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Länder

Die Revolution beginnt zuhause

Von Harry Tuttle | 11.04.2013

Zwei Jahre nach dem Beginn der arabischen Revolten scheint sich für die Frauen wenig verbessert zu haben. Doch die Säulen des Patriarchats wurden erschüttert.
Wenn zwei leitende Platten im Weltraum einander nahe genug sind, wirkt auf sie eine Art Unterdruck. Wenn die Geschwindigkeit der Platte sich der der virtuellen Teilchen im Vakuum nähert, verpassen einige Teilchen die Antiteilchen entgegengesetzter Ladung und werden „real“, stellen also eine potentielle Energiequelle dar.

Zwei Jahre nach dem Beginn der arabischen Revolten scheint sich für die Frauen wenig verbessert zu haben. Doch die Säulen des Patriarchats wurden erschüttert.
Wenn zwei leitende Platten im Weltraum einander nahe genug sind, wirkt auf sie eine Art Unterdruck. Wenn die Geschwindigkeit der Platte sich der der virtuellen Teilchen im Vakuum nähert, verpassen einige Teilchen die Antiteilchen entgegengesetzter Ladung und werden „real“, stellen also eine potentielle Energiequelle dar.

Dieser dynamische Casimir-Effekt ist in der Physik seit längerem bekannt, die US-Weltraumbehörde NASA hielt seine Nutzbarmachung aber für „zweifelhaft“. Die damals 19jährige ägyptische Physikstudentin Aisha Mustafa hat jedoch im vorigen Jahr ein Antriebssystem patentieren lassen, das auf dem dynamischen Casimir-Effekt beruht und, wenn die noch gewaltigen technischen Probleme gelöst werden können, interplanetare Reisen ohne Treibstoffverbrauch ermöglichen würde.
Rebellion
Möglicherweise ist es ein Ergebnis des revolutionären Prozesses, dass die mittelägyptische Universität Sohag die ungewöhnliche Leistung der jungen Physikerin, die neben der NASA auch ihre männlichen Vorgesetzten überholte, nicht nur zuließ, sondern auch förderte. Sicher ist jedoch, dass es nicht zur Revolte gekommen wäre, wenn nicht unzählige Frauen und Männer gegen die Unterdrückung und den Stumpfsinn rebelliert hätten, den die Patriarchen der Gesellschaft aufgezwungen hatten.

Die Politikwissenschaftlerin Hoda Salah betrachtet den Kampf gegen das Patriarchat als Wurzel der Revolte: „der von Jugendlichen vollzogene Moralwandel“ habe „eine Rebellion gegen die Autoritäten von Staat, Religion und Eltern“ ausgelöst. Der Begriff Patriarchat ist im umfassenden Sinn zu verstehen. Für die meisten Ägypterinnen ist es bereits ein Akt der Rebellion, wenn sie gegen den Willen des Vaters oder Ehemanns das Haus verlassen, um in ein Café zu gehen. Doch es geht nicht „nur“ um Frauenrechte, auch erwachsene Männer unterstehen der Autorität des Vaters und der alten Männer, die auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Hierarchie herrschen.
Neue Werte
„Zunächst ging es um sexuelle Befreiung, um den Bruch mit dem System, seiner Moralpolizei und der Vergangenheit, daraus entstand die Revolution für Demokratie, Freiheit und Gerechtigkeit. In Rundtischgesprächen werden traditionelle Werte wie Gehorsamkeit und Respekt vor den Älteren, Konzepte von Weiblichkeit, Ehre, Schande, Liebe und Partnerschaft in Frage gestellt und neu definiert“, schreibt Salah.

Mit dieser These wird nicht behauptet, es habe keine anderen Ursachen gegeben – Salah selbst nennt die wachsende Armut. Dass die AraberInnen nicht schon früher revoltierten, es aber auch nicht noch länger aushielten und dass der in Tunesien im Dezember 2010 aufflammende Aufstand binnen weniger Monate zahlreiche andere Staaten erfasste, kann als Ergebnis eines gesellschaftlichen Gärungsprozesses gelten. Im Kampf gegen die Herrschaft der alten Männer liefen die Strömungen von Jugendrebellion, Streik- und Demokratiebewegung zusammen.

Zwei Jahre nach Beginn der Revolten scheint es kaum Verbesserungen für Frauen zu geben. Ihre rechtliche Lage droht sich sogar zu verschlechtern, da die ägyptischen und tunesischen Islamisten Verfassungen durchsetzen wollen, die nicht einmal eine formale Gleichberechtigung vorsehen.

Überdies werden die Meldungen über sexualisierte Gewalt immer erschreckender
Zu Übergriffen auf dem Tahrir-Platz in Kairo, dem wichtigsten Versammlungsort der ägyptischen RevolutionärInnen, kam es bereits in den ersten Tagen des Aufstands. Mittlerweile aber sind Angriffe Hunderter Männer auf Frauen alltäglich geworden. Die AktivistInnen stellten „Opantish“-Teams (Operation Anti-Sexual-Harassment) auf, die gegen die Angreifer vorgehen, die Frauen aber nicht immer schützen können.
Konterrevolutionäre Gewalt
Zwar sind die offenkundig organisierten Angreifer wahrscheinlich überwiegend von den Muslimbrüdern oder von Anhängern des alten Regimes rekrutierte und bezahlte Schläger. Dass als konterrevolutionäre Taktik Gewalt gegen demonstrierende Frauen gewählt wurde, bedeutet jedoch auch, dass die Verantwortlichen davon ausgehen, auf diese Weise ein noch immer weit verbreitetes Ressentment an-zusprechen: Frauen gehören nicht auf die Straße.

Dennoch gab es einen gewaltigen Fort-schritt: Millionen von Frauen und Männern akzeptieren die Geschlechter- und Alters-hierarchie nicht mehr. Nie zuvor gab es in der arabischen Welt so heftigen Widerstand gegen die Versuche der Islamisten, das alte Patriarchat mit neuem Personal wieder aufzubauen. Es gibt spezifische Protestformen von Frauen, etwa im Internet Dokumentationen über sexualisierte Gewalt und Selbstpräsentationen in „unschicklichen“ Posen, die den Anspruch repräsentieren, allein über den Grad an Verhüllung und Nacktheit zu entscheiden. Üb
erdies hat sich eine länderübergreifende feministische Debatte entwickelt.
Hauptwiderspruch
Der Kampf der Frauen ist vom allge-meinen Kampf um Freiheit nicht zu trennen, ohne dass Frauenunterdrückung ein „Nebenwiderspruch“ wäre. In der gegenwärtigen Phase des revolutionären Prozesses, in der soziale Forderungen eine zentrale Rolle spielen, aber vor allem um die zukünftige Gestaltung der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse gekämpft wird, ist das Patriarchat der Hauptwiderspruch – auch für Millionen von Männern, die eine neue Rolle finden wollen.

Islamisten und Anhänger des alten Regimes mögen übermächtig erscheinen, doch eine Lösung für die sozialen Probleme haben sie nicht, und ihre bornierte Politik bringt immer mehr Menschen gegen sie auf. Somit sind die Chancen besser denn je, den Sieg in einem Kampf zu erringen, der in Ägypten spätestens vor etwa 4700 Jahren begann. Die älteste bekannte Vorgängerin Aisha Mustafas war Merit Ptah, die erste Wissenschaftlerin, von der wir wissen. Genaue historische Angaben fehlen, doch zweifellos hatte sie einige Kämpfe durchzustehen, bevor sie „Erste unter den Heilkundigen“ genannt wurde.

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