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EU-Agenda 2020: Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln?

Von Heinrich Neuhaus | 14.06.2013

Es ist bezeichnend für den Zustand der großen Mehrheit der Linken, dass warnende Stimmen vor einer Agenda 2020 der Europäischen Union (EU) bis vor kurzem als Ausdruck „linksradikaler Spinnereien“ abgetan oder fast völlig ignoriert wurden.

Es ist bezeichnend für den Zustand der großen Mehrheit der Linken, dass warnende Stimmen vor einer Agenda 2020 der Europäischen Union (EU) bis vor kurzem als Ausdruck „linksradikaler Spinnereien“ abgetan oder fast völlig ignoriert wurden.

Langsam aber sicher beginnt sich diese Haltung zu ändern. Zum einen sind die Folgen des „Reform“-Diktats der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank (EZB) und Internationalem Währungsfonds (IWF) in Südeuropa nicht mehr zu übersehen. Zum anderen trägt auch die zunehmende Propagierung einer solchen Agenda durch lupenreine Demokraten wie Schröder, Kirchhof und Co. dazu bei.
Lissabon-Prozess
Mit dem Lissabon-Prozess hatte die EU zu Beginn des Jahrtausends ihren Anspruch unterstrichen, zur „wettbewerbsfähigsten Region der Welt“ zu werden. Außer in Deutschland, wo die damalige Bundesregierung aus SPD und Grünen mit Unterstützung von CDU/CSU und FDP in diesem Sinne eine „Agenda 2010“ auf den Weg gebracht hatte, waren allerdings die realen „Fortschritte“ eher gering.

Mit dem Beginn der  „Euro-Krise“ änderte sich diese Situation grundlegend. In Abwandlung des berühmten Satzes von Carl von Clausewitz setzen die Herrschenden seitdem offensiv auf eine Politik, die mit Fug und Recht als Fortsetzung des (sozialen) Krieges mit anderen Mitteln gelten kann.

Die Investmentbank Credit Suisse  kommentierte in diesem Zusammenhang:
„Es geht doch nichts über eine Krise, wenn Reformpläne in die Praxis umgesetzt werden sollen“ (FR vom 25./26. Mai 2013). Und Staats-„Sozialist“ Hollande nutzte seinen Auftritt bei der Feier des 150. Geburtstags der Sozialdemokratie in Leipzig zur Lobpreisung von Schröders Agenda-Politik als Vorbild für Frankreich.
EU-Neusprech
Im EU-Neusprech werden Teilprogramme der neoliberalen Agenda 2020 unter anderem als Medizin gegen die Massenarbeitslosigkeit verkauft: „Mit ihrer neuen Agenda will die EU mehr Menschen in Beschäftigung bringen und dabei die Qualität der Arbeitsplätze verbessern.

Die Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten zielt darauf ab, die Arbeitsmärkte flexibler zu gestalten, die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit den notwendigen Kompetenzen auszustatten, die Arbeitsbedingungen zu verbessern und Arbeitsplätze zu schaffen.

Bis 2020 soll damit eine Erwerbstätigenrate von 75 % in der Altersgruppe der 20- bis 64-Jährigen erreicht werden. Dies ist auch eines der Kernelemente der Strategie Europa 2020 für Wachstum und Beschäftigung“ (EU-Kommission 2010).
„Reform“-Mantra
Merkels „Reform“-Mantra aus „Lösung der Staatsschuldenkrise“, „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ und „politischer Vereinheitlichung“ der Europäischen Union fasst den Kern der EU- Politik gut zusammen.

Die billionenschweren Rettungsschirme für den Finanzsektor, die die EU oder ihre Mitgliedsstaaten auf Kosten der arbeitenden Klassen zur Verfügung stellen, sollen an dieser Stelle ebensowenig wie die haushaltspolitische Entmachtung der Parlamente durch „Fiskalpakte“ erneut beleuchtet werden. Auch auf die schrittweise Umwandlung des bürgerlichen Parlamentarismus in eine „marktkonforme Demokratie“ – Merkels „politische Vereinheitlichung“ der EU – kann hier nicht näher eingegangen werden.

Der italienische Philosoph und Zeitbeobachter Giorgio Agamben hat dazu angemerkt, dass „die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden [ist]. Sie dient dazu, politische und ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ihnen jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen“ (FAZ vom 25. Mai 2013).
Flächentarifverträge
Eine wesentliche Ursache für die im globalen Vergleich relative Stärke der europäischen Gewerkschaften ist die Durchsetzung, Verteidigung und Weiterentwicklung von Flächentarifverträgen. Durch sie werden Entgelte, Arbeitszeiten und andere Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft zu verbindlichen Mindestbedingungen geregelt. Die Durchsetzung von tariflichen Regelungen im Interesse der Beschäftigten ist die Existenzgrundlage von Gewerkschaften.

Nirgendwo sonst auf der Welt gibt es vergleichbare Tarifvertragssysteme mit überbetrieblichen Regelungen bis hin zur nationalen Ebene. Und nirgendwo sonst ist immer noch eine Mehrheit der Beschäftigten durch Tarifverträge relativ geschützt.
Lediglich in Britannien konnte die Bourgeoisie in den 80er Jahren – der Ära Thatcher – das Flächentarifvertragssystem zugunsten betriebsbezogener Tarifverträge zerschlagen. Ab 1990 folgten auch osteuropäische Staaten diesem Weg.
„Euro-Plus-Pakt“
Derzeit wird jedoch auch in immer mehr anderen EU-Staaten eine radikale Dezentralisierung der Tarifpolitik angestrebt. Die Politik der Troika verknüpft die Kreditgewährung oder den Aufkauf von Staatsanleihen an „Struktur-Reformen“, vor allem auf dem Arbeitsmarkt.  Dadurch ist es ihr gelungen, mit Eingriffen in die Tarifautonomie kurzfristig alte Flächentarifvertragsstrukturen zu zerschlagen.
 
Der 2011 verabschiedete „Euro-Plus-Pakt“ definiert die „Reform“ der Lohn- und Tarifpolitik als zentrales Element. Zum einen für die „Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“ vor allem durch Lohnstopps und Lohnkürzungen im öffentlichen Dienst. Zum anderen für die „Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit“ durch eine Verringerung der Lohn- und Lohnstückkosten. Zudem sieht er eine „Reform“ der nationalen Tarifvertragssysteme vor, die Unternehmen Abweichungen nach unten bei veränderten wirtschaftlichen Bedingungen ermöglichen.

Ein Bericht der Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der Europäischen Kommission von 2012 zeigt, wohin die Reise geht. Zur Beschleunigung „beschäftigungsfreundlicher Reformen“ listet sie folgende Maßnahmen auf: allgemeine Dezentralisierung des Tarifvertragssystems, Einführung bzw. Ausdehnung von Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen von Flächentarifverträgen, Begrenzung bzw. Abschaffung des Günstigkeitsprinzips (Abweichung von den Normen eines Tarifvertrages lediglich zugunsten des Beschäftigten) und Beschränkung bzw. Reduzierung der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen.

Unverblümt werden die „Reduzierung der Tarifbindung“ und die „allgemeine Reduzierung der Lohnsetzungsmacht der Gewerkschaften“ als Ziele benannt. Mit anderen Worten: Es geht hier um die radikale Zerstörung des Flächentarifvertragssystems. Das Ziel ist eine entscheidende Schwächung gewerkschaft- licher Gegenmacht sowie die beschleunigte weitere Ausdehnung pre
kärer Arbeitsverhältnisse.
Die genannte Brüsseler Generaldirektion formuliert übrigens in diesem Sinn auch innerhalb der Troika gemeinsam mit EZB und IWF die Vorgaben für die nationalen „Struktur-Reformen“.
„Memoranden“
Staaten, denen die Troika Kredite aus dem Europäischen Rettungsfonds gewährt, müssen „Memoranden“ mit weitgehenden, überprüfbaren „Reform“- Verpflichtungen akzeptieren. Diese schon zuvor vom IWF entwickelte Erpressungsmethode wurde bisher in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien angewandt.
Italien stellt insofern ein Sonderfall dar, weil die EZB den Kauf italienischer Staatsanleihen an grundlegende „Struktur-Reformen“ knüpfte. Hierzu gehören die Ausdehnung prekärer Beschäftigung, der Ausbau des Niedriglohnsektors, die Abschaffung des Kündigungsschutzes und vor allem die Aushöhlung der jeweiligen Tarifvertragssysteme.
Schwerpunkte
Die Troika-Strategie der radikalen Dezentralisierung der Tarifpolitik wird je nach länderspezifischer Situation flexibel umgesetzt.
Sie beinhaltet vier Schwerpunkte:

1. Die Aushebelung von landesweit geltenden Tarifverträgen, die bisher erst in wenigen Staaten durchgesetzt werden konnte. In Griechenland und Rumänien sind zum Beispiel die Rahmentarifverträge zur Festlegung des nationalen Mindestlohns aufgehoben worden. Zudem diktierte die Troika eine Kürzung des griechischen Mindestlohns um mehr als 20 %. Zu einer Beendigung nationaler Tarifverhandlungen kam es auch in Irland, da unter Krisenbedingungen die Kapitalseite davon ausging, im Rahmen dezentraler Tarifverhandlungen leichter Lohnkürzungen durchsetzen zu können.

2. Die Ausdehnung betrieblicher Abweichungen von Flächentarifverträgen, die schon in vielen Ländern verwirklicht worden ist. In Italien oder im spanischen Staat setzten sich die Regie- rungen im Sinne der Troika-Politik sogar über tarifliche Öffnungsklauseln hinweg, die ähnlich wie in Deutschland von den Tarifparteien zuvor „freiwillig“ ausgehandelt worden waren. Rom und Madrid hoben nicht nur das Günstigkeitsprinzip auf, sondern legten damit den Vorrang betrieblicher Vereinbarungen fest.

3. Die Erschwerung der verbreiteten Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen. Letztere sichert die Stabilität von Tarifvertragssystemen und eine hohe Tarifbindung. In Portugal etwa wurden bis zum Diktat der Troika wichtige Branchentarifverträge für allgemeinverbindlich erklärt. Ähnlich wie in Deutschland sind nun auch dort hohe Hürden für eine Allgemeinverbindlicherklärung durchgesetzt worden.

4. Die Auflösung des gewerkschaftlichen Verhandlungsmonopols, das heißt auch nicht-gewerkschaftlichen Beschäftigtenorganisationen wird das Recht auf betriebliche Tarifvereinbarungen zugestanden. Derzeit wirkt sich das vor allem auf Branchen und Betriebe in Griechenland, Portugal, Rumänien, dem spanischen Staat und Ungarn aus.
Folgen
Die Folgen der EU-Agenda 2020 für die Gewerkschaften und die arbeitende Klasse sind nur noch von politisch völlig angepassten oder blinden Kräften zu übersehen. Wirksame Flächentarifvertragssysteme und einzelne Tarifverträge werden systematisch ausgehebelt. Im spanischen Staat konnte die Kapitalseite von 2010 bis 2012 die Zahl der gültigen Tarifverträge nahezu halbieren.

Es ist offensichtlich, dass diese Politik mit der üblichen Salami-Taktik auf alle EU-Staaten übertragen werden soll. Obwohl EU-Kompetenzen im Bereich der Lohn- und Tarifpolitik noch explizit ausgeschlossen sind, setzt sich die koordinierte Wirtschaftspolitik Brüssels eiskalt über diese Einschränkungen hinweg. Dies betrifft nicht nur die südeuropäischen Länder, sondern derzeit auch Belgien und Frankreich.

Die geplante Weiterentwicklung der Europäischen Wirtschaftsunion sieht vor, dass die EU mit allen Mitgliedsstaaten verbindliche Verträge über „Struktur-Reformen“ abschließt. Und, wer hätte das gedacht, Vorbild hierfür sind die Troika-„Memoranden“. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die EU auch die Flächentarifvertragssysteme in West- und Nordeuropa massiv attackiert. 

Wäre es nicht sinnvoll, wenn sich die europäische (Gewerkschafts-)Linke diesen Herausforderungen endlich stellen und für eine koordinierte Gegenwehr kämpfen würde, die über die nationalstaatliche  Ebene hinausgeht?

Quellen (soweit im Text nicht angegeben):

EU-Agenda für neue Kompetenzen und Beschäftigungsmöglichkeiten (2010), http://ec.europa.eu/news/employment/101123_1_de.htm.

Oberndorfer, Lukas, Pakt(e) für Wettbewerbsfähigkeit als nächste Etappe in der Entdemokratisierung der Wirtschaftspolitik?; in: Infobrief EU & International, Nr. 1 (2013), S. 19-26, http://www.arbeiterkammer.at/bilder/d189/EU_infobrief_1_2013.pdf.

Schulten, Thorsten, Die Troika und der Flächentarifvertrag; in: Gegenblende, Nr 21 von Mai/Juni 2013,
http://www.gegenblende.de/++co++73c3f192-bba9-11e2-9fa4-52540066f352.

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