„Die Mentalität der Taliban hat sich nicht geändert!”

RAWA-Aktivistinnen waren schon 1998 auf der Straße gegen die Taliban Foto: RAWA, Demonstration of the Revolutionary Association of the Women of Afghanistan (RAWA) in Peshawar, Pakistan to condemn the 6th black anniversary of swarming of fundamentalists into Kabul, April 28,1998, CC BY 3.0

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Revolutionärinnen in Afghanistan

„Die Mentalität der Taliban hat sich nicht geändert!”

01.09.2021

Die Aktivistinnen der Revolutionären Afghanischen Frauenorganisation (RAWA) wollen Widerstand gegen die Taliban leisten. Sie berichten im Interview, dass die Islamisten in Afghanistan wieder Gewalt verüben. Davor führte schon die Besatzung von USA und NATO zu Chaos und Blutvergießen.

Denn auch dem Westen ging es mit der Besetzung nicht um Frauenrechte, sondern darum, rivalisierende Mächte wie China und Russland zu schwächen, so die Aktivistinnen von RAWA. Das Interview mit den afghanischen Revolutionärinnen führte die Journalistin Sonali Kolhatkar.

SONALI KOLHATKAR: Jahrelang hat sich RAWA gegen die US-Besatzung ausgesprochen und jetzt, wo sie abrücken, sind die Taliban zurück. Hätte Präsident Biden die US-Streitkräfte auf eine Weise abziehen können, die Afghanistan in eine sicherere Situation gebracht hätte als die jetzige? Hätte er mehr tun können, damit die Taliban nicht so schnell die Macht übernehmen können?

RAWA: In den letzten 20 Jahren war eine unserer Forderungen, die US/NATO-Besatzung zu beenden, und noch besser, dass sie ihre islamischen Fundamentalisten und Technokraten mitnehmen und unser Volk über sein Schicksal entscheiden lassen. Diese Besatzung führte nur zu Blutvergießen, Zerstörung und Chaos. Sie haben unser Land zum korruptesten, unsichersten, drogenmafiösesten und gefährlichsten Ort vor allem für Frauen gemacht.

Von Anfang an konnten wir ein solches Ergebnis vorhersagen. Schon in den ersten Tagen der US-Besatzung Afghanistans erklärte RAWA am 11. Oktober 2001:

„Die Weiterführung der US-Angriffe und die steigende Zahl von Zivilopfern liefert den Taliban nicht nur eine Entschuldigung, sondern wird sogar dazu beitragen, die fundamentalistischen Kräfte in der Region und auch weltweit zu stärken”[1]

Der Hauptgrund, warum wir gegen diese Besatzung waren, war ihre Unterstützung des Terrorismus unter dem schönen Banner des „Kriegs gegen den Terror“. Von den ersten Tagen, als die Plünderer und Mörder der Nordallianz 2002 wieder an die Macht kamen, bis zu den letzten sogenannten Friedensgesprächen, Abkommen und Vereinbarungen in Doha und der Freilassung von 5000 Terroristen aus den Gefängnissen 2020/21, war es offensichtlich, dass eben dieser Rückzug kein gutes Ende nehmen wird.

Keines der theoretischen Konzepte des Pentagon von Invasionen oder Einmischungen führte zu einem sicheren Zustand. Alle imperialistischen Mächte marschieren in fremde Länder nur wegen ihrer eigenen strategischen, politischen und finanziellen Interessen ein, aber durch Lügen und die mächtigen Medienkonzerne versuchen sie, ihre wahren Motive und Absichten zu verschleiern.

Es wäre lachhaft zu denken, dass Werte wie „Frauenrechte“, „Demokratie“, „Nationsbildung“ wirklich zu den Zielen von USA und NATO in Afghanistan gehört hätten! Die USA waren in Afghanistan, um die Region zu destabilisieren und die rivalisierenden Mächte, insbesondere China und Russland, einzukreisen und ihre Wirtschaft durch regionale Kriege zu untergraben. Aber natürlich wollte die US-Regierung keinen so katastrophalen, schändlichen und peinlichen Abzug, der einen solchen Aufruhr hinterließ, dass sie gezwungen war, innerhalb von 48 Stunden erneut Truppen zu entsenden, um den Flughafen zu kontrollieren und ihre Diplomat*innen und Mitarbeiter*innen sicher zu evakuieren.

Wir glauben, dass die USA Afghanistan wegen ihrer eigenen Schwächen verlassen haben und nicht von ihren Kreaturen (Taliban) besiegt wurden. Für diesen Rückzug gibt es zwei wesentliche Gründe.

Der Hauptgrund ist die vielfältige interne Krise in den USA. Die Anzeichen für den Niedergang des US-Systems zeigten sich in der schwachen Reaktion auf die Covid-19-Pandemie, den Angriff auf das Kapitol und die großen Proteste der US-Öffentlichkeit in den letzten Jahren. Die politischen Entscheidungsträger*innen waren gezwungen, die Truppen abzuziehen, um sich auf die inneren Brennpunkte zu konzentrieren.

Der zweite Grund ist, dass der Afghanistankrieg ein außergewöhnlich teurer Krieg war, dessen Kosten in die Billionen gingen, alles aus Steuergeldern. Dies hat die USA finanziell so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass sie Afghanistan verlassen mussten.

Die Politik der Kriegstreiber*innen hat bewiesen, dass ihr Ziel nie darin bestand, Afghanistan sicherer zu machen, schon gar nicht jetzt, wo sie abziehen. Außerdem wussten sie, dass der Abzug chaotisch werden würde, aber sie zogen ihn trotzdem durch. Jetzt steht Afghanistan wieder im Rampenlicht, weil die Taliban an der Macht sind, aber dies war die Situation in den ganzen letzten 20 Jahren; jeden Tag wurden Hunderte unserer Leute getötet und unser Land zerstört und nur selten wurde darüber in den Medien berichtet.

SONALI KOLHATKAR: Die Taliban-Führung sagt, dass sie die Rechte der Frauen respektieren werde, soweit sie dem islamischen Recht entsprechen. Einige westliche Medien stellen dies in ein positives Licht. Haben die Taliban vor 20 Jahren nicht dasselbe gesagt? Glaubst Du, dass sich ihre Einstellung zu den Menschen- und Frauenrechten geändert hat?

RAWA: Die bürgerlichen Medien versuchen nur, Salz in die Wunden unserer verzweifelten Menschen zu streuen; sie sollten sich schämen, die brutalen Taliban so zu beschönigen. Ein Taliban-Sprecher erklärte, es gebe keinen Unterschied zwischen ihrer Ideologie von 1996 und heute. Und was sie über die Rechte der Frauen sagen, sind genau dieselben Formulierungen wie während ihrer früheren dunklen Herrschaft: die Anwendung der Scharia.

In diesen Tagen haben die Taliban in allen Teilen Afghanistans eine Amnestie ausgerufen und ihr Slogan lautet: „Was die Freude der Amnestie bringen kann, könnte keine Rache bringen“. Aber in Wirklichkeit töten sie jeden Tag Menschen. Erst gestern wurde in Nangarhar ein Junge erschossen, nur weil er statt der weißen Taliban-Flagge die dreifarbige afghanische Nationalflagge trug. Sie exekutierten vier ehemalige Armeebeamte in Kandahar, verhafteten den jungen afghanischen Dichter Mehran Popal in der Provinz Herat, weil er Anti-Taliban-Posts auf Facebook geschrieben hatte, und sein Verbleib ist der Familie nicht bekannt. Dies sind nur einige Beispiele für ihre gewalttätigen Aktionen trotz der „netten“ und geschliffenen Worte ihrer Sprecher.

Aber wir glauben, dass ihre Behauptungen nur Teil eines Schauspiels sind, mit dem die Taliban versuchen, mehr Zeit zu gewinnen, um sich selbst zu organisieren. Alles ging so schnell und sie versuchen jetzt, ihre Regierungsstruktur aufzubauen, einen Nachrichtendienst zu schaffen und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhinderung des Lasters zu gründen, das für die Kontrolle der kleinen Details des täglichen Lebens der Menschen verantwortlich ist, wie die Länge des Barts, die Kleiderordnung und ein Mahram (männlicher Begleiter – nur Vater, Bruder oder Ehemann) für jede Frau. Die Taliban behaupten, dass sie nicht gegen Frauenrechte seien, aber diese sollten im Rahmen des islamischen Rechts, der Scharia, bleiben.

„Die Scharia“ ist vage und wird von islamischen Regimen unterschiedlich ausgelegt, um ihren eigenen politischen Zielen und Regeln zu dienen. Darüber hinaus möchten die Taliban auch, dass der Westen sie anerkennt und ernst nimmt, und all diese Behauptungen gehören dazu, um von sich selbst ein geschöntes Bild zu zeichnen. Vielleicht werden sie in ein paar Monaten sagen, dass sie Wahlen abhalten werden, da sie an Gerechtigkeit und Demokratie glauben! Diese Vortäuschungen werden ihre wahre Natur nie ändern, und sie werden immer noch islamische Fundamentalisten sein: frauenfeindlich, unmenschlich, barbarisch, reaktionär, antidemokratisch und antiprogressiv. Mit einem Wort: Die Mentalität der Taliban hat sich nicht geändert und wird sich nie ändern!

SONALI KOLHATKAR: Warum sind die afghanische Nationalarmee und die von den USA unterstützte afghanische Regierung so schnell zerfallen?

RAWA: Einige Hauptgründe von vielen sind:

  1. Alles geschah gemäß dem Abkommen zur Übergabe Afghanistans an die Taliban. Die US-Regierung hatte sich in Verhandlungen mit Pakistan und anderen regionalen Akteur*innen auf die Bildung einer Regierung geeinigt, die hauptsächlich aus Taliban besteht. Die Soldat*innen waren daher nicht bereit, in einem Krieg getötet zu werden, von dem sie wussten, dass das afghanische Volk keinen Nutzen daraus zog, denn schließlich war hinter verschlossenen Türen schon abgemacht, die Taliban an die Macht zu bringen. Salmai Khalilsad[2] wird von der afghanischen Bevölkerung wegen seiner verräterischen Rolle bei der Rückkehr der Taliban an die Macht sehr gehasst.
  2. Die meisten Afghan*innen verstehen gut, dass der Krieg in Afghanistan nicht der Krieg der Afghan*innen und nicht zum Nutzen des Landes ist, sondern von ausländischen Mächten für ihre eigenen strategischen Interessen geführt wird und die Afghan*innen nur Kanonenfutter in diesem Krieg sind. Die Mehrheit der jungen Leute geht zu den Streitkräften wegen Arbeitslosigkeit und großer Armut, so dass sie nicht besonders entschlossen sind zu kämpfen. Erwähnenswert ist, dass die USA und der Westen seit 20 Jahren versuchen, Afghanistan als Verbraucherland zu erhalten und das Wachstum der Industrie behindert haben. Diese Situation führte zu einer Welle von Arbeitslosigkeit und Armut und ebnete den Weg für die Rekrutierungen der Marionettenregierung, die Taliban und das Wachstum der Opiumproduktion.
  3. Die afghanischen Streitkräfte waren nicht so schwach, dass man sie innerhalb einer Woche hätte besiegen können, aber sie erhielten vom Präsidentenpalast den Befehl, die Taliban nicht zurückzuschlagen, sondern sich zu ergeben. Die meisten Provinzen wurden friedlich an die Taliban übergeben.
  4. Das Marionettenregime von Hamid Karzai und Ashraf Ghani bezeichnete die Taliban jahrelang als „unzufriedene Brüder“ und entließ viele ihrer berüchtigtsten Kommandeure und Anführer aus den Gefängnissen. Afghanische Soldaten aufzufordern, gegen eine Truppe zu kämpfen, die nicht „Feind“, sondern „Bruder“ genannt wird, ermutigte die Taliban und beeinträchtigte die Moral der afghanischen Streitkräfte.
  5. In den Streitkräften herrschte beispiellose Korruption. Eine Vielzahl von Generälen (meist ehemalige brutale Warlords der Nordallianz) saßen in Kabul und schnappten sich Millionen von Dollar; sie zweigten sich sogar etwas vom Essen und Sold der Soldaten ab, die an der Front kämpften. „Geistersoldaten“ waren ein von SIGAR aufgedecktes Phänomen.[3] Hochrangige Beamte waren damit beschäftigt, ihre eigenen Taschen zu füllen; sie leiteten Sold und Verpflegung von Zehntausenden nicht existierender Soldaten auf ihre eigenen Bankkonten um.
  6. Wann immer Truppen von Taliban im harten Kampf belagert wurden, wurde ihr Hilferuf von Kabul ignoriert. In zahlreichen Fällen wurden Dutzende Soldaten von den Taliban massakriert, die wochenlang ohne Munition und Nahrung allein gelassen worden waren. Daher war die Zahl der Opfer unter den Streitkräften sehr hoch. Auf dem Weltwirtschaftsforum (Davos 2019) gab Ashraf Ghani zu, dass seit 2014 über 45 000 afghanische Sicherheitskräfte getötet wurden, während es im gleichen Zeitraum nur 72 von USA und NATO waren.
  7. Insgesamt bildeten in der Gesellschaft wachsende Korruption, Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit, Unsicherheit, Ungewissheit, Betrug, enorme Armut, Drogen und Schmuggel usw. den Boden für das Wiederauftretender Taliban.

SONALI KOLHATKAR: Wie können Amerikaner*innen derzeit RAWA und den Frauen und allen Menschen in Afghanistan am besten helfen?

RAWA: Wir sind sehr glücklich, die freiheitsliebenden Menschen der USA all die Jahre neben uns zu haben. Sie sollten ihre Stimme erheben und gegen die kriegstreibende Politik ihrer Regierung protestieren und die Stärkung des Kampfes der Bevölkerung in Afghanistan gegen diese Barbaren unterstützen.

Es liegt in der Natur des Menschen, Widerstand zu leisten, und die Geschichte liefert dafür viele Zeugnisse. Wir haben die wunderbaren Beispiele der kämpferischen Bewegungen „Occupy Wall Street“ und „Black Lives Matter“ in den USA. Wir haben gesehen, dass keine noch so große Unterdrückung, Tyrannei und Gewalt den Widerstand aufhalten kann. Frauen werden nie wieder gefesselt werden! Gleich am nächsten Morgen, nachdem die Taliban in die Hauptstadt eingezogen waren, malte eine Gruppe unserer jungen tapferen Frauen Graffiti an die Wände von Kabul mit dem Slogan: „Nieder mit den Taliban!“ Unsere Frauen sind jetzt politisch bewusst und wollen nicht mehr unter der Burka leben, wozu sie vor 20 Jahren noch eher bereit waren. Wir werden unsere Kämpfe fortsetzen und gleichzeitig intelligente Wege finden, um sicher zu bleiben.

Wir glauben, dass das unmenschliche US-Militärimperium nicht nur der Feind des afghanischen Volkes ist, sondern auch die größte Bedrohung für Weltfrieden und Stabilität. Jetzt, da das System am Rande des Niedergangs steht, ist es die Pflicht aller friedliebenden, progressiven, linken und gerechtigkeitsliebenden Personen und Gruppen, ihren Kampf gegen die brutalen Kriegstreiber*innen im Weißen Haus, im Pentagon und im Kapitol zu intensivieren. Das verrottete System durch ein gerechtes und humanes zu ersetzen, wird nicht nur Millionen armer und unterdrückter Amerikaner*innen befreien, sondern eine nachhaltige Wirkung auf jeden Teil der Welt haben.

Jetzt ist unsere Angst, dass die Welt Afghanistan und die afghanischen Frauen vergessen wird wie unter der blutigen Taliban-Herrschaft Ende der 90er Jahre. Daher sollten die fortschrittlichen Menschen und Institutionen der USA die afghanischen Frauen nicht vergessen.

Wir werden unsere Stimme lauter erheben und unseren Widerstand fortsetzen und für säkulare Demokratie und Frauenrechte kämpfen!

Das Gespräch führte die Journalistin Sonali Kolhatkar für die Online-Seite von RAWA. Übersetzung aus dem Englischen: Björn Mertens. RAWA ist ganz besonders in der aktuellen Situation über Spenden dankbar. Diese können online über die Seite der Organisation getätigt werden.


[1] http://www.rawa.org/us-strikes_de.htm

[2] Salmai Khalilsad ist ein in Afghanistan geborener US-Dipomat. Er war Ständiger Vertreter (Botschafter) der USA in Afghanistan und Verhandlungsführer bei den Friedensgesprächen mit den Taliban 2020.

[3] https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2020-07-30qr-intro-section1.pdf

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