Die Linke Lateinamerikas in der Sackgasse?
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Interview mit Franck Gaudichaud

Die Linke Lateinamerikas in der Sackgasse?

02.02.2021

Wie muss man herangehen, um die Entwicklung in Lateinamerika in den letzten Jahrzehnten richtig zu verstehen?

F. G.: Vor allem muss man sich davor hüten, alle Länder des Subkontinents über einen Kamm zu scheren, die in hohem Maße ihre geschichtlichen, kulturellen, linguistischen etc. Besonderheiten haben. Eine globale Analyse würde diese Besonderheiten der insgesamt über 600 Millionen Einwohner*innen in 20 verschiedenen Ländern außer Acht lassen. In unserem Werk[1] haben wir versucht, zwischen beiden Polen zu navigieren: einerseits eine recht gesamtheitliche Sicht zu liefern, andererseits von einigen detaillierten spezifischen Beispielen auszugehen.

Mit der Wahl von Chávez und Lula eröffnet sich ein neuer politischer Zyklus…

Im Zentrum unserer Betrachtung stehen die Volksbewegungen in der Region und ihre Mobilisierungen und Klassenkämpfe. Aus einer solchen kritischen soziopolitischen Sichtweise heraus lassen sich drei Perioden bestimmen. Die erste beginnt Ende der 90er Jahre, als die Agenda der USA, der Neoliberalismus und die einheimischen Oligarchien durch die einfache Bevölkerung infrage gestellt wurden: ein äußerst zersetzender oder „destituierender“ Moment [eine Phase der Delegitimierung oder Zersetzung der politischen Macht, AdÜ] mit großen sozialen Explosionen.

Die zweite dauert von 2002/3 bis 2011, als die so genannten „fortschrittlichen“ Regierungen an die Macht gelangen. Mit der Wahl von Chávez und Lula eröffnet sich ein neuer politischer Zyklus –  nicht nur auf der Wahlebene – der auf institutionelle Aspekte, neue Parteien und grundlegende soziale und konstitutionelle Reformen abzielt und Ergebnis vorangegangener Mobilisierungen ist. Verkürzt könnte man vom „goldenen Zeitalter“ der Fortschrittlichkeit sprechen.

Die dritte Periode, die mitunter „fin de cycle“ [Ende des Zyklus, eine Anlehnung an das fin de siècle, die beiden Jahrzehnte der „Dekadenz“ am Ende des 19. Jhd., AdÜ] genannt wird, beginnt 2011/12 und dauert noch immer an. Das ist die regressive Phase, die von ständig zunehmenden Spannungen zwischen den fortschrittlichen Regierungen und der einfachen Bevölkerung sowie Teilen der kritischen und intellektuellen Linken geprägt ist. Es ist auch die Zeit der Wirtschaftskrise und der „parlamentarischen“ (Honduras ab 2009, Paraguay, Brasilien) oder militärischen (Venezuela, Bolivien) Staatsstreiche, mit mehr oder weniger direkter Unterstützung der USA. In dieser angespannten Situation sind die Rechten und die extreme Rechte immer mehr auf dem Vormarsch. Sämtliche Grenzen eines neo-developmentalistischen und/oder neo-extraktivistischen Modells zeichnen sich ab – der Politikwissenschaftler Jeffrey Webber spricht von Staatskapitalismus. Bolsonaro in Brasilien wäre somit die äußerste Version dieser Regression „nach rechts außen.

Was genau bedeutet der Ausdruck „fortschrittliche Experimente oder Regierungen“ im lateinamerikanischen Kontext des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts?

Diese Definition wirft in der Tat nicht nur akademische, sondern auch politische Probleme auf. All diese „fortschrittlichen“ Regierungen berufen sich auf einen „Post-Neoliberalismus“. Rafael Correa meinte dazu, „die Region erlebt keine Epoche der Veränderungen sondern einen Epochenwechsel“. Demnach gäbe es sog. „nationalpopulistische“ Regierungen, die auf einer langen Tradition in Lateinamerika beruhen[2]: Chávez (Venezuela), Morales (Bolivien) und Correa (Ecuador) stehen für diese Rückkehr zu dieser „radikalen“ Form des Nationalpopulismus, der hier um einen antiimperialistischen Anspruch erweitert wird.

Aber diese „fortschrittlichen“ Regierungen bezeichnen auch eher sozialliberale oder Mitte-Links-Regierungen, zu denen man Lulas Arbeiterpartei (PT) oder Uruguays Breite Front (Frente Amplio) zählen kann, während der „Kirchnerismus“ in Argentinien den ersteren durch seine Geschichte und den letzteren durch seine Wirtschaftspolitik näher steht. Diesen neuen Regierungen ist gemeinsam, dass sie auf der Grundlage der sozialen Bewegungen der Jahre 1990 – 2000 entstanden sind oder zumindest den Anspruch erheben, sich auf Teile der Gewerkschaftskämpfe und der Forderungen aus den Volksbewegungen zu stützen. Sehr oft steht auch eine charismatische Figur, eine Art „Überpräsident“ im Mittelpunkt der „fortschrittlichen“ Strategie, was auf Dauer ein echtes politisches und demokratisches Problem darstellt.

Auf der anderen Seite gibt es oft eine neo-developmentalistische Orientierung, eine (je nach Konfiguration mehr oder weniger ausgeprägte) „etatistische“ Ausrichtung und den Rückgriff auf Rohstoffrenten (z. B. Erdöl, Bodenschätze oder Agrarindustrie), um diese im Rahmen von Sozialprogrammen umzuverteilen und so die Armut und Ungleichheit zu mindern. Ihr Anspruch war es, mit dem Neoliberalismus und dem Washingtoner Konsens zu brechen und in Bildung, Alphabetisierung, Infrastruktur etc. zu investieren, ohne jedoch mit dem Kapitalismus zu brechen. Insofern stehen die „fortschrittlichen“ Regime nicht in der Tradition der lateinamerikanischen revolutionären und antikapitalistischen Linken der 1960er und 1970er Jahre.

Sie setzen sich auch kritisch mit dieser „fortschrittlichen“ Theorie auseinander. Nach dem anfänglichen Enthusiasmus scheint ein guter Teil der radikalen Linken darüber hinweg zu gehen anstatt eine Bilanz zu ziehen: Warum ist das so?

Offensichtlich gibt es keine Neigung, die kritische Betrachtung zu intensivieren und eine Bilanz dieser Regierungen aus den letzten 20 Jahren zu ziehen. In Frankreich und in Europa gab es in den 1990er und 2000er Jahren innerhalb der sozialen und politischen Linken eine etwas enthusiastische Sichtweise auf Lateinamerika. Dennoch muss man sagen, dass der Beginn dieser Periode, die mitunter als „Linkswende“ bezeichnet wurde, wieder Balsam für die Seele war, und das nicht nur in Lateinamerika. Trotz Thatchers Verdikt (There is no alternative) gab es offensichtlich doch Alternativen, auch auf Regierungsebene; es war wieder die Rede von Sozialismus (des „21. Jahrhunderts“ oder vom „kommunitaristischen“ Sozialismus) und der Begriff des „guten Lebens“ (Buen Vivir) kam auf.

Ganze Teile der institutionell orientierten Linken haben sich hierauf gestürzt, weil sie hierin eine Möglichkeit sahen, das, was dort auf Regierungsebene passierte, auch auf französische Verhältnisse zu übertragen. Angesichts der die Bevölkerung mitreißenden Dynamik sprangen auch die radikalen Linken auf diesen Zug, aber mit mehr kritischer Distanz und Autonomie. Inzwischen reitet einige dieser Organisationen eine Art schlechtes Gewissen, als ob sie das Messer nicht in die Wunde legen und vermeiden wollten, offen zu diskutieren, wodurch das Scheitern verursacht wurde. Daran kommt man jedoch nicht vorbei. Keinesfalls, um die lateinamerikanischen Völker zu „belehren“, sondern weil genau diese Diskussionen heute unter den kritischen Geistern in Lateinamerika und innerhalb der Linken stattfinden.

Einfach wegzusehen, hieße: „Solange Ihr macht, was uns passt, sind wir solidarisch; wenn’s dann aber schlecht läuft, wenden wir uns anderen Dingen zu.“ Darin liegt ein tatsächliches Problem. Es wäre sehr wohl angebracht und gewissermaßen unumgänglich – auch bspw. innerhalb von La France Insoumise – sich mit dieser Entwicklung auseinanderzusetzen und sie einer kritischen Bilanz zu unterziehen.

Man wirft uns gelegentlich vor, die dortige Entwicklung zu lange (kritiklos) begleitet zu haben. Diesen Vorwurf lasse ich für mich gelten, aber ich halte daran fest, dass es in den Anfängen des Chavismus und auch der Entwicklung Boliviens unter Morales eine massive Mobilisierung unter der Bevölkerung gegeben hat, mit dem Ziel, mit dem Neoliberalismus zu brechen, wieder gegenüber den imperialistischen Einflüssen Souveränität zu erlangen und sich den Herrschenden zu widersetzen, und dass es daher legitim war, diesen Prozess „von unten und von links“ zu unterstützen. Dies sollte uns aber nicht daran hindern, im Rückblick auch die Widrigkeiten und Grenzen, die Rückschritte und strategischen Sackgassen zu sehen, und genauso all das, was einer wirklich Selbstorganisation und Demokratisierung im Wege gestanden hat.

Was diese Grenzen anlangt, schreiben Sie, dass „das Großkapital im Ganzen es verstanden hat, von diesem Goldenen Zeitalter der Fortschrittlichkeit zu profitieren“. Wie ist das zu verstehen?

Jeffrey Webber weist nach, dass in dieser Zeitspanne die Rohstoffpreise sehr hoch lagen und der Aufstieg dieser fortschrittlichen Regierungen strikt daran gekoppelt war. Das internationale und ausländische Kapital hat Marktanteile gewonnen: Damit gemeint ist die „Sojatisierung“ Argentiniens unter Kirchner, die Festigung der Dominanz Monsantos in Brasilien unter Lula und Rousseff, die Ausweitung der Erdölkonzessionen im Orinoco-Becken unter Maduro etc. Die randständige (ungleiche und kombinierte) Eingliederung dieser Länder in die Weltwirtschaft innerhalb der internationalen Arbeitsteilung wurde reproduziert im Sinne einer neokolonialen Abhängigkeit durch schwankende Rohstoffpreise.

Das Vorhaben der Regierungen war, angesichts der ungeheuren sozialen Notlage alles daran zu setzen, um neue öffentliche Maßnahmen und konditionierte Sozialleistungen finanzieren zu können, die marktwirtschaftlichen Prinzipien folgten und oft „assistenzialistische“ Züge hatten. Da aber weder ein struktureller Wandel noch eine steuerliche Belastung der Spitzenverdiener*innen vorgenommen wurden, konnte die reale und umgehende (wenn auch leider oft vorübergehende) Verbesserung der Lage der Ärmsten nur durch verschärften Extraktivismus und Öffnung für Auslandskapital erfolgen, sowie paradoxerweise durch die Konsolidierung bestimmter Fraktionen der herrschenden Klassen.

Diese Regierungen haben noch nicht einmal ansatzweise eine rigorosere Steuerpolitik betrieben, obwohl die Steuern auf Einkommen und Vermögen in Lateinamerika lächerlich gering sind und selbst die sozialdemokratische Linke i. d. R. eine progressive Kapitalsteuer befürwortet. Einzig Correa hat zaghafte Anläufe dazu gemacht, ist aber er vor den Protesten der Unternehmer*innen und des Mittelstandes eingeknickt. Insgesamt wurden die sozialen Verhältnisse im Bereich der Produktion nicht angetastet: Zwar wurden die Mindestlöhne in mehreren Ländern stark angehoben, aber die Rechte der Lohnabhängigen wurden kaum verbessert und vor allem die Arbeitsverhältnisse nicht grundlegend reformiert. Da keine strukturellen Umwälzungen vorgenommen wurden, brachen mit dem Aufkommen der Krise sogleich sämtliche durch diese „fortschrittlichen“ Regierungen austarierten Gleichgewichtsverhältnisse zwischen den einzelnen Klassen zusammen und nur die herrschenden Klassen konnten ihr Schäflein ins Trockene bringen.

Ob Erdöl, Erze oder Biotreibstoff – viele dieser Länder basieren wirtschaftlich auf dem Extraktivismus, also der Ausbeutung der Böden. Sie haben die starke wirtschaftliche Abhängigkeit vom Export und den Weltmarktpreisen erwähnt. Aber dies wirft auch Folgen für die Umwelt auf und hat zu Konflikten mit der indigenen Bevölkerung geführt.

Da haben Sie Recht: Die Probleme des „Megaextraktivismus“[3] führen zu Spannungen zwischen diesen Regierungen und den sozialen und Umweltbewegungen sowie manchen indigenen Gemeinden. Obwohl die Wirtschaftskapazität noch stark genug war (und bspw. Bolivien sogar von der Weltbank für seine Erfolge gelobt wurde) wurden durch die „neoextraktivistische“ Vorgehensweise dieser Regime zunehmend mehr Gebiete „geopfert“, was zu entsprechenden sozialen und ökologischen Verwerfungen und einer ablehnenden Haltung der betroffenen Gemeinden geführt hat. In diesen Jahren wurden Millionen von Quadratkilometern für die Ausweitung der Rohstoff- und Erdölgewinnung und der Agrarindustrie zerstört.

Wo zum Beispiel?

Ich will nur zwei Beispiele nennen. In Bolivien gab es eine Auseinandersetzung um ein Naturschutzgebiet („Tipnis), wo sich ein Teil der indigenen Bewegung dem Bau einer aus Brasilien kommenden Verbindungsstraße durch den Amazonas widersetzte und Evo Morales sich gegen Teile seiner indigenen Basis stellen musste. In Ecuador war der Yasuní-Nationalpark quasi das Vorzeigeprojekt von Correas Umweltschutzpolitik. Dann aber ist Correa eingeknickt und heute wird in diesem mithin artenreichsten Territorium weltweit Erdöl gefördert.[4] Auch waren die Beziehungen zwischen Correa und dem indigenen Interessensverband CONAIE konfliktgeladen: Er bezeichnete sie in den Medien als „kindische Umweltschützer“ oder gar Ökoterroristen, woraufhin ihm die indigenen Bewegungen vorhielten, dass er autoritär regiere und die „Mutter Erde“ (Pachamama) zerstöre. Vizepräsident García Linera warf den Umweltschützer*innen und den ONG aus der nördlichen Hemisphäre vor, aus den Bewohner*innen Boliviens die Parkwächter in Lateinamerika machen zu wollen. Seine Position lautete: „Wollt Ihr, dass wir weiterhin arm bleiben, statt dass wir unsere Reichtümer selbst ausbeuten?“

Dieses Argument ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, zumal es die Länder des globalen Nordens sind, die die Hauptverantwortung für die weltweite ökologische Krise tragen. Zugleich aber ist es ein willkommener Vorwand für die bolivianische Regierung, die Bewegungen und Kollektive in seinem Land zum Schweigen zu bringen, die für ein anderes Entwicklungsmodell plädieren. Der Extraktivismus steht heute im Mittelpunkt großer sozialer und ökologischer Auseinandersetzungen in ganz Lateinamerika.

Im letzten Kapitel unseres Buches fragt der Historiker und Soziologe Massimo Modonesi: Was sind die Alternativen? Eine der Tragödien der Ära der „fortschrittlichen“ Regierungen liegt darin, diese Frage nicht beantwortet zu haben. Auch wenn es Teilen der sozialen und politischen Linken aus dem antikapitalistischen, autonomen, libertären, antiextraktivistischen, indigenen, feministischen oder antikolonialistischen Spektrum gelungen ist, auf lokaler Ebene hier und da erfolgreiche und zukunftsweisende Projekte aufzubauen, haben sie doch nicht immer aufzeigen können, dass dies auch in größerem Maßstab umsetzbar ist. Dies lag teilweise daran, dass die „fortschrittlichen“ Regierungen ihnen Steine in den Weg gelegt haben, aber nicht nur: Mitunter wurden ultra-minoritäre und dogmatische Positionen vertreten, die mit der Realität des Gros der einfachen Bevölkerung wenig zu tun hatten. Darin liegt eine Hürde für radikale ökosozialistische und demokratische Ansätze des „guten Lebens“, die alternativ zu den abgewirtschafteten „fortschrittlichen“ Regierungen sowie zu der erstarkenden Rechten.

Auch wenn es einzelne wirtschaftliche und soziale Fortschritte gab, die zu einem Anstieg des Lebensstandards der einfachen Bevölkerung geführt haben, konnten die Protagonisten dieser „fortschrittlichen“ Politik bei den Wahlen nicht immer davon profitieren. Die Journalistin Maëlle Mariette formulierte dies so: „Hat die bolivianische Linke ihre Totengräber zur Welt gebracht?“ War diese Entwicklung vermeidbar, die die einfache Bevölkerung dazu getrieben hat, sich von denen abzuwenden, die deren politische Interessen vertreten wollten?

Seit 2010 gibt es eine Diskussion innerhalb der kritischen lateinamerikanischen Linken zwischen den Anhänger*innen der „fortschrittlichen“ Regierungen und denjenigen, die die inneren Widersprüche solcher Ansätze in den Vordergrund gerückt haben. García Linera, der als organischer Intellektueller dieser „fortschrittlichen“ Theorie gilt (da er sowohl ein brillanter Soziologe ist als auch 13 Jahre lang Vizepräsident von Bolivien war), argumentierte wie folgt: Bolivien befindet sich in einer revolutionären Phase, die aus Fortschritten und Rückschlägen besteht. In diesem nicht-linearen, sondern sich in Wellen vollziehenden Prozess konnte sich die einfache Bevölkerung zu einer neuen mestizischen und indigenen „Mittelschicht“ entwickeln, Zugang zu einer neuen Form des Konsums finden und Teil des neuen plurinationalen Wirtschafts- und Politikmodells werden. Trotzdem wenden sich einige von ihnen „gegen uns“. Maëlle Mariette greift in ihrem Beitrag einen Teil dieser durchaus bemerkenswerten Argumentation auf. Aber kritikwürdig daran ist, dass man sich fragen muss, welche Art von „Integration“ die „fortschrittlichen“ Regierungen den Unterschichten angeboten haben. Ihr sozialer „Aufstieg“ wurde durch Konsum und Subventionsmaßnahmen erreicht, die auf den Marktmechanismen basieren.

Im Detail war es natürlich überfällig und erforderlich, endlich einmal durch vielfältige staatliche Maßnahmen die Armut zu bekämpfen, nachdem zuvor jahrzehntelang die vom IWF diktierten strukturellen Anpassungsmaßnahmen erfolgt waren. Trotzdem blieb diese Politik zumeist einer Logik verhaftet, wie sie in ähnlicher Manier die Weltbank zur Armutsbekämpfung vorgeschlagen hatte. Wenn es um politische Teilhabe ging, also um die Beeinflussung der gesamten Regierungspolitik, spiegelte sich dies eher in einem Konzept des „allmählichen Hinüberwachsens“ (Transformismus) wider, was auf Demobilisierung und Kooptation „von oben“ hinauslief, wie es Massimo Modonesi in Gramscis Kategorien ausdrückt.

Anstatt die Selbstorganisation zu fördern, wurden die Basisorganisationen und ihre Führer*innen teilweise in den Staatsapparat integriert, wodurch diese Organisationen und die großen Gewerkschaften in eine passive Haltung gedrängt wurden. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Arbeiterpartei (PT) und des Gewerkschaftsverbandes CUT in Brasilien. Auch in Bolivien und Argentinien stiegen einflussreiche Führer*innen der sozialen Bewegungen ins Regierungskabinett auf. Zwar war ein Teil der Basisorganisationen durchaus dafür, dass ihre Führer*innen in diesen Institutionen Einfluss gewinnen sollten, der Preis dafür lag jedoch in der Schwächung ihrer Autonomie. Sobald auch nur die geringsten Ansätze einer Selbstorganisation sichtbar wurden, wurden sie bezichtigt, mit dem Feind gemeinsame Sache zu machen oder gar Werkzeuge des Imperialismus zu sein etc.

Es hat also eine „Domestizierung“ bestimmter Schichten stattgefunden, die Zugang zum Wirtschaftsleben erhielten, ohne dass sie jedoch in einen Demokratisierungsprozess im weiteren Sinn, also einschließlich des Produktions- und Arbeitssektors, einbezogen worden wären.

In der Tat sind die Arbeitsplätze und die Lohnabhängigkeit zentrale Fragen bei einem sozialen Umwälzungsprozess und durchaus keine Nebensache, die man im Handumdrehen regeln kann – selbst nicht, wenn man die Exekutive kontrolliert, aber besonders die Medien, die Wirtschaftskreise und ein Teil des Staatsapparats gegen sich hat. Wie also wurde dieses Kernproblem angegangen? In Venezuela bspw. wurden alle Ansätze einer Arbeiterkontrolle oder Mitbestimmung von der Bürokratie erstickt. Es gab dort eine große Genossenschaftsbewegung mit Zehntausenden von Kooperativen, aber vorwiegend wurde dies in klientilistischer Manier gehandhabt. Dasselbe gilt für die Gemeindeversammlungen, die eines der belebendsten Momente des bolivarianischen Prozesses waren, aber unter der Krise und der grassierenden Korruption verschüttet wurden, indem man sie entweder ausgeblutet oder unterdrückt hat.

In Argentinien gab es eine Bewegung unter den Arbeiter*innen, die geschlossene Betriebe unter ihrer Kontrolle weiterbetrieben. Die Regierungen Kirchner und Fernández hingegen leisteten keine Unterstützung oder torpedierten diese Projekte sogar. Aber ohne die Möglichkeit, in die Produktionssphäre einzugreifen und die wirtschaftlichen Verhältnisse auf eine demokratische Grundlage zu stellen, fehlt offensichtlich ein zentraler Bestandteil einer sozialen Umwälzung.

Im Oktober 2019 kam die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) zu der Ansicht, dass die Wahl von Evo Morales in Bolivien auf Betrug beruhte, und er wurde aus dem Amt gedrängt. Später hieß es, dass es wahrscheinlich keinen Betrug gab und die Wahl vielmehr rechtmäßig war und Morales daher Opfer eines Staatsstreichs wurde. Können Sie dies bestätigen?

Für mich bestand von Anfang an kein Zweifel daran, dass dies ein Staatsstreich war, so wie die ganze Geschichte Boliviens im 20. Jahrhundert durch Zivil- oder Militärputsche geprägt war. Der Sturz von Morales wurde entscheidend durch das Eingreifen des Militärs und der Polizei herbeigeführt. Es bestand eine allgemeine Konfusion, an der besonders die OAS mit einem komplett manipulativen und ungenauen Wahlbericht schuld war. Inzwischen weiß man, dass es keinen massiven Wahlbetrug gegeben hat und Evo Morales knapp gewonnen hatte, was wiederum zeigte, dass seine Popularität im Sinken begriffen war.

Während seiner Präsidentschaft hat sich das Bruttoinlandsprodukt mehr als verdreifacht – ein historisch einmaliger Wert. Trotz seines hohen persönlichen Ansehens und der engen Beziehungen seiner Partei (Movimiento al Socialismo, MAS) zu den sozialen Bewegungen unter der indigenen und ländlichen Bevölkerung kam es zu einer wachsenden Entfremdung zwischen der MAS und ihrer Basis in der Bevölkerung (womit nicht nur die vielzitierte Mittelschicht gemeint ist). Als es zum Staatsstreich kam, ging das Volk nicht auf die Straße, um Morales zu unterstützen, sondern vielmehr, um gegen den vermeintlichen Wahlbetrug zu protestieren. Insofern war es der rassistischen und evangelikalen Ultrarechten um das Bürgerkomitee von Santa Cruz (aber auch von Potosi) möglich, die Proteste umgehend für sich zu instrumentalisieren.

Die ausbleibende Solidarisierung unter der Bevölkerung zeigt auch, dass ihre Begeisterung für Morales nach 14 Regierungsjahren verbraucht war.

Dass es eine konkrete und materielle Verbesserung der Lebensbedingungen unter Evo Morales gegeben hat, lässt sich anhand der Zahlen belegen. Er hat es sogar geschafft, eine internationale Reputation zu erlangen, vor allem in der europäischen Linken, für die er fast die alleinige Inkarnation der Pachamama (Mutter Erde), der kommunitaristischen und indigenen Revolution darstellt. Mitunter ist dies sogar ein bisschen schockierend, wie er fast zum „guten Revolutionär“ in den Augen der Europäer wird. Dabei muss man aber bedenken, was im Land passiert, die sozialen Spannungen verstehen und die Kritik vernehmen, die an den caudillistischen und klientelistischen Strukturen und seinem bedingungslosen Festhalten an der Präsidentschaftskandidatur laut wurde. Mit der Machtergreifung zahlte die bolivianische Linke den Preis, den die Führung der Staatsgeschäfte in einem kapitalistischen und oligarchischen Land mit sich bringt, auch wenn es durch beherzte Maßnahmen der verfassungsgebenden Versammlung Teilreformen gegeben hat: nämlich dass sich  diese Linke transformiert, institutionalisiert und bürokratisiert und dabei ihre Kritikfähigkeit und ihre Verankerung in den Kämpfen verliert.

Diese essentielle Lektion verweist auf die Diskussion, die Anfang dieses Jahrtausends anlässlich des aufkommenden Zapatismus geführt wurde, nämlich ob man die Welt verändern kann, ohne die Macht im Staat zu übernehmen. Die „fortschrittlichen“ Regierungen sind bei ihrem Antritt dieser Diskussion ausgewichen, indem sie vorgegeben haben, die Gesellschaft zu verändern, indem sie die Regierung übernehmen, und somit eine „staatszentrierte“ Position eingenommen haben. Eine solche Position fordert von den Aktivist*innen und den Basisbewegungen einen hohen Preis. Inzwischen ist diese Diskussion wieder in Gang gekommen und kreist um die Stichworte: Autonomismus, Zapatismus, antikapitalistische Strategien und Wahlorientierung einer staatsfixierten Linken. Für uns ist es wichtig, eine kritische und basisnahe Autonomie zu bewahren, ohne dabei die Staatsfrage aus dem Auge zu verlieren – denn die Staatsfrage wird sich immer stellen, auch wenn wir sie zu ignorieren versuchen, wie Daniel Bensaïd es formuliert hat.

Sprechen wir über Venezuela: Verkürzt gesprochen, herrschen zwei Interpretationen vor, wenn es darum geht, die anhaltende Krise zu erklären. Auf der einen Seite sehen die liberalen und reaktionären Kreise darin das eklatante Scheitern der Regierung Chávez und seines „Erben“ Nicolás Maduro und damit des Sozialismus; auf der anderen Seite behaupten Maduros Anhänger, die Regierung sei das Opfer einer Verschwörung der Unternehmer und der Rechten, unterstützt von ausländischen Mächten (zuvörderst von Washington), die versuchen, das Land zu destabilisieren. Wie könnte eine andere Sichtweise aussehen?

Dies war genau das Thema unseres Buches: Kann man das, was in Lateinamerika vorgeht, von links kritisieren, ohne dass ein Teil der „wohlmeinenden“ Linken sofort ein Einknicken vor dem Imperialismus wittert? Wir wollen hier nicht mit der Rechten diskutieren, sondern mit den Linken, die sich einer kritischen Analyse verweigern. Dies ist ganz offensichtlich überfällig, zumal selbst die dogmatischsten Verteidiger von Maduro ihre einseitige „campistische“ Weltsicht immer weniger aufrechterhalten können.

Natürlich gibt es eine imperialistische Aggression gegen Venezuela, die vollkommen illegal ist, wie selbst die UNO kritisiert. Das kriminelle Embargo seitens der USA, die Destabilisierungsversuche durch die CIA oder der mit dem Segen der Imperialisten selbsternannte Präsident Guaidó – all dies ist absolut untragbar und zeitigt katastrophale Folgen. Eine regierungsunabhängige Studie aus den USA kam zu dem Ergebnis, dass das Embargo (das auch für Medikamente und damit für das Gesundheitswesen gilt) für den Tod von mehreren zehntausend Menschen in Venezuela verantwortlich ist. Dies wollen wir natürlich nicht verschweigen. Aber die Krise allein auf solche externe Faktoren zurückzuführen, hieße, sich über das venezolanische Volk und seine Leiden zu mokieren, denn das Volk schreibt seine eigene Geschichte und der Bolivarismus ist auch von innen heraus gescheitert.

Was meinen Sie mit Scheitern?

Alle kritischen Ansätze, die es lange Zeit innerhalb der chavistischen Basis gab und die sich in den Stadtvierteln, Ortsräten, einigen Landgemeinden etc. herauskristallisierten, wurden systematisch ignoriert oder gar unterdrückt. Die regierende PSUV ist weiterhin eine Massenpartei mit mehreren Millionen Mitgliedern – oft braucht man den Mitgliedsausweis, um einen Job zu bekommen –, aber sie war nie ein Hort demokratischer Meinungsbildung. Ganz im Gegenteil. Unter Chávez versuchten sozialistische, marxistische und antikapitalistische Strömungen, an der Seite der chavistischen Basis am Fortgang des bolivarischen Prozesses mitzuwirken. Aber die teils zivil, teils militärisch geführte Regierungspolitik mit caesaristischen und vertikalistischen Tendenzen sowie die Korruption, erstickten diese Stimmen und wogen schwerer als eine allumfassende Beteiligung und die demokratischen Experimente „an der Basis“.

Unsere Absicht besteht nicht darin, einen gewissermaßen heroistischen Chavismus einem „maduristischen“ Pragmatismus diametral gegenüberzustellen. Wir glauben vielmehr, dass es Höhen und Tiefen gegeben hat, im Rhythmus des Klassenkampfes und der Auseinandersetzungen mit Washington und der Opposition, und Zersetzungserscheinungen während der 15-jährigen Regierungsära, gemessen an den anfänglichen „post-neoliberalen“ und volksnahen Ansprüchen. Der Madurismus ist gewissermaßen die Krönung dieser bonapartistischen „Degeneration“. In jüngster Zeit erleben wir eine Explosion der staatlichen Gewalt, eine zunehmende militärische Kontrolle über die Arbeiterviertel und eine Kriminalisierung abweichender Meinungen, auch wenn sie aus dem linken oder gewerkschaftlichen Spektrum stammen.

Auch die Institutionen verfallen zusehends in autoritäre Praktiken: Wenn heute in irgendeinem europäischen Land ein Präsident die Macht des Parlaments (in den Händen der Opposition) aufheben, in eigener Machtvollkommenheit und unter Außerachtlassung der bestehenden (chavistischen) Verfassung eine Verfassungsgebende Scheinversammlung einberufen und sich selbst an die Stelle der gesetzgebenden Gewalt setzen würde, dann würde die gesamte Linke aufheulen. Aber genau das ist in Venezuela passiert, und Teile der Linken schweigen dazu.

Dass sich die Regierung mit einer Opposition auseinandersetzen muss, die in Teilen auf Destabilisierung und Putsch aus ist und von der CIA unterhalten wird, trifft zu und ist ein wichtiger Faktor im Kräfteverhältnis. Aber unter dem Gesichtspunkt der Emanzipation und des viel gerühmten „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ muss unsere Kritik selbstverständlich dieser neuen Kaste an der Macht, der „Bolibourgeoisie“ gelten, die Milliarden von Dollars auf die Seite geschafft hat, und ebenso den obrigkeitsstaatlichen Tendenzen. Dasselbe gilt für die Abhängigkeit vom Petro-Dollar: Im Orinoco-Delta errichtet die Regierung Sonderwirtschaftszonen, in denen – auf der Fläche eines Territoriums so groß wie Belgien – die Arbeitsrechte außer Kraft gesetzt werden ebenso wie der Schutz der Artenvielfalt und die Rechte der dort lebenden Völker! Dabei geht es um eine Ausweitung der Ölförderung, die alteingesessene indigene Gemeinschaften und Naturschutzgebiete betrifft und für deren Durchsetzung das bolivarische Militär mit China, Russland oder Konzernen wie Total gemeinsame Sache macht.

Ein langes „Sündenregister“ also!

Der Beispiele gäbe es noch viele. Am dramatischsten ist gegenwärtig die humanitäre Krise, deretwegen etwa fünf Millionen Menschen aus Venezuela geflüchtet sind, was – gemessen an der kurzen Zeit – die größte Flüchtlingswelle in Lateinamerika darstellt. Das BIP ist seit 2013 um 50 % eingebrochen und der Mindestlohn von umgerechnet drei Dollar, was noch nicht einmal für fünf Tage ausreicht, wird durch die Hyperinflation aufgezehrt etc. Dieses große erdölproduzierende Land muss nun Rohöl importieren.

Die Solidarität mit dem venezolanischen Volk muss weitergehen – an dieser Dringlichkeit gibt es keine Zweifel. Es braucht eine internationale Solidarität, die laut und deutlich das US-Embargo und die Haltung der EU anprangert. Diese Großmächte beklagen heuchlerisch die Menschenrechtsverletzungen in Venezuela, schweigen sich aber über die zunehmenden Massaker in Kolumbien oder die desaströse Lage in Haiti aus, ganz zu schweigen von den Geschehnissen in ihrem eigenen Land. Dabei dürfen wir nicht verschweigen, dass das Maduro-Regime inzwischen eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist. In jedem Fall ist es die Sache des venezolanischen Volkes, allein und ohne Einmischung von außen zu entscheiden.

Gibt es eine demokratische und sozialistische Perspektive, um diesem Chaos zu entrinnen?

Darin liegt das große Problem, wie zahlreiche Aktivist*innen vor Ort meinen: Die Lage ist deswegen so katastrophal verfahren, weil die einzige aktuell existierende Alternative von der neoliberalen und/oder pro-imperialistischen Rechten angeboten wird. Wenn sie über die Wahlurnen oder gar durch Gewalt an die Macht käme, würde das Land noch tiefer in den Schlamassel reiten. Der einzige Ausweg liegt darin, dass sich das Volk wieder selbst organisiert und sich sozial und politisch vernetzt, um eine Alternative zu diesem Dilemma zu rekonstruieren. Aber die „alternative“ Linke befindet sich in einer extrem schwachen und äußerst fragilen Position. Da gibt es bspw. die Gruppe Marea Socialista, die inzwischen die lange vertretene Position eines „kritischen und volksnahen“ Chavismus aufgegeben hat und gegen den chavistischen Autoritarismus und Militarismus kämpft, aber kaum dazu in der Lage ist, sich politisches Gehör zu verschaffen.

Dies gilt umso mehr, als die katastrophale wirtschaftliche Lage den Menschen schlicht keine Zeit lässt, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen: Wenn wir mit Freunden dort darüber sprechen, sagen sie uns: „Wir brauchen etwas zu essen und die Suche danach frisst unsere Zeit“. Es ist völlig unmöglich, in dieser Situation eine stabile demokratische Alternative zu schaffen. Wir müssen auf eine wirtschaftliche Erholung hoffen (was aber in Zeiten der Pandemie schwierig ist), und darauf, dass es zu friedlichen und einvernehmlichen Verhandlungen zwischen den bestehenden Kräften kommt und in diesem Zuge nach und nach autonome Basisstrukturen entstehen können. Dies gilt auch über die (…) Parlamentswahlen vom 6. Dezember 2020 hinaus, wo sich schon jetzt Teile der gewaltbereiten und von Trump unterstützten „guaidistischen“ Opposition und das Lager des Amtsinhabers unversöhnlich gegenüber stehen, der in den Umfragen vorne liegt und seine Legitimität wiederherstellen will, ohne dabei jedoch Verantwortung für die bestehende Krise zu übernehmen.[5]

Auch wenn der „Zyklus“ zu Ende ist und sich die reaktionäre und konservative Rechte im Aufwind befindet, gibt es doch auch Gegentendenzen, wie die eindrucksvolle feministische Bewegung in Chile gezeigt hat. Ist das der Weg, auf dem die sozialen Bewegungen in Lateinamerika neu entstehen können?

Ich bin sehr skeptisch, was den Begriff „Ende des Zyklus“ anlangt, auch wenn manche der Koautoren unseres Buches anderer Meinung sind. Mir erscheint er zu „mechanistisch“ und ich sage lieber, dass wir uns seit 2012 in einer „turbulenten Phase“ befinden mit mehr oder minder starken regressiven Veränderungen, wo die Rechte und die extreme Rechte wieder ans Ruder kommen. Aber auch das gilt nur bedingt, wenn wir an Mexiko oder Argentinien denken, wo eine Mitte-Links-Regierung an der Macht ist.

Im Zuge der kapitalistischen Weltkrise wollten die hiesigen Bourgeoisien den klassenübergreifenden Koalitionen der „fortschrittlichen“ Ära ein Ende bereiten und wieder zu einer strikten neoliberalen Sparpolitik oder gar zu faschistoiden Regimen wie in Brasilien übergehen. In dieser turbulenten Phase gibt es eine gute Nachricht, nämlich dass die „antagonistischen“ Volksbewegungen ihren Widerstand fortsetzen und ihn sogar mit dem Auftreten neuer und zahlreicher sozialer Akteure wiederbeleben. Und wer ist heute in der Offensive? An erster Stelle die Frauenbewegung, einer der zentralen Akteure des Klassenkampfes in Chile, Argentinien und Mexiko! Wer hat es geschafft, in jüngster Zeit in Lateinamerika zwei Millionen Menschen auf die Straße zu bringen? Die feministische Bewegung in Chile und Argentinien, nicht die revolutionäre Linke! Diejenigen, die ausschließlich auf die Arbeiterklasse als Motor des sozialen Wandels setzen, können Lateinamerika nicht verstehen! Die argentinische trotzkistische Linke, die eine der aktivsten der radikalen Linken ist, kann 100 000 Menschen auf die Straße bringen, aber nicht eine Million!

Ich möchte auch daran erinnern, dass in der zweiten Jahreshälfte 2019 in Haiti, Chile, Kolumbien, Guatemala und Brasilien breite Proteste gegen Sparpolitik, autoritäre Tendenzen und Neoliberalismus entstanden sind. Welche politischen Organisationsformen vonnöten sind, muss weiter diskutiert werden: ob Partei oder nicht, Spontaneismus versus Organisation, welche Einheitsfronten etc.

Ganz zu schweigen von den Auswirkungen der Covid-Pandemie auf alle gesellschaftlichen Bereiche, zumal der Subkontinent mit 250 000 Todesfällen zu den am stärksten betroffenen Regionen der Welt gehört. Die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (span. CEPAL) rechnet damit, dass das BIP in der Region 2020 um durchschnittlich 9 % sinken wird und mehr als 45 Millionen Menschen (wieder) verarmen werden und damit die Zahl der Armen auf 220 Millionen Menschen steigt. Dabei ist die explosive Zunahme der Entlassungen und der prekären Beschäftigung (die bereits allgegenwärtig ist) noch nicht berücksichtigt. Das ist schrecklich. Gleichzeitig sind der Ausnahmezustand, die Militarisierung des öffentlichen Lebens und die Ermordung von Vertreter*innen der sozialen Bewegungen überall in der Region auf dem Vormarsch (am deutlichsten in Kolumbien).

Trotz allem kommt es immer wieder zu Kämpfen seitens der Feministinnen, indigener Gemeinschaften, prekärer Jugendlichen, Gewerkschaften und kämpferischer Arbeiter, kritischer Intellektuellen und Studenten, der Bauernschaft von La Via Campesina etc. Dadurch entstehen Räume, über Alternativen zu den extraktivistischen und abhängigen kapitalistischen Regimen, zu Neoliberalismus, Militarismus, Patriarchat und Klimawandel zu diskutieren. Auch die Bewegungen der Landlosen, der Obdachlosen, der Afrikanischstämmigen, der LGBQTI+ sind aktiv, trotz aller Probleme sowie des Drogenhandels und der Gewalt im Alltag. Das hält die Hoffnung am Leben, trotz Bolsonaro, Piñera, Añez und ihresgleichen. Das „Ende der Geschichte“ ist nicht für morgen angesagt, und schon gar nicht in Lateinamerika …

Aus BALLAST vom 7.10.2020

Übersetzung: MiWe


[1] Franck Gaudichaud et al., Fin de partie ? Amérique latine : les expériences progressistes dans l’impasse (1998–2019), Paris, 2020

[2] Etwa der Peronismus in Argentinien, die Regierung Vargas in Brasilien oder Cardenas in Mexiko in den Jahren 1930–1940 (Anmerkung des Interviewers).

[3] Ausbeutung natürlicher Gemeingüter, die hauptsächlich für den Export bestimmt sind und zumeist gemeinsam mit dem Auslandskapital gewonnen werden.

[4] Correa hatte 2007 angeboten, auf die Ausbeutung der dortigen Erdölvorkommen zu verzichten, wenn die internationale Gemeinschaft die dadurch entstehenden Einnahmeverluste durch einen Finanzfonds ausgliche. Nachdem aber nur wenig mehr als 1% der erforderlichen Summe zusammenkam, genehmigte er 2013 die ersten Bohrungen.

[5] Dieser letzte Satz ist vom Datum her überholt, wegen der damaligen Sicht auf die Wahlen aber nicht herausgenommen worden [Anm. d. Red.].

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