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Innenpolitik

Die Lebensmittelpreise im Spätkapitalismus

Von Philipp Xanthos | 01.06.2008

Die Analysten, Chef-Planer und anderen gut bezahlten „HellseherInnen“ der Gesellschaftsinhaber ließen die Bevölkerung in der zweiten Maihälfte mittels der ihnen gehörenden Massenmedien wissen, dass noch in diesem Jahr eine neue Preiswelle „droht“ (vgl. z. B. Die Welt vom 19.05.08). Warum die wenigsten den provokant-zynischen Gehalt dieser Mitteilung erkennen, ist rätselhaft, kann es doch nur zweierlei bedeuten…

Die Analysten, Chef-Planer und anderen gut bezahlten „HellseherInnen“ der Gesellschaftsinhaber ließen die Bevölkerung in der zweiten Maihälfte mittels der ihnen gehörenden Massenmedien wissen, dass noch in diesem Jahr eine neue Preiswelle „droht“ (vgl. z. B. Die Welt vom 19.05.08). Warum die wenigsten den provokant-zynischen Gehalt dieser Mitteilung erkennen, ist rätselhaft, kann es doch nur zweierlei bedeuten:

Entweder gesteht das federführende Verwaltungspersonal des Kapitalismus seine Macht- und Ratlosigkeit gegenüber den jüngsten Entwicklungen des Marktes offen ein, oder aber die künftigen Preiserhöhungen sind gewollt und bereits auf den Konten der Bourgeoisie verbucht. Die Preisstei­ger­ungen stellen einen weltweiten Angriff auf die Lebensverhältnisse der Arbeiter­Innenklasse dar, eine Massenrepression gerade gegen die Ärmsten; denn sie betreffen neben der Energie vor allem die Lebensmittel.
Anteil fürs Essen
In seinem gleichnamigen Werk vom Spätkapitalismus (1972) analysiert Ernest Mandel diese (für ihn) jüngste Epoche der kapitalistischen Entwicklung. Ausgehend sowohl von ihren eigenen inneren Gesetzen, als auch von den konkreten Klassenkämpfen im Weltmaßstab wird die Entwicklung des Kapitalismus in ihren Ursachen und Auswirkungen in der Zeit nach dem „klassischen“ Imperialismus (d. h. ab ca. 1940) dargestellt. Hier fällt nun auf, dass für Mandel (unbeschadet des Vorhandenseins einer permanenten allgemeinen Inflation) gerade relativ niedrige Lebensmittelpreise ein konstitutives Merkmal des Spätkapitalismus sind:

„Dieser Prozess der Spezialisierung und Arbeitsteilung in der Landwirtschaft vollzog sich bis zum Vorabend des Zweiten Weltkrieges langsamer als in der Industrie. […] Aber mit einiger Verspätung setzte […] die Mechanisierung und Chemisierung der Landwirtschaft […] mit voller Wucht ein. Das Zeitalter des Spätkapitalismus steht […] im Zeichen einer in der Landwirtschaft rascher als in der Industrie steigenden Arbeitsproduktivität [Hervorhebungen im Original]“. Und weiter: „Das rasche Wachstum der landwirtschaftlichen Arbeitsproduktivität […] hat zu einem rapiden Rückgang der relativen Landwirtschaftspreise geführt, die die klassische Wert- bzw. Preisstruktur dieser Waren in den imperialistischen Ländern umgeworfen haben.“

Die ArbeiterInnen, zumindest in den Ländern mit hoher Arbeitsproduktivität, müssen folglich im Spätkapitalismus nur noch einen im Vergleich zu früheren Zeiten relativ geringen Teil ihres Einkommens für Lebensmittel aufwenden (was in den letzten Jahrzehnten auch der Fall war). Diese Entwicklung schafft erst die Bedingungen für den „Dienstleistungssektor“, der seinerseits nur einen Bestandteil der Kapitalisier­ung aller Lebensbereiche ausmacht. Es lässt sich heute aber feststellen, dass die Teuerung bei den Lebensmittelpreisen stärker ist als die allgemeine Teuerung. So stellt sich die Frage, inwiefern sich die jüngsten krisenhaften Entwicklungen noch in der Theorie des Spätkapitalismus erfassen lassen. Doch bei Mandel ist alles Tendenz, nichts absolut:

„Die teilweise immer noch [?] starken Preisschwankungen auf dem Weltmarkt spiegeln die Fluktuationen der Vorräte und der plötzlich auftauchenden Mangelerscheinungen wider […]. Da die Erzeugung diesen Schwankungen nicht unmittelbar folgen kann [der Natur der Sache nach, P.X.], die Bauern in der Furcht vor der chronischen Überproduktion leben, die staatliche Regelung in den imperialistischen Ländern eher die Einschränkung als die Ausdehnung der Produktion prämiert, wird die Produktion nicht rasch ausgedehnt […]“.

Neue Entwicklungen
Jedoch gibt es noch andere neuere Entwicklungen, die eine konsequent marxistische Aktualisierung von Mandels ökonomisch-theoretischem Meilenstein, der seinerseits eine Weiterentwicklung von Lenins Imperialismuskonzeption ist, nötig erscheinen lassen. Genannt seien hier nur die Arbeitslosigkeit und das Verschwimmen der Grenzen zwischen „Erster“ und „Dritter Welt“: das neue Antlitz der Weltordnung.

Die Preisentwicklung jedenfalls ist auch Ausdruck des Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen – unter den drückend schlechten Verwertungsbedingungen des Kapitals im 21. Jahrhundert.

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