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Kultur

Eine neue Trotzki-Biographie

Von Helmut Dahmer | 01.02.2004

Trotzki steht für die unabgegoltene Vergangenheit des freiheitlichen europäischen Sozialismus, also auch für dessen mögliche Zukunft. Er steht ebenso für den Versuch, das revolutionäre Russland als Vorposten der Weltrevolution mit allen dafür geeigneten Mitteln gegen innere und äußere Gegner zu verteidigen. Biographen und Interpreten werden sich noch lange mit Leben und Schriften dieses revolutionären Marxisten beschäftigen.

Trotzki steht für die unabgegoltene Vergangenheit des freiheitlichen europäischen Sozialismus, also auch für dessen mögliche Zukunft. Er steht ebenso für den Versuch, das revolutionäre Russland als Vorposten der Weltrevolution mit allen dafür geeigneten Mitteln gegen innere und äußere Gegner zu verteidigen. Biographen1  und Interpreten2 werden sich noch lange mit Leben und Schriften dieses revolutionären Marxisten beschäftigen.

Pierre Broué ist ein Veteran der französischen trotzkistischen Bewegung und der führende Historiker der mit dem Namen Trotzkis verknüpften Strömung der Arbeiterbewegung. Dem deutschen Publikum vor allem durch seine Geschichte des spanischen Bürgerkriegs3 und die der deutschen Revolution4 bekannt, hat er im vergangenen Vierteljahrhundert sowohl die bisher 27 Bände umfassende, französische Ausgabe der Schriften Trotzkis aus den Jahren 1928-19405 herausgegeben als auch die Cahiers Léon Trotsky, die international wichtigste Fachzeitschrift auf diesem Gebiet. Seine 1988 veröffentlichte Trotzki-Biographie, die nun auch in deutscher Sprache vorliegt, hat er inzwischen ergänzt durch die beiden Biographien von Trotzkis (jüngerem) Sohn und Mitarbeiter der dreißiger Jahre, Leo Sedow6, und von Trotzkis Freund, dem führenden Kopf der russischen Linken Opposition in den Jahren 1929-1934, Christian G. Rakowski7.

Broués Trotzki-Biographie ist eine überaus nützliche, höchst informative Ergänzung der „klassischen" Biographie von Isaac Deutscher.8 Beide Autoren haben von Trotzki das historische und politische Denken gelernt. Deutschers drei Bände waren bei ihrem Erscheinen eine Sensation. Sie wurden in dem Jahrzehnt nach Stalins Tod – in den Jahren 1954, 1959 und 1963 – veröffentlicht9 und stellten den verfemten und vergessenen Revolutionär und seine Theorien der Nachkriegsjugend vor. Der Autor hoffte damals auf eine Radikalisierung der von Chruschtschow zögernd begonnenen „Entstalinisierung". Nach den Jahrzehnten des Stalinschen Terrors traute er nur der sowjetischen Bürokratie und ihrer politischen Agentur, der millionenstarken KPdSU, die Fähigkeit zum Handeln, zu einer Reform von Staat und Wirtschaft zu. Er war überzeugt, sie werde das staatliche Eigentum an den Produktionsmitteln, die Quelle ihrer Privilegien, verteidigen. Wir wissen es besser: Die Hoffnung auf ein Wiederaufleben der „unvollendeten" russischen Revolution10, die auch bei Broué noch anklingt11, hat getrogen.

Der im Verhältnis zu Deutscher zwanzig Jahre jüngere Autor schrieb seine Trotzki-Biographie in der Ära Gorbatschow, am Vorabend der Auflösung der KPdSU und der Sowjetunion. Sie erschien in dem Jahr, in dem die meisten Angeklagten des 3. Moskauer Schauprozesses von 1938 – darunter Rakowski und Bucharin – „rehabilitiert" wurden, womit das ganze Lügengebäude der stalinistischen Ideologie in sich zusammenstürzte. (S. 18) Deutscher schrieb seinen „Trotzki" vor 50 Jahren in der Erwartung, ein zu seinen revolutionären Anfängen von 1917 zurückfindendes Russland und eine sich erneuernde kommunistische Weltbewegung würden sich wieder an Trotzkis Ideen orientieren. Dessen Versuchen, in den dreißiger Jahren zuerst eine internationale Linke Opposition gegen den Stalinismus, dann (seit 1933) eine neue IV. Internationale ins Leben zu rufen, stand er skeptisch gegenüber. Broué hingegen geht es vor allem um die Rekonstruktion von Trotzkis politisch-organisatorischer Praxis in den zwanziger und dreißiger Jahren. Das Neue, das seine Biographie im Vergleich zu derjenigen von Deutscher bietet, findet sich dementsprechend in den Kapiteln, die der Entstehung und Geschichte der russischen und der internationalen Linken Opposition gewidmet sind, dem gescheiterten, mit dem Namen Rjutin verknüpften Versuch verschiedener Oppositionsgruppen, 1932 gegen Stalin Front zu machen, der Ausrottung der sowjetischen Opposition während des großen Terrors (1938) und der Geschichte der internationalen trotzkistischen Bewegung in den dreißiger Jahren.12 13

Der Historiker Deutscher war ein bedeutender Erzähler; Broué, der sich oft an ihm reibt, ist ein enthusiastischer Chronist. Deutscher ließ in seiner Biographie Trotzki und mit ihm Politik und Kultur einer ganzen Epoche wiederauferstehen. Broué hingegen engt den Horizont seiner Darstellung auf Leben und Politik Trotzkis und seiner Gefährten ein. Wir wissen, dass der Mensch „nicht von ›Politik‹ allein"14 lebt, und dass der durch und durch politische Mensch Trotzki schon gar nicht in der Politik aufging. Doch der marxistische Theoretiker und der Literat, der Historiker und der Kritiker Trotzki kommen nur selten und gleichsam zögernd in das Bild, das Broué für uns malt. Er präsentiert uns einen Trotzki, in dessen geistiger Welt Labriola und Freud, Pasternak, Pilnjak und Jessenin kaum eine Rolle spielen.15 Die viel versprechenden Kapitel über Trotzki als Schriftsteller, über seine Begegnungen mit John Dewey oder mit André Breton sind für den interessierten Leser eher enttäuschend.16

Der Horizont der Ära 1900-1940 wird in Broués Biographie eigentlich nicht überschritten. Die Chance, aus der Konstellation, in die unsere Gegenwart mit der ersten Hälfte des barbarischen 20. Jahrhunderts getreten ist, neue Einsichten zu gewinnen, wird kaum genutzt. Nahe liegende Fragen wie die, warum der GPU-Staat und das stalinistische Lagersystem, das wir mit Solschenizyn den „Archipel GULag" nennen, in Trotzkis Schriften eigentlich keine Rolle spielen, beunruhigen seinen Biographen nicht. Andere Fragen von beträchtlichem Interesse werden aufgeworfen, aber gleich wieder fallengelassen. So verhält es sich etwa mit der Frage, warum Trotzki partout als „treuester Schüler" Lenins erscheinen wollte (S. 1139), oder mit der anderen, welche Bedeutung Trotzkis Bemerkung vom September 1939 beizumessen ist, die historische Alternative bestehe darin, ob „das Stalinsche Regime" ein „häßlicher Rückfall" oder die erste Etappe einer neuen Ausbeutergesellschaft sei… (S. 1280 f.17).

Wer über Trotzki und die trotzkistische Bewegung Bescheid wissen will, der sollte zuerst Mein Leben18 lesen und dann die beiden großen Biographien von Deutscher und Broué.


* Broué, Pierre (1988): Trotzki. Eine politische Biographie. [Trotsky.] Köln (Neuer ISP Verlag) 2003. Bd. I und II, 1292 Seiten.

1 Max Eastman (1926), Victor Serge (1951), Harry Wilde (1969), Joel Carmichael (1972), Jean van Heijenoort (1978), Alain Dugrand (1988), Tony Cliff (1990), Dimitri Wolkogonow (1992), Jürg Ulrich (1995), Ian D. Thatcher (2003).

2 Heinz Brahm (1964), Denise Avenas (1970), Joseph Nevada (1971), Richard
B. Day (1973), Alain Brossat (1974), Geoff Hodgson (1975), Hartmut Mehringer (1978), Baruch Knei-Paz (1978), Ernest Mandel (1979), Michael Löwy (1981), Francesca Gori (Hg.) (1982), Terry Brotherstone und Paul Dukes (Hg.) (1992), Ernest Mandel (1992), Theodor Bergmann und Gerd Schäfer (Hg.) (1993), Gerd Placke (1994), Fred E. Schrader (1995), Julijana Ranc (1997), Ian D. Thatcher (2000).

3 Broué, P., und Émile Témime (1961): Revolution und Krieg in Spanien. Geschichte des spanischen Bürgerkrieges. [La Révolution et la Guerre d’Espagne.] Frankfurt 1968.

4 Broué (1971): Die deutsche Revolution (1918-1923). Berlin 1973.

5 Trotsky, Léon (1978 ff.): Œuvres. Paris.

6 Broué, P. (1993): Léon Sedov, fils de Trotsky, victime de Staline. Paris.

7 Ders. (1996): Rakovsky ou la Révolution dans tous les pays. Paris.

8 Leider lassen die deutsche Übersetzung des Buches und die Präsentation des wissenschaftlichen „Apparats" sehr zu wünschen übrig. Verlag und Herausgeber der deutschen Ausgabe haben offensichtlich auf eine abschließende redaktionelle Kontrolle verzichtet.

Deren Ertrag wären die Vereinheitlichung der Schreibweisen und der Nomenklatur, die Einfügung des Wortlauts bereits vorliegender Übersetzungen bei den Zitaten und die Eliminierung vieler unfreiwillig komischer Passagen und baren Unsinns gewesen…

9 Deutscher (1954-1963): Trotzki, Bd. I („Der bewaffnete Prophet, 1879-1921"), Bd. II („Der unbewaffnete Prophet, 1921-1929"), Bd. III („Der verstoßene Prophet, 1929-1040"). Stuttgart (Kohlhammer).

10 Deutscher, Isaac (1967): Die unvollendete Revolution 1917-1967. Frankfurt 1967.

11 Vgl. dazu Broué, S. 15 und S. 1127-1132.

12 Vgl. dazu Bd. I, Kapitel 28-36, und Band II, Kapitel 39, 40, 42, 44, 47, 48, 53 und 59.

13 Eine Übersicht über die Archivmaterialien, Memoiren, Studien, Materialien und Hilfsmittel, über die Deutscher bei der Abfassung seiner Biographie noch nicht verfügen konnte, findet sich in Broués „Danksagung" und seinem „Vorwort" (Band I), sowie im „Nachwort zur deutschen Ausgabe" (Band II).

14 Vgl. dazu Trotzki, Leo (1923): Fragen des Alltagslebens. Essen 2001, S. 15-24.

15 „Am 27. Oktober [1920] morgens", schreibt Rosmer, der Trotzki damals auf dem Feldzug gegen die konterrevolutionären Truppen des Generals Wrangel begleitet hatte, „waren wir am Bahnhof; der Zug war schon bereit […]. Der Waggon des Volkskommissars war der des ehemaligen zaristischen Eisenbahn-Ministers: Trotzki hatte ihn für seine Bedürfnisse hergerichtet; der Salon war in ein Büro mit Bibliothek umgewandelt worden […]." An zwei Wänden befanden sich „Borde, beladen mit Büchern, Enzyklopädien, technischen Werken; andere [Bücher] behandelten die unterschiedlichsten Themen und bezeugten die universelle Neugierde des neuen Benutzers; es gab sogar eine französische Ecke, in der ich die französische Übersetzung der marxistischen Studien von Antonio Labriola fand; ich war […] nicht wenig überrascht, [dort auch] Mallarmés ›Vers et Prose‹ im blauen Einband der akademischen Bibliothek Perrin zu sehen." Rosmer, Alfred (1952): Moskau zu Lenins Zeiten. Frankfurt 1989, S. 110 f. [Die „marxistischen Studien" Labriolas sind die beiden im Pariser Verlag Giard & Brière erschienenen Bücher des italienischen Hegelianer-Marxisten: Labriola, Antonio (1899): Socialisme et Philosophie. (Lettres à Georges Sorel.) – und Labriola (1902): Essais sur la conception matérialiste de l’histoire. Bei dem von Rosmer erwähnten Band von Stéphane Mallarmé handelt es sich um eine Anthologie von Gedichten, Prosadichtungen und poetologischen Reflexionen; Vers et Prose, morceaux choisis erschien 1893 im Pariser Verlag Perrin et Cie.]

16 Vgl. die Kapitel 27, 41, 55 und 58.

17 Broué schreibt dazu: „Ich überlasse anderen die Verantwortung [?!], aus dieser Stelle endgültige und tiefsinnige Schlußfolgerungen zu ziehen."

18 Trotzki (1929): Mein Leben. Versuch einer Autobiographie. Berlin 1990.

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