Eine neue Phase des Krieges
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Das Morden und Sterben geht weiter

Eine neue Phase des Krieges

Von Paul Michel | 09.06.2022

Fast drei Monate, nachdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist, ist der Krieg in eine neue und noch gefährlichere Phase eingetreten. Vorbei sind die Hoffnungen auf einen schnellen Sieg auf beiden Seiten. Stattdessen bereiten sich beide Seiten auf weiteres Gemetzel vor.

Russlands Wladimir Putin glaubte, dass die militärtechnisch weit überlegene russische Armee durch eine schnelle Offensive Kiew erobern, die ukrainische Regierung stürzen und an ihrer Stelle ein Marionettenregime einsetzen könnte. Solche blutigen und repressiven Fantasien verflüchtigten sich angesichts des unerwartet heftigen und erfolgreichen ukrainischen Widerstands und unerwarteter Schwächen des russischen Militärs schnell.

Umgekehrt erwiesen sich auch die Erwartungen der NATO-Staaten in Bezug auf die Wirksamkeit ihrer Sanktionen nicht als zutreffend. Zwar gelang es, Russland zu isolieren, aber der erwartete Zusammenbruch der russischen Wirtschaft trat nicht ein und die vielleicht erwartete Rebellion von Elementen des Militärs oder der russischen Führungsschicht gegen Putin fand nicht statt. Die Sanktionen scheinen bewirkt zu haben, dass sich vorerst große Teile der russischen Bevölkerung hinter Putin stellen.

Der Krieg hat sich zu einer schrecklichen, langwierigen Konfrontation entwickelt. Russische Truppen rücken in Teile der Süd- und Ostukraine vor. Im Donbass toben die Kämpfe in bisher nicht bekannter Härte. Putins Artillerie und Raketen pulverisieren jetzt im Donbass Städte und drohen dort die ukrainischen Kräfte einzukesseln. Die ukrainische Armee steht dort mit dem Rücken zur Wand und kann dem russischen Druck immer schwerer standhalten. Der Blutzoll bei Soldaten und Zivilbevölkerung ist erschreckend hoch. Nach offiziellen ukrainischen Angaben sind inzwischen mehr als 95 Prozent der Region Lugansk unter russischer Besatzung.

Waffenstillstand ist kein Thema mehr

Von Frieden spricht momentan niemand mehr. Die bescheidenen Ansätze für eine mögliche Verhandlungslösung, die bei den Gesprächen zwischen Russland und der Ukraine Ende März in Istanbul erkennbar wurden, sind kein Thema mehr. Dort hatte die Ukraine Neutralität und den Verzicht auf einen Nato-Beitritt angeboten, wenn ihr im Gegenzug Sicherheitsgarantien geboten würden. Der russische Unterhändler Wladimir Medinski hatte von „konstruktiven Gesprächen“ gesprochen. Selbst direkte Gespräche zwischen Putin und Selenskyj schienen möglich.

Die Regierungen der USA und Großbritannien wollten das offenbar nicht. Boris Johnson warnte den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj vor zu schnellem Friedensschluss. US-Außenminister Blinken erklärte, er erkenne bei den Friedensgesprächen zwischen Russland und der Ukraine keine wirklichen Fortschritte. Am 5. April berichtete die Washington Post, zahlreiche Nato-Staaten seien zu keinerlei Zugeständnissen bereit, um diplomatische Verhandlungen voranzubringen. Anstatt die in Istanbul vorgetragenen ukrainischen Vorschläge für eine Verhandlungslösung positiv aufzugreifen, stellte Boris Johnson die Lieferung „tödlicherer Waffen“ in Aussicht. Am 2. April meldete die Zeit: USA weiten Waffenlieferungen an Ukraine aus. Es scheint so, als sei Krieg für die wichtigen NATO-Staaten zur alleinigen Option geworden. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borell twitterte: „Dieser Krieg wird auf dem Schlachtfeld gewonnen werden.“

Sieg-Frieden ‒ sonst Nichts

Ziel der Nato-Staaten ist nicht ein Waffenstillstand und ein möglichst schneller Friedensschluss, sondern ein langwieriger Abnutzungskrieg, auch wenn dies weitere zehntausende Tote und unendliches Leid für die Menschen in der Ukraine bedeutet. Angespornt durch die anfänglichen militärischen Erfolge der Ukrainer verschärfen insbesondere die USA und Großbritannien die Eskalation. Die USA Führung wittert die Gelegenheit, ihre Demütigungen im Irak und in Afghanistan rückgängig zu machen. Sie sieht die Chance, „Russland von der Weltbühne zu drängen“, wie es ein ehemaliger US-Beamter ausdrückte.

Die USA rüsten die Ukraine im großen Stil auf. Seit Kriegsbeginn Ende Februar sagten sie der Ukraine Waffen und Munition für mehr als 3,8 Milliarden US-Dollar (rund 3,6 Milliarden Euro) zu oder lieferten diese bereits. Das US-Repräsentantenhaus hat jüngst ein gigantisches Hilfspaket in Höhe von 40 Milliarden US-Dollar (33 Milliarden Pfund) verabschiedet – das meiste davon für Waffen. Dies war sogar noch mehr als die 27 Milliarden Pfund, die Präsident Joe Biden vorgeschlagen hatte.

Ukrainer als Erfüllungsgehilfen der NATO

Angespornt durch die USA versteigen sich führende ukrainische Politiker und Militärs in die Vorstellung, dass die Ukraine die weit überlegene russische Armee militärisch besiegen werde. Der Außenminister der Ukraine, Dmytro Kuleba, sagte gegenüber der Zeitung Financial Times: „Jetzt, ermutigt durch westliche Waffen, wird der Sieg für uns in diesem Krieg die Befreiung des Restes unserer Gebiete sein.“ Damit meint Kuleba eine Offensive zur Rückeroberung des gesamten Donbass und möglicherweise der Krim. Die ukrainische Führung wird nicht müde, von der NATO immer mehr immer schwerere Waffen zu fordern.

Das ukrainische Militär wird immer mehr zu einem Erfüllungsgehilfen der Nato und wird von Tag zu Tag in ihrem Handeln stärker von den USA und Großbritannien abhängig. Nato-Staaten liefern der ukrainischen Armee Waffen und Munition sowie militärische Aufklärung, sie bilden die ukrainischen Soldat*innen aus und bezahlen mittels finanzieller Militärhilfen an die Ukraine den Sold der Soldaten. Die ukrainischen Streitkräfte kämpfen dadurch längst nicht mehr nur zur Verteidigung des Landes gegen die russische Invasion, sondern im Dienst des westlichen Militärbündnisses. Dessen vorrangiges Interesse besteht in einer langfristigen Schwächung des imperialistischen Konkurrenten Russland.

Anzeichen von Kriegsmüdigkeit

Den Preis dafür zahlen die Soldaten und Zivilisten in der Ukraine. Die ukrainische Führung hält in der Regel die eigenen Verluste vor der Öffentlichkeit geheim. Am 22. Mai rutschte es Selenskyj bei einer Pressekonferenz heraus, dass die Tagesverluste der eigenen Truppen an der Front in der Ostukraine auf 50 bis 100 Soldaten beliefen. Es ist offenkundig, dass die Zivilbevölkerung im Donbass massiv unter den Feuergefechten der Kriegsparteien leidet. Inzwischen gibt es auch auf ukrainischer Seite Anzeichen von Kriegsmüdigkeit.

Im Mai weigerten sich die Mitglieder des territorialen Verteidigungsbataillons von Tscherkassy zu kämpfen. Sie beklagten, dass viele von ihnen in der ersten Schlacht gefallen oder verwundet worden seien, aber keine medizinische Versorgung bekommen hätten. Sie halten ihre Anwesenheit an der Front für illegal, da die territoriale Verteidigung ausschließlich zur Verteidigung ihrer Städte organisiert wurde. „Wir wollen kein Kanonenfutter sein“, resümierten die meuternden Mitglieder. Daraufhin entwaffneten die Behörden sie und drohten ihnen mit Haft.

Zuvor hatten sich die Soldaten der 115. Brigade der Streitkräfte in Sjewjerodonezk geweigert, Befehle zu befolgen, und ein Video über schlechte Dienstbedingungen aufgenommen. Sie wurden daraufhin als Deserteure in ein Untersuchungsgefängnis gesperrt. Anfang Mai stürmten Frauen in der Stadt Chust in der Region Transkarpatien das Einberufungsbüro und protestierten gegen die Entsendung ihrer Männer von der Territorialverteidigung an die Front im Donbass. Der Leiter des Büros ging nicht darauf ein, woraufhin die Frauen begannen, Fenster einzuschlagen und in das Gebäude einzudringen.

Vier-Phasen-Plan der italienischen Regierung

Italien hat am 18. Mai einen Plan für eine Friedenslösung im Ukraine-Krieg vorgelegt. Der Plan umfasst vier Phasen:

  • Waffenstillstand in der Ukraine und Entmilitarisierung der Frontlinie unter UN-Aufsicht;
  • Verhandlungen über den Status der Ukraine, die einen Beitritt des Landes zur EU, aber keinen Beitritt zur NATO vorsehen; als offenkundigen Anreiz für die Ukraine, gegebenenfalls auf Teile ihres bisherigen Territoriums zu verzichten, sieht der Plan ein beschleunigtes Aufnahmeverfahren für das Land in die EU vor;
  • ein bilaterales Abkommen zwischen der Ukraine und Russland über die Krim und den Donbass: Auf Vorschlag der italienischen Regierung sollen die „umstrittenen Gebiete“ volle Autonomie erhalten und das Recht haben, für ihre eigene Sicherheit zu sorgen, während Kiew die Souveränität über die Regionen behält;
  • ein multilaterales Abkommen über Frieden und Sicherheit in Europa, das Abrüstung und Rüstungskontrolle, Konfliktprävention und vertrauensbildende Maßnahmen umfasst. Danach soll der Abzug der russischen Truppen aus dem ukrainischen Gebiet erfolgen.

Von westlicher Seite – auch von der deutschen Regierung – blieb die Unterstützung für den italienischen Vorschlag bisher aus. Die ukrainische Seite äußerte sich sehr ablehnend. Am 21. Mai, kurz nachdem die Ukraine in Mariupol eine schwere militärische Niederlage erlitten hatte, machte Selenskyj eine verstörende Erklärung: Die Ukraine habe der russischen Armee „das Rückgrat gebrochen“, sagte er in einem Fernsehinterview. „Sie werden die nächsten Jahre nicht mehr auf die Beine kommen.“ Angefeuert wurde er u.a. durch den NATO-Generalsekretär Stoltenberg, der erklärte: „Die Ukraine kann diesen Krieg gewinnen.“

Wenige Tage später gab es eine gewisse Kehrtwende. Nun erklärte Selenskyj plötzlich, dass der Konflikt nun doch nur mit Diplomatie gelöst werden könne. Es werde zwar weitere heftige und blutige Kämpfe geben, „aber endgültig enden wird er nur durch Diplomatie“, so Selenskyj. „Es gibt Dinge, die wir nur am Verhandlungstisch erreichen können.“ Die Ergebnisse der Verhandlungen müssten für die Ukraine aber „gerecht“ sein. Allerdings schränkte Selenskyj gegenüber dem japanischem TV ein, das vor Verhandlungen mit Moskau die russischen Truppen hinter die Linie vom 24. Februar zurückgedrängt werden müssten.

Der stellvertretende Vorsitzende des russischen Sicherheitsrats Dmitri Medwedew kommentierte den italienischen Vorschlag einer Friedenslösung des Ukraine-Konflikts wie folgt: „Die Donbassrepubliken haben ihr eigenes Schicksal endgültig entschieden und werden nicht zurückkehren. Dies ist für alle, die sich an das Schicksal der Minsker Abkommen und an die Morde an Zivilisten der Volksrepubliken Donezk und Lugansk erinnern, nicht hinnehmbar.“ Laut Medwedew sollte ein Friedensplan die „tatsächliche Lage“ und nicht ausschließlich die „Interessen der NATO und der westlichen Weltordnung“ berücksichtigen.

Russlands Außenminister Sergej Lawrow sagte, die „Rahmenbedingungen“ einer solchen Vereinbarung würden vom „Stand der Kampfhandlungen“ abhängen, die zum Zeitpunkt des „Realwerdens des Abkommens stattgefunden haben werden“.

Das bedeutet: Der Krieg, das Morden und das Sterben gehen vorerst weiter.

2. Juni 2022

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