„Es gibt keine autonome soziale Bewegung mehr.“
TEILEN
Nicaragua

„Es gibt keine autonome soziale Bewegung mehr.“

Von Mónica Baltodano und Mariana Sanchez | 12.04.2024

Mónica Baltodano war während der sandinistischen Revolution Comandante Guerillera, im Juli 1979 Aufstand hat sie in Managua angeführt. In der revolutionären Regierung hatte sie verschiedene Ämter, sie war unter anderem für die Territorien und die Arbeit in den Gemeinden verantwortlich. 2007 kam Daniel Ortega an die Macht, indem er mit der Rechten und mit kapitalistischen Sektoren Vereinbarungen über ein Projekt traf, das nichts mehr mit der sandinistischen Revolution zu tun hatte. Mónica Baltodano befand sich zusammen mit vielen anderen ehemaligen Aktivist:innen und Kämpfer:innen der FSLN, der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront, in der Opposition. Sie gründeten Bewegungen, die sich von der Frente Sandinista trennten. Nach der repressiven Reaktion des Regimes auf die Bauern- und Studierendenbewegung 2018, bei der fast 400 Menschen getötet wurden, ging Mónica Baltodano nach Costa Rica ins Exil. Ihr wurde die Staatsbürgerschaft entzogen, ihr gesamtes Vermögen und Einkommen wurden beschlagnahmt. Sie ist auf Einladung der Vierten Internationale nach Europa gekommen und hat sich bereit erklärt, unsere Fragen zu beantworten.
Was ist der Zweck eurer Reise?
Wir sind in Europa, um das diktatorische und absolutistische Regime von Daniel Ortega und [seiner Ehefrau] Rosario Murillo anzuprangern, die seit 17 Jahren die Regierung und alle ihre Institutionen kontrollieren. Ihr Ziel ist es nicht, ein Transformationsprojekt aufzubauen oder die Armut zu überwinden, in der die Mehrheit der Nicaraguaner:innen lebt, sondern ihren persönlichen Reichtum zu vergrößern, denn sie sind zu Kapitalisten geworden. Seit ihrer Rückkehr an die Regierung im Jahr 2007 haben sie ein neoliberales Regime mit den brutalsten Merkmalen des Extraktivismus errichtet, insbesondere im Gold- und Silberbergbau. Dies hat zu tiefgreifenden Ungleichheiten im Land geführt. Mehr als 700.000 Nicaraguaner:innen mussten das Land verlassen. In gewisser Weise stützt sich die Wirtschaft von Nicaragua auf diese Menschen, denn die Dollars, die sie an ihre Familien schicken, sind wichtiger als die gesamten Exporte des Landes.
Wir erinnern daran, dass die Unterdrückung in Nicaragua immer stärker wird. Es gibt keine Presse- und Informationsfreiheit. Niemand darf anders denken als das Regime, denn den Menschen drohen Gefängnis oder Exil und die Beschlagnahmung ihres gesamten Besitzes.
Über 4000 Organisationen sind verboten worden. Das sind Vereinigungen, die sich für die Rechte der Frauen, für die Rechte der Natur, für die Rechte der Indigenas usf. eingesetzt haben.
Es gibt keine Gewerkschaftsorganisationen mehr, keine autonome soziale Bewegung. Deshalb brauchen wir Solidarität. Nötig ist nicht nur eine Verurteilung, nötig sind nicht nur Verlautbarungen der internationalen Gemeinschaft, sondern Solidarität.
Wir sind hierhergekommen, um uns mit Menschen auszutauschen, die in den 1980er Jahren in der Solidarität gearbeitet hatten. Einige von ihnen waren sogar dorthin gereist und hatten sich am Kampf gegen Somoza beteiligt und haben unseren Traum von einer gerechteren Gesellschaft, von politischer, wirtschaftlicher und sozialer Demokratie geteilt. Die Möglichkeit besteht, dass Nicaragua diese Richtung wieder einschlägt. Um dies zu erreichen, müssen wir die Diktatur überwinden. Daher versuchen wir, die Diktatur auf internationaler Ebene zu schwächen.
Wir sind in Europa, um Bauernprojekte, Bildungs- und Organisationsprojekte vorzuschlagen. Wir mussten uns organisieren, und mir ist besonders an der Organisierung von linken Sektoren gelegen, die aus dem Sandinismus hervorgegangen sind. Denjenigen, die ermordet oder angeklagt wurden, und allen, die unter der Ortega-Murillo-Diktatur zu leiden haben, müssen Gerechtigkeit bekommen. Das sind die Themen, die wir während unseres Besuchs angesprochen haben.
Auch wenn sie wissen, was in Nicaragua passiert, denkt ein Teil der Linken in Europa immer noch, Ortega sei ein Sandinist, er wäre noch der Revolutionär der 1980er Jahre…
Wir stellten fest, dass die Linke einen großen Schritt nach vorne gemacht hat, was das Verständnis und die Information darüber, was in Nicaragua tatsächlich vor sich geht. Aus unseren Gesprächen können wir schließen, dass sich die Mehrheit bewusst ist, dass es in Nicaragua kein linkes Regime gibt, sondern ein kriminelles Regime, das offensichtliche Menschenrechtsverletzungen begangen hat.
Aber es gibt immer noch einen Teil der Linken, der darauf beharrt, es sei die Fortsetzung dieser schönen Revolution, von der sie begeistert waren. Diese Linke verschließt die Augen vor der Realität. Einige sagen, Ortega wäre Antiimperialist. Ich möchte ihnen sagen, dass Ortega nicht antiimperialistisch ist. Er benutzt diese Rhetorik mit dem Ziel, einen bestimmten Sektor seiner sozialen Basis zu halten. Aber um diesen Teil der Linken zu täuschen, versucht er, sich eine neue West-Ost-Logik zu eigen zu machen. Deshalb unterstützt er Russland oder stellt sich auf eine Linie mit dem Iran oder Nordkorea.
In Wirklichkeit hat die Mehrheit der Linken Fortschritte gemacht, nicht nur in Europa, sondern auch in Lateinamerika. Es gibt starke Stimmen wie die von Gabriel Boric in Chile oder von Präsident Gustavo Petro in Kolumbien oder auch Andres López Obrador in Mexiko, die den Entzug der Staatsbürgerschaft von über 300 Nicaraguaner:innen verurteilten. Sehr wichtige Stimmen wie die von Pepe Mujica in Uruguay und Cuauhtémoc Cárdenas in Mexiko sind zu vernehmen. Wir haben Fortschritte gemacht, es ist jedoch sehr wichtig, dass sich die Linken auf der Welt wirklich lautstark gegen Ortega aussprechen.
Das hilft uns auch in unserer Arbeit in Richtung Jugend. Ortega sagt in seinen Reden, das, was er macht, sei Sozialismus. Obwohl wir seit 1990 die neoliberalste Gesellschaft haben, glauben die jungen Menschen in Nicaragua, Ortega sei ein Sozialist.
Was bleibt nach der Unterdrückung durch die Regierung von den sozialen Bewegungen und der Gewerkschaftsbewegung übrig?
Die gesamte autonome soziale Bewegung wurde zerschlagen und unterdrückt, durch Verhaftungen und Exil, wobei während der Repression 2018 über 350 Personen ermordet wurden.
Wir legen Wert darauf, dass diese Netzwerke wieder aufgebaut werden. Aus dem Exil heraus, aber auch im Inneren, mit stillen Arbeitsmethoden, im ganzen Land. Wir treten für einen zivilen, friedlichen Kampf ein. In Nicaragua haben wir unter zu vielen Kriegen gelitten. Wir bemühen uns, den demokratischen Weg, den zivilen Weg, den friedlichen Weg zu gehen.
Das bedeutet aber nicht, dass man sich nicht im Untergrund organisieren soll, denn die Repression ist brutal. In Nicaragua ist es nicht möglich, irgendeine [der offiziellen] entgegengesetzte Meinung in der Presse zu veröffentlichen, auch nicht in Online-Medien. Journalist:innen sitzen im Gefängnis, nur weil sie auf ihrem Profil etwas über eine Demo oder eine religiöse Prozession veröffentlicht haben, die angeblich verboten war. Angesichts dieser Realität gilt es, das gesamte soziale Gefüge wieder aufzubauen, das von dem Regime zerstört worden ist. Aber wir sind uns sicher, dass wir es schaffen werden, denn es gibt bereits positive Schritte in diese Richtung.
Wir sind optimistisch, wir glauben, dass dieses Regime früher oder später fallen wird. Tausende von Sandinist:innen, Staatsangestellten, Militärs und Polizist:innen sind nicht mehr mit dem Regime, auch wenn sie in ihren Jobs bleiben, weil sie nicht von etwas anderem leben können. In sämtlichen Institutionen gibt es Menschen, die die dieses Regime nicht mehr unterstützen; deshalb sind wir davon überzeugt, dass sein Ende nahe ist, näher als die Leute auf der Straße denken.
Dieses Interview, das Mariana Sanchez geführt hat, wurde in der Wochenzeitung der NPA, L’Anticapitaliste, Nr. 700, 21. März 2024, veröffentlicht.
Mónica Baltodano Marcenaro wurde 1969 mit 15 Jahren als Schülerin politisch aktiv, 1972 trat sie der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) bei, 1974 ging sie in die Illegalität. Als die FSLN sich zeitweise in drei Fraktionen spaltete, gehörte sie der Tendenz Guerra Popular Prolongada (GPP) an. 1994 wurde sie in die Dirección Nacional der FSLN gewählt; 1997 lehnte sie den Pakt von Daniel Ortega mit dem damaligen Präsidenten Arnaldo Alemán ab. 2005 sah sie keine Möglichkeiten für eine interne Opposition in der FSLN mehr und trat aus. Von 2007 bis 2011 war sie für das ursprünglich innerhalb der FSLN aktive Movimiento por el Rescate del Sandinismo (Bewegung für die Rettung des Sandinismus) Abgeordnete in der nicaraguanischen Asamblea Nacional. Mit der 1990 gegründeten Stiftung Popol Nah, die 2018 verboten wurde, unterstützte sie Protestbewegungen. 2021 musste sie wie so viele andere Oppositionelle in das Nachbarland Costa Rica ins Exil gehen.
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat im Juni 2020 eine nur online verfügbare Broschüre von Mónica Baltodano mit dem Titel Zwei Jahre nach dem Aprilaufstand in Nicaragua: Hintergrund und Perspektiven veröffentlicht.

Artikel teilen
Kommentare auf Facebook
Zur Startseite