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Faschismus im neuen Deutschland

Von Internationale Theorie Heft 1 | 17.10.2005

Die Deutschen haben sich vom Faschismus nicht befreien können wie die Völker Jugoslawiens oder eine breite antifaschistische Bewegung entwickeln können wie in Italien, wo es eine starke Partisanenbewegung und militante Streiks gab.

Die Gründe waren:

  • – antifaschistisch war im wesentlichen nur die Arbeiterbewegung gewesen. Die wurde als erstes brutal zerschlagen (bis 1939 300.000 Inhaftierte), die Aktivsten ermordet oder zur Emigration gezwungen.

  • – die Arbeiterschaft war durch den Krieg teilweise aufgelöst, da die Betriebe still standen oder aufs Land verlagert waren.

  • – viele waren gefallen, die anderen in Kriegsgefangenschaft. Die Deutschen durften aber auch nach dem Kriege den Nazismus nicht selbst bekämpfen. In den Westzonen wurde den Emigranten jahrelang die Einreise untersagt. Die überall entstandenen Antifa-Komitees wurden von der Militärregierung schon am 6. Juni 1945 verboten. Anstelle der politischen Überwindung des Nazismus trat die strafrechtliche Verfolgung durch die Besatzungsmächte. Selbst die war nur teilweise erfolgreich, auch wenn

  • – die Naziorganisationen verboten wurden.

  • – manche führenden Nazis bei Kriegsende Selbstmord begingen. Etwa 200.000 wurden interniert, Zehntausende tauchten unter und konnten nicht aktiv werden. Damit war die Organisation der Nazis zerschlagen und konnte auch in Ansätzen nicht wiederaufgebaut werden.

  • – viele Kriegsverbrecher verurteilt wurden (etwa 50.000 – die letzten von ihnen sind 1958 entlassen worden). Vor Deutschen Gerichten wurden später last 100.000 Verbrechen, im wesentlichen gegen Deutsche, angeklagt, aber die Verfahren verschleppt, nur 6.500 wurden noch verurteilt. Gegen etwa 10.000 laufen die Verfahren formal noch heute!

  • – Hunderttausende aus dem Staatsapparat entlassen wurden. Viele nannte es Siegerjustiz. Zwar bekannte sich nur noch eine Minderheit zu Naziideen, aber auch nur eine, wenn auch größere Minderheit (etwa ein Drittel der
  • Menschen) als Nazigegner. Den meisten war es gleichgültig. Unter dem Zwang der Verhältnisse wurden aus nazistischen Untertanen demokratische. Die reaktionären Ideen waren damit nicht überwunden. Die alten, oberflächlich gewendeten Nazis beherrschten bald wieder Staat und Gesellschaft:

  • – der alte Staatsapparat war nur vorübergehend gesäubert, im wesentlichen übernommen worden. Die Entlassenen wurden wieder eingestellt, ihr Anspruch sogar verfassungsrechtlich gesichert (Art. 131 Grundgesetz), während seit Gründung der BRD Berufsverbote gegen Linke erlassen wurden.

  • – in den Betrieben, den Medien und im Bildungswesen überwogen die alten Nazis. Sie erzogen die nachrückende Generation. Offen faschistisches Auftreten war zwar geachtet, doch reaktionäres und obrigkeitsstaatliches Denken und Handeln bestimmten die Gesellschaft. 1957, als die neue Gesellschaft sich stabilisiert hatte, waren ein Zehntel für die Wiedergründung einer Nazipartei, nur jeder vierte wollte sie bekämpfen. Antifaschismus war Sache einer Minderheit. Das änderte sicherst mit der Jugendrebellion 1968. Die Kinder der Verbrecher und Mitläufer deckten die Verbrechen auf, bewiesen, daß alle von allem gewußt und alles hingenommen hatten. Sie entlarvten die Lebenslüge ihrer Eltern, die nichts gewußt haben wollten. Erst jetzt brach die Tradition des alten Faschismus ab und beschränkte sich auf den passiven Gesinnungsfaschismus der älteren Generation. Das heißt nicht, daß reaktionäres Denken überwunden wurde. Aber von nun an gab es auch eine breite demokratische Massenbewegung, zeitweise sogar eine sozialistische. Damit existierte ein antifaschistische Gegenkraft. Der offen auftretende Faschismus blieb bis in die achtziger Jahre vordergründig eine Randerscheinung. Er hatte kein aktuelles Programm, konnte seine Theorie den neuen Bedingungen nicht anpassen, distanzierte sich nicht glaubhaft von den Verbrechen und wagte dennoch nicht, sich offen zu bekennen. Die Mitgliederzahl der Faschos sank von etwa 80.000 im Jahre 1950 auf unter 20.000 Ende der siebziger Jahre, der Wähleranteil von 2% auf 0,2% Faschismus war keine Alternative mehr. Die Faschisten unterstützten meist die bürgerlichen Parteien, zuerst die Freien Demokraten (FDP), dann die Christlichen Demokraten (CDU/CSU). Aber viele eigenständige gesellschaftliche Basis aufbauen können. Selbst die Wahlergebnisse sind instabil. Die Wählerschaft räsoniert und beklatscht die Skinheads, ist aber feige und wird nicht aktiv. Durch den Terror, vor allem aber die Asyl-Hetze der Parteien und großer Teile der Presse ist die Hemmschwelle, sich zu bekennen, jedoch gesunken. Die reaktionäre Grundstimmung wurde verstärkt. Die brennenden Flüchtlingsheime brachten den Faschos einen Schub neuer Mitglieder.

  • Sie haben sich politisch festigen, ihre Basis ausbauen und einen soliden Wählerstamm aufbauen können. Insofern hat sich die Lage in den letzten fünf Jahren schon geändert. Sie stellen heute für Millionen eine denkbare Alternative dar. Das ist kein Spuk mehr, der mit ein paar Protesten und Verboten zu bannen ist. Er hat tiefe soziale Wurzeln in der Krise dieser Gesellschaft, stützt sich aber auch auf eine reaktionäre, teils faschistische Grundhaltung. Durch den Antifaschismus sind darum Faschistisches Denken zu bekämpfen, aber auch soziale Interessen glaubhaft zu verteidigen. Da keine Alternativen gedacht werden, dient der Nationalismus als gesellschaftliches Bindemittel – weit über den extrem rechten Rand hinaus. Jahrzehntelang wurde die faschistische Gefahr nur propagandistisch beschworen, jetzt ist sie akut. Die organisatorischen Mängel werden jedoch durch über Medien verbreitete Propaganda mehr als ausgeglichen.


Rechtsextreme Presse

Viele wundern sich, wie faschistische Ideen jahrzehntelang überleben konnten, wo sie offiziell doch verboten, zumindest geächtet waren. Vergessen wird, daß es in dieser ganzen Zeit in Westdeutschland eine reaktionäre oder offen faschistische Presse in hoher Auflage gab. Hinzu kommen zahlreiche Buchverlage mit teilweise beachtlichen Auflagen. Die "Auschwitz-Lüge" von Christophersen erreichte, obwohl sie nur illegal – das heißt unter dem Ladentisch – vertrieben wurde, etwa 100.000 verkaufte Exemplare. Die Angaben in der Tabelle 3 beziehen sich in einigen Fällen (Der Republikaner, Deutsche Rundschau, MUT, Unabhängige Nachrichten) auf Eigenangaben und dürften übertrieben sein. Dennoch wird eine Auflage von über 800.000 erreicht. Davon erreichen die Wochenzeitungen mehr als 200.000, die monatlich erscheinenden Publikationen etwa eine halbe Million Exemplare. Das ist eine gewaltige Pressemacht, die die weite Verbreitung faschistischer und re
aktionärer Ideen erklärt. In den letzten Jahren haben die altfaschistischen Publikationen (Deutsche National-Zeitung) ebenso wie die Blätter der Vertriebenenverbände (Auflage etwa 130.000) und reaktionärer Soldatenvereine (Auflage etwa 100.000) deutlich verloren. Das folgt aus der Überalterung altfaschistischer Verbände. Auf der anderen Seite nahm die Verbreitung offen nazistischer Publikationen zu, die meist ganz legal vertrieben werden. Viele von ihnen sind erst kürzlich gegründet worden. Die meisten werden informell vertrieben wie etwa die Zeitschriften der Skinheads, die hier gar nicht statistisch erfaßt werden können. Langfristig gefährlicher ist, daß die an die reaktionäre Intelligenz gerichteten Publikationen sprunghafte Auflagensteigerungen verzeichnen. Sie sind Diskussionsforen und Theorieorgane der vordergründig ideologisch und vor allem organisatorisch zersplitterten extremen Rechten und damit ein Instrument zur Schaffung der programmatischen Einheit und Entwicklung gemeinsamer Politik zumindest für große Teile des faschistischen und reaktionären Lagers. Es handelt sich um ein Dutzend Zeitschriften mit einer Auflage von annähernd 150.000.

Auch wenn viele Bezieher mehrere Abonnements haben, so kann doch davon ausgegangen werden, daß sie von über 100.000 Menschen gelesen werden, die sich folglich mit rechtsextremer Theorie beschäftigen und meist auch verbreiten. Nur eine Minderheit ist Mitglied der Parteien am "rechten Rand". Ein bedenkliches Symptom der ausufernden reaktionären Grundströmung im "guten Bürgertum" ist auch die Auflagensteigerung bei Publikationen wie die der Evangelischen Notgemeinschaften. Das sind reaktionäre christliche Gruppen am Rande oder außerhalb der evangelischen Kirche.

Auch wenn diese Zeitschriften sowie die der militaristischen und Vertriebenenverbande nur als mehr oder weniger sympathisierendes Umfeld gerechnet werden, so erreicht die offen rechtsextreme Presse doch eine Auflage von über einer halben Million. Höchstens ein Fünftel ihrer Bezieher ist organisiert – jedenfalls in rechtsextremen Gruppen. Das belegt, welche Möglichkeiten des Aufbaus und der Umgruppierung in diesem Lager bestehen und wie sehr es unterschätzt wird.

Faschistische Gefahr

Der Rechtsextremismus kann sich folglich auf einen weit verbreiteten Gesinnungsfaschismus, reaktionäres Denken und Ausländerfeindlichkeit stützen. Wahlanteile von 15% könnten bald überschritten werden.
Ihre Wählerschicht ist jedoch vorerst unorganisierbar. Sie bekennt sich nicht offen zur Partei, gibt bei Umfragen ihre Sympathien meist nicht einmal preis. So lange sich das nicht ändert, sind die rechtsextremen Parteien keine unmittelbare Gefahr. Sie haben zwei Dutzend Landtags- und über 600 Kommunalabgeordnete sowie hielten an ihren Vorstellungen fest: Ihre Wochen- und Monatspresse hielt eine Auflage von fest einer Millionen Exemplaren.

Neuorientierung

Etwa vor 20 Jahren setzte im faschistischen Lager eine programmatische Neuorientierung ein, die im letzten Jahrzehnt zu einer programmatischen und taktischen Differenzierung führte. Die Folge war ein Auslaufen des Alt- und Formierung eines Neo-Faschismus. Grob lassen sich vier Strömungen unterscheiden.

Es gibt weiter die Altfaschisten, die sich vor allem in der "Deutschen Volksunion" organisieren. Es ist  eine absterbende Strömung. Sie hat zur Zeit 22.000, meist ältliche Mitglieder, die keinerlei Parteistruktur bilden und auch individuell kaum aktiv sind. Praktisch kommen sie einmal jährlich zu einer Großveranstaltung in Passau zusammen. Ihre Bedeutung liegt in ihrem Vorsitzenden Dr. Frey, der die "Deutsche Nationalzeitung" herausgibt und einen Verlag betreibt. Sein Vermögen setzt er für Wahlkämpfe ein. Die DVU beteiligt sich jedoch nur dort, wo sie mit hohem finanziellem Einsatz Chancen sieht (Bremen und Schleswig-Holstein).

Die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) ist hingegen eine organisierte Partei von Aktiven (unter 7.000 Mitglieder). Sie distanziert sich formal vom Nazismus, versteht sich auch nicht als faschistisch, sondern nationalrevolutionär – was ein modernisierter Faschismus ist. Militante Aktionen werden von ihr aus taktischen Gründen abgelehnt. Seit 1987 hatte sie ein Bündnis mit der DVU, wodurch sie sich weitgehend finanzierte. Es liegt im Rahmen ihrer Bemühungen, das "nationale Lager" zu einen. Auf Wahlebene ist sie jedoch isoliert und kommt seit 15 Jahren meist nicht über 0,3% auf nationaler Ebene hinaus. Einen ähnlichen Charakter hat die "Deutsche Liga".

Von der NPD abgespalten hat sich der militante neo-nazistische Flügel seit Mitte der siebziger Jahre. Er bekennt sich offen zum Nazismus. Er operierte zunächst als Terrororganisationen im Untergrund, der um 1980 jedoch zerschlagen wurde. Seither arbeiten die Gruppen mit offener Propaganda. Gegenwärtig dürfen sie 3.000 organisierte Mitglieder und mindestens 5.000 sympathisierende und in lockeren Gruppen (Skinheads) erfasste Anhänger haben. Bei zentralen Treffen in Dresden und Bayreuth marschierten jeweils 2.000 Mann offen unter Naziparolen    auf – unter dem Schutz der Polizei, die das Demonstrationsrecht schützte. Diese Gruppen führen den Terror gegen Flüchtlinge und andere aus. Vordergründig sind sie in viele Organisationen zersplittert, die sich regional jedoch nicht überschneiden. Manches spricht dafür, daß zumindest viele der nach außen getrennt auftretenden Nazigruppen über die "Gesinnungsgemeinschaft der Neuen Front" organisiert und gesteuert werden.

Als mit der Übernahme der Regierung durch die CDU/CSU im Jahre 1982 die Hoffnungen auf eine durchgreifende "Wende" ausblieben, brachen Teile des rechten Flügels mit dieser Partei und gründeten die "Republikaner". Es ist eine reaktionäre Partei, die durch Infiltration des Staatsapparates und öffentlichen Druck einen starken oder autoritären Staat anstrebt. Sie hat etwa 23.000 Mitglieder und ist auf Wahlebene die vorherrschende Kraft geworden (siehe Tabelle 1).

100.000 organisiert

Der Verfassungsschutz schätzt die Zahl organisierter Faschos auf knapp 40.000, gibt aber selbst zu, die Zahl sei unvollständig. Nicht gezählt werden die REPs und die Mitglieder vieler Gruppen wie der HIAG (etwa 10.000), Bund für Gotterkenntnis und andere. Nicht erfaßt sind auch hordenähnliche Zusammenschlüsse von Skinheads, Hooligans, Fußballfans und ähnliche. Es ist sicher nicht übertrieben, von etwa 100.000 Faschos in organisierten Zusammenhängen auszugehen. Eine soziale Basis besteht in der faschistoiden Jugendkultur. Mit ihr identifizieren sich 5% der Jugendlichen, während ein Fünftel mehr oder weniger sympathisieren. Getragen wird der Faschismus von einer reaktionären Grundströmung. 13% denken antisemitisch und offen reaktionär, 38% haben Verständnis für rechtsradikale Tendenzen. Rechtsextremistische Parteien könnten folglich Wahlanteile von 15% überschreiten.

Das konnte bisher nur selten ausgenutzt werden, weil die Organisationen meist wenig leistungsfähig sind. Von den militanten Gruppen abgesehen besteht die organisierte Mitgliedschaft überwiegend aus um ihren Ruf besorgten, selten öffentlich auftretenden Bürgern, die frustrierende Organisationsarbeit scheuen und deren finanzielle Opferbereitschaft gering ist. Darum sind zumindest DVU
und REPs eher Wahl- und Gesinnungsvereine als Parteien. Abgesehen von Teilen der Soldaten- und Vertriebenenverbände haben sie noch keine Millioneneinkünfte aus staatlicher Parteienfinanzierung (5 DM je Stimme bei Wahlanteilen über 0,5%; Fraktionsgelder). Immerhin hat sich seit Mitte der achtziger Jahre die Lage geändert. Die Parteien haben sich organisatorisch gefestigt, einen festen Wählerstamm und gelten im öffentlichen Bewußtsein als eine Alternative. Wenn es den Faschisten gelingt, eine stärkere Organisation aufzubauen und ihre Anhängerschaft zu organisieren, dann kann sich die Lage rasch ändern. Das kann schon passieren, wenn anhaltend größere Wahlerfolge die bisher geduckten Anhänger ermuntert. Die Voraussetzungen dafür sind gegeben.

Zu bedenken ist auch, daß von die Existenz einer starken faschistischen Kraft die bürgerliche Demokratie auch konservative und reaktionäre Kräfte ermuntert, zumindest einen starken Staat zu errichten. Zwischen 1956 und 1976 hat es in den europäischen Nato-Staaten 41 Planungen für einen
militärischen Staatsstreich gegeben. 27 davon wurden ausgeführt, 8 waren erfolgreich.

Kurzfristig gefährlicher sind jedoch die offen auftretenden faschistischen Kräfte geworden. Sie sind vor allem in der arbeitenden und arbeitslosen Jugend aktiv und stützen sich auf Skinheads (7.000)und ähnliche Guppen. Früher tobte sich deren Gewalttätigkeit meist zufällig aus. Inzwischen haben sich die nazistischen Gruppen stabilisiert und leiten die Gangs an. Dabei konzentrieren sie sich fast ausschließlich auf jene, die am schutzlosesten sind, auf die Flüchtlinge (Asylanten) aus fremden Ländern. Ihr Ziel besteht offenkundig darin, durch diese Aktionen sich organisatorisch aufzubauen und militante Aktionen einzuüben. Es hat auch schon erste Beweise für die Bildung von legalen Terrorgruppen (Waffenfunde, Ausbildung).

Die Terrorwelle begann schon im Herbst 1990 und gewannen bald an Boden. Am 20. April 1991 (Hitlers 102. Geburtstag) wurde nach Randale, meist nach Fußballspielen, in Ostdeutschland 200 Faschos verhaftet. Bald traten sie in Gruppen mit bis zu 200 Leuten auf und griffen koordiniert Flüchtlingsheime an. Dahinter stehen natürlich steuernde Organisationen.

Das fand breite Sympathie. Ein Drittel oder fast 20 Millionen äußerten nach Umfragen "Verständnis" für diese Aktionen, wenn auch fast zwei Drittel sie ablehnen. Mindestens 30.000 Jugendliche sympathisieren offen mit solchem Terror und haben meist nur keine organisierte Gelegenheit, sich zu beteiligen. Jeder 20. Jugendliche denkt regelrecht faschistisch, er praktiziert es nur nicht. Damit existiert das Potential für den Aufbau einer militanten faschistischen Massenbewegung.

Ursachen

Eine sozialistische Organisation hat es auch in gesellschaftlichen Krisen ungleich schwerer als eine reaktionäre Partei, denn Sozialisten müssen als Vorbedingung erfolgreicher Arbeit erst ein neues Bewußtsein schaffen – Faschisten knüpfen an das existierende an. Das aber wird durch das gesellschaftliche Sein geprägt.
Im Kapitalismus soll, systemnotwendig, jeder nur an seinen persönlichen Vorteil denken. Jeder kämpft gegen jeden. Eine Chance hat nur, wer sich rücksichtslos durchsetzt. Formal sind alle gleich, in Wahrheit herrscht eine strikte Hierarchie. Nur die Rücksichtslosesten, im Sinne dieses Systems die "Besten" setzen sich durch. "Kampf, Auslese, Macht" (Michael Kühnen) ist die wahre Moral im Kapitalismus. Das ist die gesellschaftliche Naturreligion. Das Führt nicht notwendig zum faschistischen Denken. Doch auf dieser Erfahrung läßt sich leicht die faschistische Ideologie aufpfropfen, die überdies an reaktionären Ideen anknüpfen kann.

Im Stalinismus wurde zwar der Faschismus bekämpft. Doch übernimmt er reaktionäre Vorstellungen. Er idealisiert Familie, Volk, Nation und deren Geschichte. Der Patriotismus grenzt oft an Chauvinismus und ist Teil der Staatsdoktrin. Nicht in der DDR, aber in Ländern wie Polen oder der SU wurde zudem der Antisemitismus ausgenutzt und hoffähig gehalten. Es existiert eine strenge Hierarchie. Aufstieg ist nur bei Anpassung möglich. Gehorsam und formale Pflichterfüllung werden belohnt. Es wird der angepaßte Mensch geformt, der kaum anders denkt als seine Vorfahren. Das erklärt, warum der Faschismus auch in Ostdeutschland fruchtbaren Boden fand.
Wenn in einer Krise die herrschenden Ideologien zerbrechen und es keine Alternative gibt, dann breiten sich faschistische Ideen aus. Das war in der DDR schon vor der Wende der Fall. Auch im Westen verlieren die schönen Ideen von Gleichheit und sozialer Sicherheit, Solidarität und demokratischer Mitgestaltung ihre Bindungskraft. Sie werden ohnehin nur noch durch die Medien und nicht mehr direkt in Betrieb oder Wohngebiet vertreten.

Da Arbeitslosigkeit und sinkende Einkommen nicht mehr als vorübergehende Krise, sondern dauernde Erscheinung gesehen werden, wächst das Gefühl existentieller Bedrohung. Da eine sozialistische Alternative nicht einmal propagiert wird, werden Sündenböcke gesucht. Das sind die Ausländer, die Arbeitsplatz und Wohnung wegnehmen. So finden die Faschisten gerade unter den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern ihren Anhang. Chancen einer antifaschistischen Massenbewegung. Seit Ende 1990 haben ein paar tausend Faschisten fast unbehindert Angst und Schrecken verbreitet. Massenmedien und Politikerinnen sprachen von Schande, wenn es Tote oder Schwerverletzte gab. Doch mit ihrem Gerede von der "Asylanten﷓Katastrophe" waren sie die eigentlichen Schandtäter. "Wer ist schlimmer" fragte "Bild" die Skinheads, die Brandsätze gegen Asylantenheime schleudern, oder Politiker, die schlau reden und tatenlos zusehen?" Damit wurden Maßnahmen gegen die "Asylantenflut" gefordert, nicht gegen den Terror. Der bayerische Ministerpräsident sprach von "multikrimineller Gesellschaft".

Die Brandstifter haben sie damit ermuntert und jene, die ihnen erst heimlich und dann ganz offen Beifall klatschten. Die Linke schien hilflos. Sie protestierte, sie demonstrierte und organisierte symbolisch den Schutz von Flüchtlingsheimen. Den Terror hinderte das nicht. Immerhin wurde die Einsicht, Widerstand leisten zu müssen, bestärkt. Bei all jenen, die gegen Faschismus und für demokratische Rechte sind, wuchs die Unruhe: wenn dem Treiben der Faschos nicht Grenzen gesetzt werden, dann würden die Dämme brechen. Es mußte also etwas getan werden. Auf dieser Basis entwickelte sich im Herbst 1992 eine Demo-Bewegung. Sie gipfelte in den Aktionen in zahlreichen Städten um den 9. November und der Demo von Bonn. Das war vor dem Mord an Silvio Meier und denen von Mölln. Die haben der Einsicht freilich kräftig nachgeholfen. Im November 1992 waren schon vor den erwähnten Morden etwa eine Million Menschen auf den Straßen. Weitere Hunderttausende haben Aktionen in den Schulen durchgeführt. Anders als in Hoyerswerda und Rostock wurde in Mölln nicht Beifall geklatscht. Manch Skinhead läßt sich die Haare wachsen und zieht die Bomberjacke aus, weil er nicht gefährlich leben will. Der Wind hat sich gedreht. Wenn jetzt keine antifaschistische Massenbewegung aufgebaut werden kann – wann dann?

Regierungen und Parteien

Die etablierten Parteien und Vereinigungen sind von rechtsextremen Ideen längst erfaßt. Heitmeyer hat recht, wenn er schreibt: "Die Kirchen … veranstalten zwar pflichtgem&aum
l;ß die Woche des ausländischen Mitbürgers… Aber die Kirche als Institution darf nicht allzu vehement auftreten, weil der Kern der Kirchgängerschaft stark von Vorurteilen geprägt ist." Ähnlich sei es bei Parteien und Gewerkschaften. "Solche Institutionen sind also regelrecht handlungsunfähig", wenn es um Fremdenfeindlichkeit geht.

Regierung und Parteien haben mit ihrer Asylpolitik den Weg bereitet. Teils haben sie sich von dem Rechtsruck mittragen lassen, wie die SPD. Teils waren sie die eigentlichen Wegbereiter wie die Unionsparteien. Sie wollen eine andere Republik: einen starken Staat und mit der Fremdenfeindlichkeit von den Ursachen der Krise ablenken.

Die Terrorwelle kam ihnen da gerade recht. Zwei Jahre lang wurden Brandstifter und Mörder als spontan handelnde, durch Alkohol enthemmte Jugendliche hingestellt. Deren politische Meinung solle man nicht ernst nehmen, hieß es. Steuernde Organisationen gebe es nicht. Entsprechend milde wurden sie bestraft. Es wurde auch nicht zur Kenntnis genommen, daß sich seit Sommer 1992 wieder Wehrsportgruppen bildeten und offen ihre Übungen abhielten. Unterbunden wurde es nicht.
Starke faschistische Strömungen gibt es heute in fast allen europäischen Ländern. Doch nirgendwo haben die Staatsorgane den Terror sich so unbehindert entfalten lassen wie in Deutschland. Erst als er unkontrollierbar wurde, erst als das Ansehen im Ausland schwer geschädigt und der Absatz deutscher Waren gefährdet wurde – erst dann änderte sich die Politik. Dann vereinbarten sogar die norddeutschen Metall-"Arbeitgeber" mit den Gewerkschaften einen politischen Streik – wenn auch nur in Form von ein paar Mahnminuten. Nun ist Terror nur eine der Gefahren. Wenn Brandstifter und Mörder zurück gedrängt werden, ist Entwarnung nicht angesagt. Denn die Biedermänner ziehen, in die Parlamente ein. Schlimm freilich ist, weichen Erfolg die Drohungen der Faschos haben. Adressen und Telefonnummern von Antifa-Initiativen werden nicht mehr weiter gegeben, teils sogar Treffpunkte geheim gehalten. Viele verhalten sich schon so, als ob der Naziterror sie in eine halbe Illegalität treibt. Völlig falsch aber wäre es, sich auf den Staat zu verlassen, was viele Linke mit ihren Forderungen nach dem Verbot faschistischer Organisationen tun. Sie geben dem Staat damit ein Alibi. Er mag ein paar lästige Gruppen verbieten – aber er verhindert nicht deren Reorganisierung in anderen oder neuen Gruppen.

Erfolg der Mobilisierung

Immerhin war der Antifaschismus nicht völlig hilflos. Es gab seit langem viele Aktionen und Demos. Unruhe wuchs, teils auch Wut. Weil sich so viel aufgestaut hat und sehr viele irgend etwas tun wollten, wurden die Massen-Demos Anfang November 1992 möglich. Vordergründig haben sie nicht viel erreicht und konnten es auch nicht. Asyl- und Auslanderrecht werden geändert. Die Welle des Terrors läuft weiter und kann sich ausweiten. Massive Drohungen und Einschüchterung gegen AntifaschistInnen häufen sich. Doch immerhin wagen sich jene kaum noch hervor, die dem Terror Beifall klatschen. Die Demos mit ihren etwa eine Million TeilnehmerInnen bewiesen, daß eine antifaschistische Massenbewegung möglich wird. Noch freilich existiert sie nicht. Wohl gibt es viele Gruppen, von denen viele in den letzten Monaten gegründet wurden. Besonders in den Schulen gibt es viele Aktionen, teils auch in Stadtteilen oder durch Kirchengemeinden, vereinzelt sogar in Betrieben. Solche Selbstorganisation ist Voraussetzung für eine breite Bewegung. Viele wollen etwas tun, die Frage ist nur: was? Ohne Zweifel wird viel Nützliches geleistet wie die Betreuung von Flüchtlingen, antirassistische Aufklärung an Schulen durch Organisationen der Immigration, öfter in Verbindung mit der GEW, Planung einzelner Demos, öffentliche Aufklärung und viele Diskussionen. Aber es gibt keine wirkliche Bewegung und kaum wirksame Koordinationen, ausgenommen für einzelne Projekte oder in der "Szene". Es wird viel geredet und wenig gehandelt, was wiederum überall beklagt, aber kaum geändert wird.

Probleme des Aufbaus

 Das hat vielerlei Gründe. Dem Terror könnte nur durch die Organisierung der Selbstverteidigung begegnet werden. Das würde offensive Aufklärung der Faschos und ihre breite Infiltrierung, Aufstellung schlagkräftiger Selbstverteidigung und/oder abschreckenden Gegenterror bedeuten, wie ihn gelegentlich türkische Gruppen praktizieren und einige Autonome propagieren. Ob letzteres politisch sinnvoll ist, wäre erst noch zu diskutieren. Unstrittig ist aber, daß die Antifas das alles nicht umsetzen können oder bestenfalls in exemplarischen Einzelfällen. So bleiben am Ende immer nur Proteste, Demos und hilflose moralische Appelle der Art, man solle nicht wegsehen oder Widerstand leisten. Das eigentliche Problem besteht darin, daß es längst nicht mehr um zehntausend Gewalttäter geht. Über zehn Millionen denken mehr oder weniger rechtsextremistisch, auch wenn sie nicht entsprechend handeln und meist auch nicht so wählen. Wird das nicht geändert, dann kann bald organisierter Faschismus auf Massenbasis entstehen. Es gilt darum, das Denken zu ändern. Das erfordert etwas mehr, als aus der Sicherheit einer Demo "schämt Euch" zu rufen. Spontaneität ist Voraussetzung einer antifaschistischen Bewegung. Wenn deren bewußter Aufbau aber nicht als langfristige politische und Organisatorische Aufgabe begriffen wird, wird sie in der Protesthaltung der letzten Jahre verharren.

Keine Rezepte

Ungeduldig fordern oder erwarten viele Aktive ein Konzept, aus dem eine Bewegung binnen Wochen oder Monaten erwächst. Am Schreibtisch läßt sich das erstellen. Das Ergebnis sind mehr oder weniger sinnvolle propagandistische Initiativen winziger Gruppen, nicht mehr. Es ist auch wenig nützlich, Koordinationen zu fordern. Die Vielfalt örtlicher Zusammenhänge kann darüber nicht zusammengefaßt werden. Das Ergebnis wären "Netzwerke", die von etablierten Kräften dominiert und einer zersplitterten Basis aufgestülpt werden. Gegenwärtig zeichnen sie sich nur für Teile der Bewegung ab, wo es eine gewisse Geschlossenheit gibt – praktisch nur bei Teilen der Autonomen. Zunächst einmal muß geklärt werden, was getan werden muß und kann. Ohne viele Basisgruppen in Stadtteil, Schule, Betrieb oder Gewerkschaft wird es keine Bewegung geben. Eine Basisgruppe kann jeder und jede Aktive gründen, muß aber ein sinnvolles Arbeitsfeld aufbauen. Gruppen, in denen nur geredet wird, zerfallen bald wieder. Selbstschulung ist zwar nützlich, reicht allein jedoch nicht aus. Rückgrat einer antifaschistischen und antirassistischen Bewegung müssen die am meisten Betroffenen sein. Das gilt einmal für die Immigration durch Zusammenarbeit mit deren Organisationen und deren Vertretung in den Gewerkschaften. Dann aber auch für die unabhängige Frauen-, die Schwulen- und Lesben- sowie die Behindertenbewegung oder die militanten Jugendgruppen. Wir können nicht stellvertretend für sie handeln, aber wir können dazu beitragen, daß sie mit uns zusammen kämpfen. Dafür muß eine Einheitsfront gebildet werden. Ohne Aufbau einer Massenbewegung ist erfolgreiche antifaschistische Arbeit auf Dauer unmöglich. Sie muß reaktionäres Denken bekämpfen, aber auch die Möglichkeit zur Verteidigung sozialer Interessen aufzeigen. Darum ist die Zusammenarbeit mit konsequenten GewerkschafterInnen nötig.

Zusammenarbeit mit anderen für Demos oder Aktionen ist heute meist kein Problem mehr. Daraus entstehen aber keine dauerhaften Strukturen. Gegenwärtig geht es darum, was man eigentlich will und wie gearbeitet werden soll. Die Diskussion darüber kann auf einem antifaschistischem Ratschlag oder sogar Seminar geschehen. Das läßt sich örtlich oder auch regional organisieren. Damit wird zugleich mehr für die künftige Zusammenarbeit getan als auf großen Konferenzen.

Das eigentliche Problem besteht darin, daß eine Bewegung nur entstehen kann, wenn sie sich auf wenige Forderungen konzentriert und ihre Aktionen um sie aufbaut. Die Frauenbewegung entstand auf breiter Basis um "weg mit dem § 218", die Ökologiebewegung "weg mit dem Atomkraftwerken", die Friedensbewegung mit "keine Pershing und Cruise Missile". Sie hatten alle natürlich viel weitergehende Vorstellungen – Frauenbefreiung, ökologische Umwelt, allgemeine Abrüstung. Aber eine Bewegung kann nur um sehr wenige und sehr konkrete Forderungen aufgebaut werden. Sie müssen am Bewußtsein der Aktiven und großer Massen anknüpfen sowie Wege der Selbstorganisation aufweisen.

Die Friedensbewegung entstand um den Krefelder Appell. Gefordert wurde nur, die Stationierung von ein paar hundert Raketen zu verhindern, die zu den paar tausend auf deutschem Boden hinzukamen. Das sollte durch Unterschriften geschehen. Um die zu sammeln, brauchte man Basisgruppen, die sich über diese Forderungen vereinigten, vielfältige Aktionen und immer größer werdende Demos durchführten. Die Bewegung war am Ende nicht erfolgreich. Aber sie hat Millionen mobilisiert und das Denken von Zehnmillionen verändert. Auf Grundlage einer Massenbewegung ist immer eine weitere Radikalisierung, immer eine antikapitalistische Orientierung möglich. In ihr werden die Radikalen und die sich Radikalisierenden aktiv. Aber sie isolieren sich nicht von den Massen, sie wissen, daß sie nicht stellvertretend für sie etwas ändern können.

Das Problem ist, Forderungen zu entwickeln, die am Bewußtsein von Massen anknüpfen und Wege aufzuzeigen, wie sie dafür tätig werden und sich selbst organisieren können. Sie werden dann Erfahrungen sammeln und sich radikalisieren. Eine solche Bewegung ist emanzipatorisch für alle, die sich daran beteiligen. Sie strahlt damit auf die ganze Gesellschaft aus und bekämpft allein dadurch reaktionäres Denken. Sie muß aber auch jenen, die in ihrer dumpfen Ratlosigkeit und wachsenden Aggressivität den Faschos zulaufen, eine erstrebenswerte Alternative aufzeigen.

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