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Länder

Die Taliban der Wüste

Von Harry Tuttle | 11.11.2012

Der Norden Malis wird von Jihadisten kontrolliert. Ihr Terror richtet sich vor allem gegen die Mehrheit der dort lebenden Muslime.

 

Der Norden Malis wird von Jihadisten kontrolliert. Ihr Terror richtet sich vor allem gegen die Mehrheit der dort lebenden Muslime.

Als die bewaffneten Islamisten der Mujao (Bewegung für Monotheismus und Jihad in Afrika) am Morgen des 5. August 2012 auf den Platz der Unabhängigkeit in Gao blickten, wo sie, wie am Tag zuvor von ihrem Radiosender angekündigt, einem angeblichen Dieb die Hand amputieren wollten, erlebten sie eine Überraschung. Der Platz war bereits besetzt, Hunderte EinwohnerInnen hatten sich versammelt, um die barbarische Bestrafung zu verhindern. Die Protestierenden belagerten die nahegelege Wache und zündeten das Auto des örtlichen Mujao-Kommandanten an. Da erschien es den Jihadisten klüger, auf die Amputation vorerst zu verzichten.

Auf sich beruhen lassen wollten sie die Angelegenheit jedoch nicht. Noch am Abend überfielen sie die Radiostation Koima Adar und entführten den Journalisten Malick Aliou Maiga, der über die erfolgreiche Widerstandsaktion berichtet hatte. In der berechtigten Befürchtung, Maiga werde gefoltert, zogen DemonstrantInnen zu den Wachen, in denen er vermutet wurde, und forderten seine Freilassung. Maiga wurde schließlich schwer verletzt vor dem Krankenhaus gefunden.
Gao ist das Zentrum des Widerstands gegen die Jihadisten der Mujao, Ansar Dine (Kämpfer des Glaubens) und Aqmi (al-Qaida im islamischen Maghreb), die Nordmali kontrollieren. Doch der zivile Protest gegen die schwer bewaffneten Islamisten ist gefährlich und kann ihre Herrschaft derzeit nicht in Frage stellen. In Aguelhok wurde Ende Juli ein unverheiratetes Paar gesteinigt, mehrfach wurde über Amputationen und Auspeitschungen berichtet. Mit aller Gewalt versuchen die Jihadisten, der Bevölkerung ihre Version eines „islamischen Staates“ aufzuzwingen.
Söldner kehren zurück
Das ist keine einfache Aufgabe, denn in den Staaten südlich der Sahara dominiert eine konservative, aber relativ tolerante Version des Islam. Körperstrafen waren unbekannt, dass nun auch das Fußballspielen eine Sünde sein soll, stößt auf wenig Verständnis. Um der Bevölkerung klarzumachen, dass kein Widerspruch geduldet wird, haben die Jihadisten in Timbuktu auch mehrere Mausoleen islamischer Heiliger zerstört, die sie als Stätten des „Götzendienstes“ bezeichneten, die jedoch für die meisten Gläubigen zentrale Gebets- und Versammlungsorte waren. Der Kampf gegen den Jihadismus ist daher auch ein Kampf für die Religionsfreiheit der großen Mehrheit.
Wie konnte es dazu kommen, dass eine bewaffnete Minderheit mit wenigen Tausend Kämpfern ein Gebiet von der Größe Frankreichs unter ihre Kontrolle brachte? Noch vor Kurzem galt Mali als einer der afrikanischen Staaten, in denen sich die parlamentarische Demokratie stabilisiert hat. Auch die sozialen Bewegungen sind relativ stark, nicht zufällig wählte die globalisierungskritische Bewegung die malische Hauptstadt Bamako als Veranstaltungsort für das Weltsozialforum 2006. Nun aber ist das Land geteilt, und im Süden herrscht nach einem Militärputsch eine nicht gewählte „Übergangsregierung“.
Ausgelöst wurde die katastrophale Entwicklung von ehemaligen Söldnern des libyschen Diktators Muammar al-Gaddafi. Viele dieser Söldner waren malische Tuareg, sie kehrten nun mit großen Mengen Waffen zurück und verstärkten die separatistische „Nationalbewegung für die Befreiung des Azawad“ (MNLA), die umgehend eine Offensive begann. Die nur 7.000 reguläre Soldaten zählende Armee zog sich zurück. Die Niederlage führte im März zu einem Militärputsch, der faktisch die MNLA noch begünstigte. Doch auch die Separatisten hatten sich verkalkuliert. Nach einigen Wochen erfolgloser Verhandlungen wurden sie von den Jihadisten aus Gao und den anderen bedeutenden Städten des Nordens vertrieben.
Dort ähneln die Herrschaftsverhältnisse denen in Afghanistan, eine einheimische Bewegung, Ansar Dine, kooperiert mit zwei Gruppen des globalen Jihad, Aqmi und deren Abspaltung Mujao. Ein algerischer Diplomat wurde in Nordmali bereits ermordet, spätestens wenn von dort aus Anschläge in anderen Ländern organisiert werden, wird es zu einer Militärintervention kommen. Etwa 350.000 Menschen sind bereits aus der Region geflohen.
Diskriminierung der Tuareg
In schwach instutionalisierten Staaten können auch kleine Gruppen viel Unheil anrichten. Das militaristische Abenteurertum der MNLA öffnete die Tür für die Jihadisten. Ob die Mehrheit der Tuareg – die nur eine der Bevölkerungsgruppen in Nordmali (Azawad) sind – den Separatismus befürworten, ist fraglich. Doch die Unzufriedenheit ist berechtigt, denn auch die Demokratisierung hat an der Diskriminierung der Tuareg wenig geändert, im Frühjahr kam es im Süden zu Pogromen gegen Tuareg.
Weiterhin entscheidet eine schmale Oligarchie über die Verteilung von Geld und Entwicklungsprojekten. Der Norden wird traditionell benachteiligt, obwohl wegen der globalen Erwärmung die Dürreperioden häufiger werden – auch derzeit herrscht wieder Hungersnot – und die ohnehin dürftigen Lebensgrundlagen weiter schmälern. Nicht zuletzt deshalb hat die organisierte Kriminalität (vor allem Drogenschmuggel und Geiselnahmen) an Bedeutung gewonnen. Ihr Ertrag ist, neben mutmaßlicher Finanzhilfe der Golfmonarchien, die Geldqelle der Jihadisten.

Theoretisch könnte die Vertreibung der Jihadisten noch als Befreiungskampf von Milizen organisiert werden. Autonomie und Entwicklungsprojekte für den Norden sowie Maßnahmen gegen die Diskriminierung der Tuareg im gesamten Land würden die Demokratie wieder festigen. Vorbereitet wird jedoch mit westlicher Unterstützung eine Intervention der Ecowas (Wirtschaftsgemeinschaft westafrikanischer Staaten), einer von der extrem korrupten nigerianischen Oligarchie dominierten Organisation. Das Ergebnis dürfte ebenso desaströs ausfallen wie das der Einsätze in Afghanistan und Somalia. 

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