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Frankreich: Rente mit 62?

Von Pierre Vandevoorde | 01.10.2010

Die Regierung Sarkozy will den Renteneintritt auf das 62. Lebensjahr, zwei Jahre später als bisher, hinausschieben. Vor 67 soll es keine Vollrente mehr geben. Auch wenn dies „sukzessive“ eingeführt werden soll, bleibt es inakzeptabel.

Die Regierung Sarkozy will den Renteneintritt auf das 62. Lebensjahr, zwei Jahre später als bisher, hinausschieben. Vor 67 soll es keine Vollrente mehr geben. Auch wenn dies „sukzessive“ eingeführt werden soll, bleibt es inakzeptabel.

Diese Rentenreform war der Grund, weswegen am 7. September drei Millionen Menschen dem Aufruf der acht Gewerkschaftsverbände und der linken Parteien folgten und auf die Straße gingen – deutlich mehr als am 24. Juni und fast so viele wie am 29. März 2009. Und nie zuvor fand eine Mobilisierung so kurz nach dem Ende der Sommerferien statt!
Die Beteiligung war sowohl im öffentlichen Dienst als auch in der Privatwirtschaft außerordentlich hoch. Viele Leute, die sonst nicht auf Demonstrationen gehen, waren da: aus Kleinunternehmen, Handel, Reinigungsgewerbe… Und die Sektoren, die an der Spitze der langen Streiks von 2003 gestanden waren, wie bspw. die Lehrer, meldeten sich eindrucksvoll zurück. Und die Unverschämtheiten und Krisenerscheinungen der „Oberen“ lässt den Zorn von unten immer weiter anschwellen.
Ein missglückter Sommer – aus Sicht der Regierung
Illegale Spenden an die Regierungspartei und Steuerhinterziehungen von Liliane Bettencourt, Eigentümerin der L’Oreal-Gruppe und reichste Frau Frankreichs; ihr Vermögen wurde von der Frau des Arbeits- und früheren Haushaltsministers (und Schatzmeisters der UMP!) und heute Verantwortlichen für die Rentenreform – Eric Woerth verwaltet; Lügen und Ausreden, die gnadenlos auseinandergenommen wurden. Seit Ende Juni vergeht keine Woche ohne neue Enthüllungen, Vorladungen oder Durchsuchungen, sodass sich auf der Rechten inzwischen die Stimmen mehren, die seine Ablösung fordern.  Aber mitten in der Ausein­andersetzung um die Rentenreform könnte dieser Schuss nach hinten losgehen.
Eine Regierung der Reichen für die Reichen
Zur gleichen Zeit, in der immer mehr auf Kosten der Unteren gespart werden soll, lässt sich die Milliardärin Bettencourt (mit einem Vermögen von mindestens 17 Milliarden Euro) von ihren Steuern für 2006 – offiziell waren 77,7 Mio. als Einkommen deklariert – völlig legal 32,6 Millionen zurückerstatten, da die Steuerobergrenze auf 50 % gesenkt worden ist. Auf die letzten vier Jahre gerechnet summiert sich dies auf 100 Millionen Steuerersparnis. Zugleich streicht sie jedoch jedes Jahr mehr als 200 Millionen Euro Dividenden von L’Oreal ein. Und jetzt sollen die Arbeiter die Zeche für die Schulden zahlen, die durch die großzügigen Geschenke der Regierung an die Reichsten, durch Subventionen und Steuerbefreiungen für Sozialbeiträge – die weitgehend den Unternehmern zugutekommen – weiter steigen.
Die fremdenfeindliche Demagogie – Ein Spiel mit dem Feuer
Sarkozy versucht abzulenken und auf die Kriminalität zu kaprizieren, indem er u. a. Roma ausweisen lässt und die Unveräußerlichkeit der erworbenen französischen Staatsbürgerschaft infrage stellt, was seit 1940 unter Pétain nicht mehr vorgekommen ist. Aber dieses Manöver kehrt sich gegen ihn und selbst von rechts gerät er unter Beschuss, u. a. mit einer recht harschen Kritik seitens des Vatikans. Letztlich könnten davon v.a. die Neofaschisten der FN profitieren, wo die rührige Tochter von Le Pen sich um die Nachfolge ihres Vaters bemüht…

An den Protestkundgebungen am 4. September haben über 200 000 Menschen teilgenommen, wenn auch vorwiegend auf der Basis der „Verteidigung der republikanischen (bürgerlichen) Werte“, wogegen sich die NPA klar abgegrenzt hat. Nichtsdestotrotz war das keine Kleinigkeit und vertiefte die Legitimationskrise der Regierung am Vorabend des 7. September.
Wird der 23. September eine Steigerung bringen?

Die Gewerkschaftskoordination hat für den 23. September zu einem neuen Aktionstag mit Streiks und Demonstrationen aufgerufen1. Nicht unterzeichnet haben Solidaires, die für den 15. plädieren, und der Gewerkschaftsverband FO, der die Rücknahme des Gesetzes fordert. Trotzdem schließen sich beide der Bewegung an.

Vom Kräfteverhältnis wäre ein kurzfristiger Folgetermin möglich gewesen und unter vielen kämpferischen Belegschaften und selbst unter den Hauptamtlichen der meisten Gewerkschaften war die Enttäuschung groß. Es gibt überhaupt keinen Zweifel daran, dass die beste Strategie in der Konfrontation mit der Regierung darin bestanden hätte, zu einem früheren Termin zu mobilisieren und die Mobilisierung gegen die Regierung, die ihren Gesetzesentwurf offensichtlich so schnell als möglich (spätestens bis zum 10. Oktober) durchbringen will, dadurch zu forcieren. Aber die CFDT will auf keinen Fall in Konfrontation zur Regierung gehen und die CGT schwankt zwischen dem Aufbau der Einheit und dem Aufbau des Widerstands.

Der jetzt festgelegte Termin wird den Herausforderungen keineswegs gerecht, aber, nachdem er nun mal feststeht, werden die Genoss­­Innen der NPA nicht nur alles daran setzen, dass der 7. September noch übertroffen wird, sondern dass auch der unbefristete Streik in möglichst vielen Sektoren auf die Tagesordnung kommt. Dahinter steht die Absicht, zum Generalstreik überzugehen und sich ein Beispiel an den Mobilisierungen gegen den Erstanstellungsvertrag (CPE) von 2006 zu nehmen, als die Regierung Villepin sogar nach der Verabschiedung des Gesetzes zum Rückzug gezwungen wurde.

Der 15. September selbst – Tag der Gesetzeslesung – war gekennzeichnet von Demonstrationen und Versammlungen, die zur Unterstützung für den 23. gedacht waren.

Wenn dieser Artikel erscheint, wird die Entscheidung sicher schon gefallen sein. Aber ungeachtet des Ausgangs werden sich die Genoss­­Innen der NPA mit all ihren Kräften und gemeinsam mit den anderen radikalen Sektoren dafür engagiert haben, mit einer Lahmlegung des Landes die Rücknahme dieses Gesetzes durchzusetzen. Die Voraussetzungen sind gegeben, dass nicht nur der Angriff gegen die Renten abgewehrt, sondern die Regierung Sarkozy zu Fall gebracht werden kann.
Und auf der Linken?
„Ich glaube, dass man auf 61 oder 62 Jahre hinaufgehen muss, und das wird sicher kommen“, so der O-Ton von Martine Aubry, der Vorsitzenden der PS, im Januar 2010. Die katastrophalen Auswirkungen dieser Erklärung haben sie binnen einer Woche zurückrudern und sich gegen eine Rentenreform aussprechen lassen.

Dies verdeutlicht, wie unpopulär die Reform und wie breit die Mobilisierung dagegen ist. Die PS hat gerade öffentlich erklärt, dass sie wieder die Rente mit 60 einführen wird, wenn Sarkozy bei den nächsten Präsidentschaftswahlen 2012 verliert. Aber als Jospin von 1997 bis 2002 an der Macht war, hat er das Gesetz Balladur nicht zurückgenommen, mit dem für
die volle Rente eine Verlängerung der Beitragsdauer in der Privatwirtschaft von 37,5 auf 40 Jahre eingeführt wurde.

Für die Linkspartei und die KP sind die Grenzen klar umrissen. Es kommt nicht in Frage, das Vorgehen der Gewerkschaftsführungen zu kritisieren, wie das die NPA tut (und was dazu geführt hat, dass die CGT-Führung keinen Vertreter zu dem strömungsübergreifenden Meeting über die Rentenreform, das mit 1200 Teilnehmenden die Sommeruni der NPA abschloss, geschickt hat). Der neue Generalsekretär der KP lässt keinen Zweifel: „Die KP steht voll hinter den Gewerkschaften, die ihren Job prima erledigt haben. Man darf nicht kleinlich sein, sondern muss ihnen Vertrauen schenken“ (Erklärung auf dem Pressefest der l’Humanité).


Artikel vom 15.9.2010, Übersetzung MiWe

1     Am 23.9., einem Werktag (!), waren 3 Mio. auf der Straße. Anm. d. Red.

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