Erklärung zum Völkermord in Gaza
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Palästina

Erklärung zum Völkermord in Gaza

07.05.2024

Vorbemerkung: Dieser Text ist länger diskutiert und mehrfach überarbeitet worden. Er ist am 14. April 2024 von der Koordination der ISO ausführlich besprochen und in der generellen Linie gebilligt worden. Es handelt sich um den Zwischenstand eines Diskussionsprozesses, den die ISO weiterführen wird.

Seit 1947/48 und der Gründung des Staates Israel ist Palästina Schauplatz ethnischer Säuberungen. Nach Jahren zunehmender Drangsalierung ist die Regierung Netanjahu jetzt dazu übergegangen, die palästinensische Bevölkerung aus Gaza endgültig zu vertreiben; gleichzeitig nehmen Pogrome und Landraub im völkerrechtswidrig besetzten Westjordanland zu. Die jahrzehntelangen Niederlagen aller fortschrittlichen Bewegungen im arabischen Osten (zuletzt die Niederschlagung des Aufstandes in Syrien durch das mörderische Assad-Regime), haben eine Lösung der Palästinafrage durch einen revolutionären Prozess der Völker der Region in weite Ferne rücken lassen. Der koloniale Siedlerstaat Israel ist nicht – wie in der von Jabra Nicola und Moshe Machover vor einem halben Jahrhundert entworfenen Vision – in einer revolutionären Neuorganisation der Region durch die verschiedenen Nationalitäten und Ethnien in Gleichberechtigung und Selbstbestimmung aufgehoben worden.

Zugleich bewahrheiten sich in diesen Tagen alle düsteren Prognosen über die innere Logik des zionistischen Projekts: Während der palästinensischen Bevölkerung das Schicksal der Kolonisierten der USA und Australiens droht, gewinnt die jüdische Bevölkerung weder Sicherheit noch Freiheit. Im Moment seiner größten militärischen Dominanz ist der Bankrott des zionistischen Projekts so augenfällig wie nie zuvor.

1.

Das Jahr 2023 war für die Palästinenser:innen das tödlichste Jahr seit der Nakba 1948. Ausgehend von dieser Eskalation haben die wesentlichen Akteure des palästinensischen Widerstands, die Hamas, die PFLP und der Islamische Jihad in Palästina im September 2023 erklärt, dass sie sich darauf verständigt haben, den militärischen Druck auf Israel zu erhöhen. Ihren Angriff am 7.Oktober hat Israel mit einem Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung von Gaza beantwortet. Israel behauptet, den Krieg nur gegen die Hamas zu führen, und erklärt die über 35.000 zivilen Todesopfer und 78.000 Verwundeten zu Kollateralschäden.

Monatelange Flächenbombardements haben Gaza unbewohnbar gemacht, die fliehende Bevölkerung wird im Süden zusammengetrieben, wo sie ohne ärztliche Versorgung, ohne Nahrung, ohne sauberes Wasser an Seuchen und Hunger sterben soll. Alles palästinensische Leben in Gaza soll unmöglich gemacht werden – Schulen, Krankenhäuser, Verwaltung, Kulturgüter, Universitäten, Kirchen und Moscheen und Kirchen werden dem Erdboden gleichgemacht. Die in der Nakba 1947/48 begonnene “ethnische Säuberung” Palästinas soll für den Gaza-Streifen vollendet werden, wie der Landwirtschaftsminister in der Regierung Netanjahu, Avi Dichter, öffentlich erklärt hat.

Südafrika hat dagegen Klage vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag erhoben. Sie lautet auf Völkermord entsprechend der offiziellen Definition der Völkermordkonvention: eine Aktion betreffend, die durch die Absicht gekennzeichnet ist, auf direkte oder indirekte Weise „eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Das vorläufige Verdikt des ICJ beinhaltete zwar keine formale Verurteilung wegen Völkermordes, ordnete aber eine Reihe von Maßnahmen (und damit zusammenhängende Berichtspflichten) an, die deutlich machen, dass die Völkermord-Konvention als eindeutig relevant für die Beurteilung der israelischen Aktionen eingeschätzt wird. Am 28.3. wurden sofortige Maßnahmen gegen die Hungersnot, die nach Einschätzung des ICJ nicht eine Gefahr, sondern eine vollendete Tatsache darstelle, angeordnet. Diese Entscheidung sowie die Resolution des UN-Sicherheitsrates vom 25. März, in der eine sofortige Feuerpause und ungehinderter Zugang für humanitäre Hilfe für die in Gaza eingeschlossene Bevölkerung gefordert wird ohne dass die US-Vertreterin ihr Veto einlegte, zeigen, dass unter dem Druck weltweiter Mobilisierungen der Solidaritätsbewegung die bedingungslose Unterstützung des Netanjahu-Regimes durch den US-Imperialismus und seine Komplizen bröckelt.

2.

Die US-Regierung und die deutsche Bundesregierung unterstützen diesen Völkermord propagandistisch, mit Waffenlieferungen und ideologisch, indem sie Israel jederzeit, in Den Haag wie bei Besuchen in Palästina, zur Seite stehen und Kritik an der Vertreibung zurückweisen.

Im Namen der Erinnerung an den Holocaust wird der hiesigen Bevölkerung eine Antisemitismus-Definition aufgenötigt, die von zahlreichen internationalen Wissenschaftler:innen, die in der Antisemitismusforschung arbeiten, abgelehnt wird. Diese Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) erklärt Kritik an den rein ethnischen Grundlagen des israelischen Staates, der die angestammte palästinensische Bevölkerung als Bürger:innen zweiter Klasse mit eingeschränkten oder auch gar keinen Rechten behandelt, als antisemitisch und zu einer potentiellen Straftat.

Im Namen dieser Definition wird selbst Jüdinnen und Juden in Deutschland der Mund verboten, die sich der bedingungslosen Loyalität zum Netanjahu-Regime verweigern. Veranstaltungen mit ihnen dürfen nicht stattfinden, Naomi Klein findet für ihr neues Buch über Verschwörungstheorien keinen Verleger. Die Hetze in der BRD, so etwa im Kontext von Solidaritätsaktionen bei der Berlinale, sorgen dafür, dass jüdische Künstler nicht mehr zurück nach Israel können wie im Fall von Yuval Abraham oder jüdische Kritiker des Netanjahu-Regimes sich in der BRD isoliert und angefeindet fühlen.

Solidaritätsbekundungen für die palästinensische Bevölkerung werden verfolgt und als Sympathiekundgebungen für Terroristen geahndet, Muslime unter Generalverdacht gestellt. Es wird ein engstirniges geistiges Klima der Unterwerfung unter eine “Staatsräson” geschürt, die von keinem Gremium jemals beschlossen wurde. Die Medien schalten sich gleich, an Schulen und Universitäten wird nur eine Lehrmeinung zugelassen, Andersdenkende in herausgehobener Position werden Opfer medialer Hetzjagd.

Die migrantische Bevölkerung, insbesondere jene aus islamischen Ländern, hat darunter am meisten zu leiden. Von ihr wird verlangt, dass sie sich der “deutschen Leitkultur” unterordnet, sie wird als Sündenbock für den zunehmenden Antisemitismus aufgebaut, und die Hetze gegen sie bildet den Hintergrund für eine zunehmend rabiatere Abschiebepolitik von Flüchtlingen.

3.

Den Überfall vom 7.Oktober hat die israelische Regierung genutzt, die Verhältnisse auf den Kopf zu stellen und 75 Jahre Kolonialismus und Vertreibung einfach auszublenden. Bewaffneter Widerstand dagegen war und ist legitim und ihm gehört unsere anti-koloniale Solidarität. Wir stellen die Gewalt der Ohnmächtigen nicht auf dieselbe Stufe wie die Gewalt der Mächtigen. Für die palästinensische Bevölkerung sind bewaffnete Angriffe gegen Israel ein verzweifeltes Mittel, um sich gegen einen aggressiven Siedlerstaat zu wehren.

Das bedeutet jedoch nicht, dass dabei alles erlaubt ist. Angriffe auf Zivilbevölkerung, unbewaffnete Frauen und Kinder, lehnen wir grundsätzlich ab. Auch im vorliegenden Fall haben sie der palästinensischen Sache nicht genutzt und eher geschadet. Wir teilen die Worte von Marek Edelman, dem Kommandeur der bewaffneten Organisation des jüdischen Aufstandes im Warschauer Ghetto, ein Sozialist und Anti-Zionist bis an sein Lebensende, der 2002 in seinem Brief „an die Führer der palästinensischen militärischen, paramilitärischen und Guerillaorganisationen; an alle Soldaten der militanten palästinensischen Gruppen“ schrieb:

„Wir haben mit hoffnungsloser Entschlossenheit gekämpft, aber unsere Waffen waren nie gegen die wehrlose Zivilbevölkerung gerichtet, wir haben nie Frauen und Kinder getötet. In einer Welt ohne Prinzipien und Werte sind wir trotz ständiger Todesgefahr diesen Werten und moralischen Grundsätzen treu geblieben.“

Das Motiv, in der israelischen Bevölkerung vor allem Panik und Schrecken zu verbreiten, entspringt einer Haltung, die zwischen der israelischen Bevölkerung und ihrem Staat keinen Unterschied macht, erstere in Kollektivhaft nimmt für letzteren. Die führende politische Kraft in diesem Akt des Widerstands, die Hamas, ist eine islamisch-fundamentalistische Organisation, frauenfeindlich, judenfeindlich und autoritär, sie steht nicht für emanzipatorische Ziele.

4.

Es sieht nicht danach aus, als wäre eine friedliche Lösung des Problems unter den Bedingungen einer sich radikalisierenden israelischen Gesellschaft möglich. Es sieht auch nicht danach aus, als wäre der Wunsch Israels nach Vertreibung der Palästinenser:innen aus Gaza, trotz seiner massiven Militäroffensive, umsetzbar. Israel wird umgekehrt von der palästinensischen Bevölkerung nicht militärisch besiegt werden können. Israel bezahlt seinen völkermörderischen Kurs aber mit zunehmender internationaler Kritik, die in Deutschland selbstherrlich übergangen wird.

Hier einen Gegenpol zur verzerrten Darstellung des Nahostkonflikts zu schaffen und lautstarke internationale Solidarität mit dem palästinensischen Volk zu üben – im Schulterschluss mit antizionistischen Jüdinnen und Juden in Israel und in der Diaspora – ist unsere zentrale Aufgabe. Den in jüngster Zeit auch in der BRD aufkommenden politischen Zusammenarbeitsstrukturen von Palästinenser:innen und anti-zionistischen jüdischen Aktivist:innen gehört unsere Unterstützung, sie weisen den Weg aus der politischen Sackgasse.

Historisch bezieht sich das Netanjahu-Regime auf den revisionistischen Zionismus Jabotinskys, der in den 30er Jahren mit dem Faschismus liebäugelte. Der Widerstand in Israel gegen dieses Regime entzündet sich am zynischen Agieren in der Geiselfrage und der Demontage der letzten Reste von demokratischen Strukturen. Er stellt das siedlerkoloniale Projekt nicht in Frage, vertieft aber die politische Krise in Israel.

5.

Als Unterstützende der Solidaritätsarbeit treten wir jeder Gleichsetzung des Staates Israel (und seiner Aktionen) mit dem Judentum entgegen. Wir wenden uns gegen die alte und neue Judenfeindlichkeit der deutschen und internationalen Rechten ebenso wie gegen solche Haltungen unter reaktionären muslimischen Strömungen.

Eine besondere Bedeutung kommt der Kampagne „Boycott, Divestment, Sanctions“ zu, die darauf abzielt, Israels rassistische Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung international an den Pranger zu stellen.

Wir unterstützen den Kampf gegen die deutsche Politik, die das Recht des Widerstands gegen einen Siedlerstaat delegitimieren will und den Vorwurf des Antisemitismus inflationär nutzt, um jede radikale Opposition mundtot zu machen. Wir unterstützen die Proteste gegen die Angriffe, Verbote und Diffamierungen derer, die dieser Politik die Stirn bieten.

  • Zusammen mit der internationalen Solidaritätsbewegung fordern wir einen sofortigen dauerhaften Waffenstillstand;
  • die sofortige Einstellung aller Waffenlieferungen nach Israel und in andere Staaten des Nahen Ostens;
  • die sofortige Beendigung der Siedlungspolitik im Westjordanland und der Vertreibung der arabischen Bevölkerung dort und auch in Israel selbst;
  • den Abriss der Mauer um Gaza und anderswo, die volle Freizügigkeit für die palästinensische Bevölkerung, mit oder ohne israelische Staatsbürgerschaft;
  • die Gleichstellung der palästinensischen Bevölkerung als Bürgerinnen und Bürger in einem Staat, in dem alle Menschen unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit und ihrem religiösen Bekenntnis ohne Diskriminierung zusammenleben;
  • das Recht auf Rückkehr der in Flüchtlingslager in die umliegenden arabischen Staaten vertriebenen Palästinenser:innen und ihrer Nachkommen.

Speziell für die Bundesrepublik fordern wir:

  • das Ende der Kriminalisierung von Solidarität mit dem Kampf der Palästinenser:innen für Selbstbestimmung;
  • die verbindliche Orientierung an der Jerusalem Declaration für die Definition von Antisemitismus;
  • die sofortige Wiederaufnahme und Aufstockung der deutschen Zahlungen an das UNRWA (Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina).
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