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Innenpolitik

Ethnisierung und „Parallelgesellschaften”

Von Hans Müller | 01.09.2008

Der „Antiislamisierungskongress“ am 19.-20. September in Köln ist nicht irgendein Massentreffen der RechtsextremistInnen und RassistInnen. Er ist vielmehr ein weiterer rechter Vorstoß, gesellschaftspolitisches Terrain zu erobern.

Der „Antiislamisierungskongress“ am 19.-20. September in Köln ist nicht irgendein Massentreffen der RechtsextremistInnen und RassistInnen. Er ist vielmehr ein weiterer rechter Vorstoß, gesellschaftspolitisches Terrain zu erobern.

Mit dieser Hetzkampagne gegen eine angebliche Islamisierungsgefahr Europas wird wieder einmal ein Feindbild aufgebaut, das als Erklärung für die sozialen und politischen Probleme dienen soll. Da es im Augenblick nicht opportun scheint, die üblichen Rassentheorien offen und demonstrativ zu propagieren, versuchen die RechtsextremistInnen, sich als VerteidigerInnen der „abendländischen“ Kultur zu verkaufen. Sie suchen so den kaschierten Beifall des „Durchschnittsbürgers“ zu ernten, der „sein Land von fremden Kulturen überrannt sieht“. Arbeiten die Rechten doch mit seinen irrationalen Urängsten, „die Eindringlinge würden ihm jetzt auch noch seine Identität rauben“.

Nach dem jahrzehntlangen dumpfen Fremdenhass lancieren sie nun den Schutz der westlichen Leitkultur als ihr dringliches Vorhaben. Der Islam wird gegenwärtig als der große Feind des Westens ausgegeben und die rechtsextremistischen Parteien nutzen mit ihrer islamophoben Volksverhetzung die Gunst der Stunde. Ihre Kampagne ist zwar vordergründig gegen die Menschen muslimischer Religion gerichtet, doch die menschenverachtende Hetzjagd gilt der gesamten hier lebenden Migration. Die latent rassistischen Ressentiments werden immer wieder mit subtilen Mitteln aufgepeitscht. Sollte es dazu kommen, dass die Menschen in diesem Land den tiefen Rassismus, der hinter dieser Logik steckt, nicht verstehen, wird die Folge eine weitere Verharmlosung des rechten Lagers sein. Das Auftreten als Block mit „europäischer“ Unterstützung von Gleichgesinnten trägt obendrein dazu bei, dass diese politische Einstellung bagatellisiert wird. Für die NormalbürgerInnen bedeutet das, dass nicht nur die Deutschen so denken, sondern die anderen EuropäerInnen ebenfalls die Gefahr der Entfremdung sehen, also kann diese Haltung keine rassistische sein.

In der Verfestigung dieser falschen Ideologie liegt die größte Gefahr. Damit wäre die Etablierung des rechtsextremen Lagers ein Schritt näher gerückt. Was das bedeutet, brauchen wir hier nicht näher zu erläutern. Die Parteien der Rechten mögen sich heute als Light-Version präsentieren. Mag der Wähler vielleicht noch denken, er könnte mit seiner Stimme für die NPD und die anderen populistischen NationalistInnen die bürgerlichen Parteien abstrafen. Doch die Realität sieht anders aus. Die Zielsetzung der rechtsextremistischen Parteien war immer die massive Terrorisierung der Gesellschaft, um ihre Machtposition mit Gewalt zu festigen. Je mehr Bastionen sie erobern, desto brutaler und rücksichtsloser werden sie vorgehen. Gelingt es ihnen, als politischer Faktor mit Massencharakter Fuß zu fassen, werden sie sukzessiv auf die rassistischen und mörderischen Ideologien zurückgreifen und ihr wahres Gesicht offen zeigen.

Selbstverständlich sind wir heute trotz der Präsenz des rechten Blocks nicht mit einer faschistischen Massenbewegung konfrontiert. Doch es entsteht eine gefährliche Mischung, wenn die stumpfsinnige Xenophobie, die leider nicht nur auf Stammtisch-Niveau gegenwärtig ist, von einem pseudopolitischen Programm instrumentalisiert wird. Mehr noch als die rechte Hetze ist die unterschwellige Ausländerfeindlichkeit dieser Gesellschaft das Hauptproblem. Die Kölner Anti-Islam-Kampagne ist ein frontaler Angriff, auf den wir geschlossen reagieren müssen. Unsere politische und gesellschaftliche Aktionseinheit darf den RassistInnen und Neo-Nazis keinerlei Freiraum erlauben. Rassismus und Ausländerhass müssen in allen ihren Formen in der Gesellschaft geächtet werden.
Der Vorwurf der Integrationsunwilligkeit
Seit Jahrzehnten wird das Meinungsbild der Einheimischen von dem Argument beherrscht, die eigentliche Ursache der Konflikte sei die Integrationsunwilligkeit der hier lebenden MigrantInnen. Seit Anfang der sechziger Jahre schon behauptet das bürgerliche Lager, die ausländischen Menschen seien nicht bereit, die Wertvorstellungen des Aufnahmelandes zu akzeptieren. Diese Grundhaltung der hiesigen Gesellschaft bestimmt immer noch die rechtliche und soziale Lebenssituation der Migration. Die reaktionäre Ausländergesetzgebung verweigert ihnen rechtliche und politische Grundrechte. Selbst der höchste Aufenthaltsstatus ändert auch heute nichts an dem Gefühl der Vorläufigkeit und Unsicherheit. Käme es zu einer Verschärfung der rechtlichen Rahmenbedingungen und des gesellschaftspolitischen Klimas, wären sie gezwungen, das Land zu verlassen. Unter diesen Umständen wird jede vernünftige Lebensplanung sehr schwierig. Doch die rechtliche Unsicherheit und politische Entmündigung wird gleichzeitig von Diskriminierung und sozialer Gettoisierung flankiert.

Während das Instrument der Rechtsunsicherheit dazu benutzt wird, die Migration politisch zu disziplinieren, bedient die Ideologie der Ausländerfeindlichkeit die völkisch-nationalistischen Gefühle der Mehrheitsgesellschaft, die eine irrationale Angst vor Überfremdung hat. Trotzdem war die Arbeitsmigration immer ein lebendiger Teil dieser Gesellschaft und hat sehr früh schon Vorleistungen erbracht, ohne dass sie jemals dafür honoriert wurde. Selbstverständlich wollen wir nicht die vielen Probleme verkennen, mit denen diese Menschen konfrontiert sind. Doch genau das tut die Mehrheitsgesellschaft, indem sie sich weigert, die MigrantInnen bei der Bewältigung dieser komplexen Fragen aktiv und solidarisch zu unterstützen. Die Diskussion wird immer noch von der Grundthese der Integrationsunwilligkeit bestimmt.

Allerdings benutzen die bürgerlichen Medien jetzt den Begriff der Parallelgesellschaften, die sie als abgeschottete Subkulturen abhandeln. Zum einen impliziert diese Ansicht, dass nur national homogene Gesellschaften ein konfliktfreies Zusammenleben garantieren, was eine einfältige Fiktion ist. Zum anderen wird damit unterstellt, dass die kultur­elle und nationale Identität dieser sozialen Gruppen völlig unvereinbar mit den Wertvorstellungen der deutschen Gesellschaft ist. Seit geraumer Zeit haben die gleichen politischen Kräfte die „Islamisierungsgefahr“ entdeckt, um ihre ausländerfeindliche Haltung zu bekräftigen. Über die Schiene der Islamophobie versuchen sie weiterhin, die Gettoisierung der Migration aufrechtzuerhalten. Der Sündenbock ist die „fremdartige“ Religion der Menschen mit muslimischem Glauben. Die Reli­gionsausübung der muslimischen Community soll als weiterer Beweis für die Existenz der Parallelgesellschaft herhalten. Die Stigmatisierung des Islam hat noch eine zusätzliche Alibifunktion in den westlichen Gesellschaften. Sie dient als Rechtfertigung für die Kriege, die in den letzten Jahren von den imperialistischen Mächten angezettelt werden. Doch hier interessiert nur die ausländerfeindliche Dimension dieses Phänomens. Halten wir als Zwischenergebnis
fest, das die Islamophobie in diesem Land in der Tradition der Ausländerfeindlichkeit steht und Teil des gleichen Diskriminierungs- und Ausgrenzungsprozesses der Arbeitsmigration ist.       
Das Phänomen der Ethnisierung
Was polemisch als Parallelgesellschaften bezeichnet werden, sind in Wirklichkeit die MigrantInnencommunities, die tatsächlich existieren. Diese sind aber keinesfalls abgeschottete soziale Gruppierungen. Wir wollen hier ganz kurz auf dieses Gesellschaftsphänomen eingehen, um aufzuzeigen, dass die Bildung von solchen Communities ein ziemlich normaler Prozess ist, der in fast allen Einwanderungsgesellschaften vorkommt. Es ist tatsächlich schwierig, einem Inländer die alltägliche Diskriminierung, die diese Menschen in allen möglichen Lebenssituationen erleben, lebensnah vor Augen zu führen. Stichwortartig seien nur einige der kritischen Probleme benannt, die das Leben der Migration ständig begleiten: die Aufenthaltsbestimmungen, die das gesamte Familienleben beherrschen; die Schwierigkeiten bei der Wohnungs- und Arbeitssuche; die rechtlichen Folgen bei der Arbeitslosigkeit; die Schul- und Berufsausbildung der Kinder verbunden mit der Zweisprachigkeit; die Diskriminierungswahrnehmung in ihrem Umfeld; die fehlenden freundschaftlichen und sozialen Kontakte. Die Migration führt eine sozial gettoisierte Existenz. Die „Leitkultur“ der Mehrheitsgesellschaft grenzt die MigrantInnen aus.

In dieser Situation gibt es eigentlich zwei verschiedene Lebensstrategien: die eine ist eine ziemlich kurzfristige Zukunftsplanung. Diese diktiert der Arbeitsmigration, so schnell wie möglich Ersparnisse zu horten, um eine neue Existenz in der Heimat aufzubauen. Doch dieser Ausweg hat zwei große Nachteile: Zum einen funktioniert sie grundsätzlich nicht, zum anderen verstärkt sie die Vorläufigkeit und die Abschottung in dieser Gesellschaft.

Die andere Möglichkeit ist die der Vernetzung innerhalb der eigenen Community. Der Formierungsprozess der Community fungiert als eine Art sozialer Absicherung. Dieses soziale Netzwerk bietet emotionale und aktive Lebenshilfe und Unterstützung in vielen Fragen des Alltagslebens. Doch diese Vernetzung kann nur innerhalb einer ethnischen Migrationsgruppe ablaufen, die jetzt stärker zusammenrückt und eigene Lebensräume mit Spezialgeschäften, Läden und Dienstleistungen schafft.  Warum beispielsweise zu einem deutschen Rechtsanwalt gehen, wenn der Anwalt aus der eigenen Community ein besseres Einfühlungsvermögen für die speziellen Probleme der Migration garantiert.

Das ist im Prinzip das Fundament für den Ethnisierungsprozess, der jetzt einsetzt. Genau so wie die anderen sozialen Gruppen ihre eigene Identität aufbauen, tun das auch die verschiedenen nationalen Migrationscommunities. Zwangsläufig führen Diskriminierung und Entfremdung in dem Aufnahmeland dazu, dass diese Menschen dann auf die eigenen kulturellen und nationalen Werte in einer extrem idealisierten Form zurückgreifen und die Gründe ihrer Auswanderung ausblenden. Die neue Community bietet ihnen Schutz und funktioniert gleichzeitig als eine Art Lobby, die unter Umständen mit den staatlichen Institutionen Kompromisse und Erleichterungen aushandeln kann. Das hat natürlich zur Folge, dass eine frühere Identität als ArbeitsmigrantIn zugunsten des neuen Profils fallen gelassen wird. Je erfolgreicher der Ethnisierungskurs verläuft, um so stärker werden die spezifischen Werte hervorgehoben. Wobei die exponierte Präsentierung der eigenen nationalen und religiösen Identität, die jetzt von einer erstarkten Community getragen wird, eine bessere Verteidigung gegen den Rassismus dieser Gesellschaft  verspricht. Hatte doch die Forderung nach Solidarität zwischen Einheimischen und Ausländern ja keine Früchte getragen. Das wiederum verstärkt bei der deutschen Bevölkerung den Eindruck, dass sich diese Gruppe stärker und stärker abschottet.

Gleichzeitig gibt es noch einen Faktor, der diese Tendenz verstärkt, nämlich die zeitliche Dimension. Die kommenden Generationen werden feststellen, dass ihr Lebenszentrum in diesem Land ist, also werden sie wieder nach der Chancengleichheit und Gleichberechtigung in dieser Gesellschaft verlangen. Diese Orientierung wird den Ethnisierungskurs schwächen, wovor die Vordenker­Innen und SprecherInnen in den eigenen Reihen intuitiv Angst haben.  Die Religion ist ebenfalls eine Komponente dieses Prozesses, denn sie ist Teil dieser Identitätssuche. Dahinter steckt die Haltung, selbst wenn Ihr mich nicht akzeptieren möchtet, weil ich einE „AusländerIn“ bin, werde ich meine Identität nicht aufgeben. Im Gegenteil: Ich stehe dazu und es ist mir gleichgültig, ob es Euch passt.

Der andere Teil ist die Religiosität der einfachen Menschen, die wir weder mit Gewalt noch per Gesetz verbieten können oder dürfen. Obwohl die sozialistisch orientierte Linke mit der Religion nichts zu tun hat, muss sie das Recht auf freie Religionsausübung aktiv verteidigen. Täten wir das nicht, wären wir an der Diskriminierung und Unterdrück­ung der Migration mitschuldig. Es ist klar, dass wir in der Kürze dieses Artikels kaum auf eine differenzierte Betrachtung dieser Frage eingehen können.  
Trotz des Ethnisierungskurses keine Parallelgesellschaften
Doch trotz der Ethnisierung und ihrer Folgen haben wir es mit keinen wirklich abgeschotteten Parallelgesellschaften zu tun. Der Vorwurf der Abschottung steht in der langen Tradition der sogenannten Integrationsunwilligkeit und ist genau so tief xenophob und rassistisch. Die MigrantInnen sind ebenso wenig wie die anderen unterdrückten und benachteiligten sozialen Gruppen ein Fremdkörper in dieser Gesellschaft. Prinzipiell sind die vielen Probleme, mit denen diese Menschen tagtäglich konfrontiert sind, nicht in ihrer Abschottung begründet, sondern in ihrer von dieser ausländerfeindlichen Gesellschaft hervorgerufenen Gettoisierung und der fehlenden Chancengleichheit.

Die Dämonisierung durch die bürgerlichen Medien und PolitikerInnen zielt auf eine langfristige Politik der Spaltung der Unterrückten und ihre Entsolidarisierung, um so nach dem Motto „teile und herrsche“, ihre Macht zu festigen. Die wirklichen Bedürfnisse der gesamten Migration sind immer noch die volle rechtliche, politische und soziale Gleichstellung mit den Einheimischen, die Chancengleichheit vor allem für die Generation der Jugendlichen und die gesellschaftliche Teilhabe an den demokratischen und emanzipatorischen Prozessen dieser Gesellschaft.

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