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Länder

Flammen des Widerstands und der Hoffnung in der Türkei

Von Hürriyet | 28.07.2013

Dieses Interview von Zeynep Bilgehan mit Tariq Ali wurde am 18. Juni 2013 für die türkische Zeitung Hürriyet (Freiheit) geführt.Tariq Ali ist unter anderem Autor des Buches „Das Obama Syndrom“.

Dieses Interview von Zeynep Bilgehan mit Tariq Ali wurde am 18. Juni 2013 für die türkische Zeitung Hürriyet (Freiheit) geführt.Tariq Ali ist unter anderem Autor des Buches „Das Obama Syndrom“.

Zeynep Bilgehan:
Du hast eine Solidaritätsbotschaft für die Protestierenden von Ankara veröffentlicht. Zuerst: Wie lange warst Du in Ankara und was war der Zweck Deines Besuchs?

Tariq Ali:
Ich war drei Tage lang auf Einladung der Gemeinde von Cankaya in Ankara für eine öffentliche Lesung, die schon einige Monate zuvor abgesprochen war. Natürlich habe ich beobachtet, was an den Abenden los war. Unprovozierte Angriffe auf friedliche Demonstranten, ständiger Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern, als ich den Park besuchte und mit den jungen Leuten dort sprach.

ZB: Was denkst Du über die jüngsten Ereignisse insgesamt? Was passierte beziehungsweise passiert noch aus Deiner Sicht in der Türkei?

TA: Die Mischung aus scharfblickender Intelligenz, Furchtlosigkeit und die Wiedergeburt der Hoffnung, die ich miterlebt habe, waren sehr ermutigend. All das erinnerte mich in gewisser Weise an Europa (Paris und Prag) im Jahr 1968, noch deutlich mehr als der Arabische Frühling. Was in der Türkei passiert, ist vollkommen klar. Eine gewählte, autoritäre Regierung, dem Neoliberalismus und dem Krieg verpflichtet, glaubte, sie könne alles tun, was sie wollte, allein wegen ihres demokratischen Status. Das war ein dummer Fehler.

Als ich vor wenigen Monaten in Istanbul war, wäre es schwierig gewesen, nicht die Niedergeschlagenheit wahrzunehmen, welche Oppositionelle und Aktivisten eingehüllt hatte. Die Schließung eines der ältesten Kinos in Istiklal führte zu milden Protesten. Derartig mild, dass die Regierung sich vorstellte, sie könne ihren Einsatz für Selektion und Zerstörung beschleunigen. Sie hatte sich gründlich verrechnet.

Der Premierminister insbesondere, ein wahrer Sultan der Bauindustrie, weigerte sich zurückzutreten und setzte auf Repression. Das war der Bruchpunkt. Auch Leute, die von der vorgesehenen Zerstörung des Gezi-Parks nicht betroffen waren, traten heraus und protestierten in riesiger Anzahl. Je mehr Repression, umso mehr wuchs der Protest und verbreitete sich praktisch über das ganze Land, abgesehen von vier kurdisch dominierten Städten. Eine Kampagne zur Rettung des Parks wurde zu einer nationalen Erhebung gegen ein starrsinniges und aggressives Regime.

ZB: Du sagst, dass die türkischen Demonstranten in Europa Hoffnung entzündet haben. In welchem Sinne haben sie Hoffnung entzündet?

TA: In dem Sinne, dass die Ereignisse in der Türkei Teil der Krise des neoliberalen Kapitalismus sind. In Spanien, Griechenland und Portugal hat es Generalstreiks gegeben, Demonstrationen usw.  Selbst als Erdogan die Repressionskräfte des Staates einsetzte, um die Bauindustrie zu begünstigen, hat die griechische Koalitionsregierung den staatlichen Rundfunk und das Fernsehen geschlossen, um Journalisten zu entlassen. Die mutigen türkischen Staatsbürger haben in einem wichtigen Moment eine neue Front eröffnet. Und ihr Funke könnte sehr wohl nach Frankreich, oder wer weiß, in den kommenden Monaten vielleicht sogar nach Großbritannien und Deutschland überspringen.

ZB: Was, glaubst Du, wird das Ergebnis der Proteste sein?

TA: Das Ausschlaggebende, wie ich in meiner Solidaritätsbotschaft gesagt hatte, ist, dass die Regierung sich selber diskreditiert hat, mit Hilfe der zahmen und dienstbeflissenen türkischen Medien, welche die Besetzer des Taksim-Platzes in den ersten Wochen ignoriert, verunglimpft und heruntergespielt hatten. Die Jounalisten, die dabei mitgemacht haben, sollten vor Scham im Boden versinken. Ob und wie sich die neue Opposition aufstellen wird, ist schwer zu sagen.  Aber wenn es gelingt, eine neue, demokratisch strukturierte Bewegung aufzubauen (wie z.B. Syriza in Griechenland), könnte sie den Unteren eine bleibende Stimme verleihen.

Wöchentliche, öffentliche Versammlungen in Istanbul, Ankara, Izmir, Bordrum, Antakiyya und anderen Städten, welche die auswärtige und heimische Lage diskutieren und über den Aufbau einer neuen Bewegung berichten, würden etwas Bleibendes errichten und die wiederholte Räumung der Plätze als etwas bedeutungslos erscheinen lassen. Das ist meine Hoffnung.

ZB: In Deiner Botschaft erwähnst Du kurz, dass „auf lange Sicht die türkische Politik umgestaltet werden wird“. Könntest Du das ausführen? Was wird passieren? Wie wird die Türkei sich verändern?

TA: Die Türkei hat sich verändert. Das wird in dem, was wir miterleben, deutlich. Wie ich schon sagte, liegt der Schlüssel darin, diesen Wandel zu institutionalisieren, so dass die türkische Demokratie besser wird. Echte Demokratie, im Gegensatz zur real existierenden, ist ein zartes Pflänzchen. Es muss genährt und gepflegt werden, aber weder mit dem Blut der Bürger noch durch ständige Überwachung (erinnernd an die Stasi und die tote DDR, aber technisch auf höherer Entwicklungsstufe und damit noch herabwürdigender) oder Drohnen und Folter oder Gef
ängnis für diejenigen, welche die Wahrheit aussprechen. Der neoliberale Kapitalismus höhlt die Demokratie aus. Wer die kapitalistischen Angriffe bekämpft, stärkt auch die Demokratie.

ZB: In einem früheren Interview haben wir über den Arabischen Frühling gesprochen. Du hattest gesagt: „Der Frühling ist zum Winter geworden“. Kannst Du die Ereignisse in der Türkei mit dem Arabischen Frühling vergleichen? Was ist ähnlich und in welchem Sinne unterscheiden sie sich?

TA: Die Ähnlichkeit liegt im Ausmaß der Erhebung, ansonsten unterscheidet sich die Situation. Wie ich schon sagte, ist die Türkei in Hinsicht auf das Geistesleben und die politische Kultur viel näher an Europa. Man muss bloß mal in die Bücher sehen, welche aus Europäischen Sprachen übersetzt worden sind, in die Lehrpläne der Schulen und Universitäten usw., um das zu bemerken. Der Instinkt und die Ausdrucksweise der Demonstrierenden bestätigen das, wenigstens meiner Meinung nach. In der Türkei, in Spanien, Griechenland und Portugal hat es Miltärdiktaturen gegeben.

Gegenwärtig, wo die Vereinigten Staaten sich von Diktaturen bei ihren Verbündeten abgewendet haben, hat die Türkei profitiert. Jedoch glaubt das neue Regime, und insbesondere der Premierminister, dass sie auf die gleiche alte Weise herrschen können. Erdogans Projekt ist, sich als Anti-Atatürk zu gerieren, wobei er die Sprache der NATO benutzt und in das Gewand eines „gemäßigten“ Islam schlüpft. Seine „Mäßigung“ haben wir die letzten Wochen erfahren.  Die Idee, dass der islamische Konservatismus die wirklichen Probleme lösen könne, mit der Türkei als Modell, erscheint inzwischen in der Türkei als schlechter Scherz, von Ägypten und Tunesien mal ganz abgesehen.

ZB: Könnten wir diese Bewegung einen Türkischen Frühling nennen? Warum?

TA: Warum sich mit dieser Phrase herumschlagen. Sie ist schon verbraucht.

ZB: Besteht die Gefahr, dass daraus auch ein Winter wird? Was muss getan werden, um so etwas zu verhindern?

TA: Die Geschichte lehrt, dass es unmöglich ist, eine Bewegung unendlich lange auf demselben Niveau zu erhalten. So sollten wir so eine Möglichkeit nicht einmal in Betracht ziehen. Die wirkliche Frage ist, wie es nach dieser ersten Phase weitergehen kann. Dazu habe ich schon einige Vorschläge gemacht. Organisation von unten her, um neue Politik ins Leben zu rufen. Eine breite und vereinigte Bewegung wird eine politische Plattform brauchen, etwas, wofür in den kommenden Jahren gestritten werden kann.

ZB: Wie wird diese Bewegung den Nahen Osten beeinflussen?

TA: Als das syrische Außenministerium seinen Bürgern jüngst dazu geraten hatte, nicht in die Türkei zu reisen, wegen Unruhen und Repression, war das offizielle Satire vom Feinsten, und das beantwortet Deine Frage. In Ankara erinnerte mich der Personenkult um Erdogan ein wenig an Mubarak und Assad.

ZB: Am Schluss Deiner Botschaft heißt es: „Ergreift die Initiative, die Besetzungen zu reduzieren, aber kommt zusammen, um zu zeigen, dass ihr noch da seid.“ Kannst Du das ausführen? Wie sollten die Demonstrierenden weitermachen?

TA: Ich meinte damit, dass es für eine Bewegung immer besser ist, sich für einen zeitweiligen Rückzug zu entscheiden, welcher nicht politisch, sondern lediglich taktisch ist.

ZB: Glaubst Du, dass daraus eine politische Bewegung entstehen kann? Sollte sie entstehen oder sollte die Bewegung als ziviler Ungehorsam weitermachen?

TA: Wie ich vorhin gesagt habe, wäre die Geburt einer politischen Bewegung die beste Weiterentwicklung. Die Türkei ist ein Land ohne wirkliche Opposition, seit sowohl der konservative Islamismus als auch der konservative Nationalismus in Einklang sind mit dem Neoliberalismus, mit der NATO,  mit strikter Kontrolle der Medien, mit Einsperren von Journalisten usw.. (Die Türkei hat in diesen Disziplinen eine Goldmedaille.) Es gibt da ein Vakuum. Der Moment ist vielversprechend. Erdogans Demagogie hat ihm einige seiner Verbündeten entfremdet.

Sozial konservativ, politisch skrupellos, wirtschaftlich mit bestimmten Branchen verbunden und militärisch der NATO liebste Islamisten, hat die Partei an der Macht die Stimme der Straße ignoriert. Die Wahrheiten, die in einer Stadt nach der anderen ausgerufen wurden, mögen der Regierung nicht schmecken, aber sie sind viel mehr Wert als die honigsüßen Ergüsse der Soldschreiber und Fernsehmoderatoren der offiziellen Medien. Und was immer mit den 60 vom Regime erkorenen „Weisen“ geschehen ist: Ist ihr kollektives Gewissen gestorben?

Übersetzung aus dem Englischen von P. L.

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