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Innenpolitik

Die Wut ist zur starken Kraft geworden

Von Christa Hourani | 01.10.2010

Wir zitieren leicht gekürzt die Begrüßungsrede von Christa Hourani zum 12. bundesweiten Kongress der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken (IVG), der am 24./25. September 2010 in Stuttgart stattfand.

Wir zitieren leicht gekürzt die Begrüßungsrede von Christa Hourani zum 12. bundesweiten Kongress der Initiative zur Vernetzung der Gewerkschaftslinken (IVG), der am 24./25. September 2010 in Stuttgart stattfand.

Ich darf euch heute hier in Stuttgart begrüßen – einer Stadt, die wegen ihres Kampfgeistes mittlerweile weltberühmt ist. Ja – die braven Schwaben – wer hätte dies vor wenigen Monaten erwartet – kämpfen sehr nachhaltig und mit immer größerer Beteiligung gegen Europas größtes Infrastrukturprojekt „Stuttgart21“. Ein Hauch von Revolution weht durch Stuttgart.
Ich möchte hier weniger auf die inhaltlichen Argumente gegen dieses Projekt eingehen. Dies könnt ihr in den ausliegenden Broschüren und Flyern oder auf diversen Homepages nachlesen. Mit ist wichtiger, auf die Dynamik dieser Bewegung und auf das Verhalten der Gewerkschaften einzugehen, auch was wir Gewerkschafter von diesem Widerstand lernen können.
„Die S-21-Gegner­Innen haben ihre Macht entdeckt“
Im Kampf gegen Stuttgart21 kristallisiert sich die gesamte Wut, die sich die letzten Jahre aufgestaut hat und geht weit über das eigentliche Projekt hinaus.
Es ist die

  • Wut auf die Ignoranz gegenüber den Interessen der Bevölkerung durch die Politiker
  • Wut auf Korruption, Klüngelwirtschaft, Lügen, Geheimpapiere und- Gutachten
  • Wut auf den Abbau der demokratischen Rechte
  • Wut auf immer weitere Gängelung und Desinteresse an Mehrheitsmeinungen
  • Wut, dass über die Köpfe der Stuttgarter hinweg das Leben in Stuttgart den Interessen weniger Immobilienhaie, Bauunternehmen und Konzernen wie Daimler unterworfen wird.

Diese Wut ist zu einer starken Kraft geworden. Der Beginn des Abrisses des Nordflügels Ende Juli hat nicht zu Resignation und Ohnmächtigkeit geführt, sondern sich – trotz Sommerferien – zu einem starken nachhaltigen kreativen Widerstand entfaltet, die Anzahl der Widerständler vervielfacht – bei der größten Demo waren fast 70 000 da. Die S-21-Gegnerinnen und Gegner haben ihre Macht entdeckt, haben in vielen Aktionen ihre Kraft erlebt und verstärkt. Viele von ihnen sind zum ersten Mal in ihrem Leben auf Demonstrationen gegangen oder haben sich an Blockaden beteiligt. Und sie sind stolz darauf. Der Protest ist in allen Bevölkerungsschichten breit verankert.
Es ist eine nachhaltige Kultur des zivilen Ungehorsams entstanden. So gab es u.a.

  • zahlreiche Straßenblockaden, Kreuzungsblockaden, Blockade der Bundesstraßen 10, 14 und 27
  • Spontan-Demos in absoluten Tabubereichen wie Königstraße und Bannmeile des Landtags
  • Besetzungen des Rathauses
  • Blockaden des Bauzauns und Besetzung des Baugeländes
  • Besetzung des Nordflügels und der Bahnhofshalle, sowie Zug- und Gleisblockaden
  • Besetzung des Baggers und Ankettung am Betankungsfahrzeug für den Bagger
  • Baumbesetzungen und Aufbau einer Zeltstadt im bedrohten Schlossgarten

Der Widerstand hat eine sehr kreative, bunte, vielfältige Widerstandskultur hervorgebracht:

  • Der Bauzaun ist in wenigen Tagen zu einem Gesamtkunstwerk geworden, der die ganze Vielfalt der Bewegung, Witz, Tiefgang der Gedanken, Kultur, Politik  widerspiegelt.
  • Buttons, Aufkleber, Einkaufstaschen, T-Shirts und Fahnen prägen das Stadtbild.
  • Kulturelle Beiträge begleiten alle Demos und Aktionen, zeigen die Verbundenheit der Kulturschaffenden mit dem Widerstand und machen den Protest sehr lebendig und schön.
  • Viele Widerstandslieder sind entstanden, werden bei vielen Aktionen gesungen und stärken diese.
  • Die Gesprächskultur in Stuttgart hat sich geändert. Es wird überall diskutiert, miteinander geredet – am Bauzaun, bei den Aktionen, in der S-Bahn, im Betrieb. Die Begrüßung heißt nicht mehr „Grüß Gott“, sondern „oben bleiben“. Die Anonymität der Großstadt ist zurückgedrängt, das Miteinander ist ins Zentrum gerückt.
  • Der Bahnhof hat einen „südländischen Flair“ bekommen – dort ist immer was los. Aktionen, kulturelle Veranstaltungen, Diskussionsgruppen, Infostände, Mahnwachen, Blockaden, Kundgebungen.

Der Widerstand macht nicht nur stark und bildet – er macht auch einfach richtig Spaß. Viel können die Gewerkschaften von diesem Widerstand lernen:

  • Wie Nachhaltigkeit und Stärke in einer Protestbewegung entsteht
  • Wie sich Kreativität entwickelt, wenn sich eine Bewegung entfalten kann
  • Wie sich Eigeninitiative verstärkt, wenn nicht alles von oben vorgegeben wird
  • Wie im Laufe des Protestes immer weiter über den Tellerrand geschaut wird und andere Themen ebenso von Bedeutung werden, angenommen werden, ins Blickfeld geraten
  • Wie Kultur eine Bewegung belebt, Dynamik und Kraft gibt und die Teilnehmenden bildet
  • Wie kreativer Widerstand Kraft gibt und Spaß macht
  • Wie ziviler Ungehorsam eine Protestbewegung stärkt und breit getragen wird

Doch: Trotz Beschlüssen vieler Delegierten- und Funktionärsversammlungen (DGB, verdi, IGM, GDL) gegen Stuttgart21 sind die Gewerkschaften als Organisationen in der Protestbewegung nicht verankert, weil die Hauptamtlichen mehrheitlich diese Proteste nicht unterstützen bzw. viele für S21 sind. Eine Ausnahme hier in Stuttgart ist einzig verdi.

Zu einem ersten Affront kam es bereits auf der Antikrisen-Demo am 12.6., zu dem auch S-21-Gegner breit mobilisiert hatten. Dort konnten Befürworter von S21 sprechen und die verdi-Landesvorsitzende erklärte, das S21 sowieso nur ein Problem der Bewohner der Stuttgarter Halbhöhenlage sei.

Bei der IGM war es ein heftiges und langes, aber dann doch erfolgreiches Ringen, um den Beschluss gegen S21 durchzusetzen. Das Ringen um die Umsetzung dieses Beschlusses ist noch im Gang. Auf der letzten Delegiertenkonferenz wurde vereinbart, dass ein Vertreter des Ortsvorstandes auf der Montagsdemo für Baustopp und Volksentscheid spricht. Am Mittwoch dieser Woche wurde vom Stuttgarter Metallertreff auf der großen Funktionärskonferenz der IGM zum Auftakt des heißen Herbstes ein Flugblatt verteilt, um die Zusammenhänge zwische
n dem Protest gegen das Sparpaket und gegen S21 aufzuzeigen und die Notwendigkeit der Verbindung dieser Bewegungen zu verdeutlichen. Beides wird von der IGM-Spitze – trotz anderer Beschlusslage – nach wie vor nicht angestrebt. Wenn wundert’s, ist doch der baden-württembergische Bezirksleiter Jörg Hoffmann Mitglied im Kommunikationsbeirat für S21. D. h. es wird noch vieler inhaltlicher Auseinandersetzungen bedürfen, viel Nachdruck benötigen, um eine Änderung der Politik durchzusetzen.
„Dies lehnt der DGB nun ab.“
Nach neuesten Infos hat es der Bezirksvorstand des DGB BaWü abgelehnt, einen Vertreter der S21 Proteste auf der Kundgebung am 13. November reden zu lassen. Das Bündnis gegen S21 hatte dem DGB vorgeschlagen, die Demo am 13. November zu unterstützen, wenn ein Redner des S21 -Widerstands reden darf. Das Bündnis hätte auf eine eigene Demonstration an diesem Wochenende verzichtet und zur Gewerkschaftsdemo aufgerufen, was vermutlich zu 20 000 zusätzlichen Demonstrant­Innen für die Gewerkschaftsdemo geführt hätte. Dies lehnt der DGB, bei dem die IGM maßgeblich ist, nun ab.

Viele ehrenamtliche Gewerkschafter­Innen sind teil der Protestbewegung, so dass bei allen Demos auch Gewerkschaftsfahnen, -mützen und pfeifen zum Einsatz kommen. Das Netzwerk „Gewerkschafter gegen S21“ hat sich vor einigen Monaten gegründet und versucht, die aktiven Gewerkschafter zu vernetzen, den Druck auf die Gewerkschaften zur aktiven Mitarbeit im Bündnis zu erhöhen und den Protest verstärkt auch in die Betriebe zu tragen. Dies sind erste positive Ansätze.

Für die nächsten Wochen ist wichtig, aus den Betrieben heraus, aus den Vertrauenskörpern heraus, verstärkt Druck auf die Gewerkschaftsführungen zu machen, dass die Proteste gegen S21 und gegen das Sparpaket der Bundesregierung zusammenwachsen und sich gegenseitig stärken.

Beide Kämpfe sind Umverteilungskämpfe. Wir sollen bezahlen. Die 10 Mrd. für S21 werden der Stadt und den umliegenden Kommunen fehlen bei Schulen, Kindertagesstätten, öffentlichem Personennahverkehr, Gesundheitsversorgung, Schwimmbäder, Büchereien und vielem mehr.

Andererseits werden die Reichen immer mehr und besser gefüttert.
Im Bund, wie im Land und der Kommune werden soziale Errungenschaften abgebaut, demokratische Rechte geraubt, über unsere Köpfe hinweg entschieden. Die Verschmelzung von Kapital und Kabinett ist immer offensichtlicher.

Diese Angriffe brauchen eine gemeinsame Gegenwehr – von allen Kräften und Bewegungen – wenn wir erfolgreich sein wollen. Die gewerkschaftlichen Proteste können von dem Mut, der Kraft, der Nachhaltigkeit und der Entschlossenheit der S21-Gegner partizipieren. Die S21-Gegner können Koordination und langfristige Planung von den Gewerkschaften lernen. Und die Linken Kräfte in beiden Bewegungen haben die Aufgabe, eine antikapitalistische Perspektive in diese Bewegungen zu tragen […]

Die komplette Rede sowie das Einleitungsreferat und andere Materialien finden sich unter www.labournet.de/GewLinke/vers/reader12.pdf 

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