unser Ziel sind kundenfreundliche Öffnungszeiten, und die sind mit dem derzeitigen Zuschlagsystem aus dem vorigen Jahrhundert nicht möglich“, sagte Pellengahr (Geschäftsführer des Hauptverbandes des Deutschen Einzelhandels). Die Extrazahlungen von im Schnitt 20 % ab 18.30 Uhr und 50 Prozent nach 20 Uhr seien weder zeitgemäß noch bezahlbar. Pellengahr warnte die Gewerkschaften, es gehe nicht um Besitzstandswahrung, denn den Zuschlag von 50 % hätten in der Realität bisher nur wenige Beschäftigte bekommen, da kaum ein Geschäft nach 20 Uhr habe öffnen dürfen. Wenn die Betriebe nun aber vermehrt draufzahlen müssten, weil sie länger öffneten, würden viele dem Flächentarif den Rücken kehren.

 

Arbeit außerhalb normaler Zeiten
So viele Beschäftigte arbeiten:
samstags: 33 % (1991), 41 % (2004)
sonntags: 17 % (1991), 22 % (2004)
nachts: 13 % (1991), 14 % (2004)
in Wechselschicht: 13 % (1991), 15 % (2004)
Quelle: Seifert 2006, Heft 18/2006 der Hans-Böckler-Stiftung 
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