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Die Krise der bürgerlichen Demokratie

01.08.2003

Bürgerliche Gesellschaft und Demokratie gehören zusammen, zumindest in reichen Industrieländern. So denken viele und so hämmern es uns die Medien tagtäglich ein. Ein kurzer Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass bürgerlich-demokratische Verhältnisse zumeist erst im 20. Jahrhundert, häufig erst nach dem Zweiten Weltkrieg erkämpft wurden. Und die Kriege des letzten Jahrzehnts und der offen erklärte weltweite und permanente ”Krieg gegen den Terror”, der von zahllosen Überwachungsmaßnahmen begleitet ist, deuten darauf hin, wie gefährdet diese Freiheitsrechte heute wieder sind.

Der auf dem Bruch des internationalen Völkerrechts und der Proklamierung des militärischen Faustrechtes beruhende Krieg gegen den ”internationalen Terrorismus” fördert nicht nur Militarisierung und Massenmord, er setzt auch das Zerstörungswerk an der Glaubwürdigkeit zentraler Grundwerte der bürgerlichen Aufklärung fort. Demokratische Errungenschaften werden von den Herrschenden bei der erstbesten Gelegenheit in Frage gestellt und abgebaut, ganze Teile der Menschheit für nicht demokratiefähig erklärt.

Die Krise der bürgerlichen Demokratie beginnt freilich schon mit ihrer Geburt. Die ”Freien und Gleichen” waren von Anfang an höchst ungleich. Das kapitalistische Bürgertum braucht und verteidigt die Demokratie als Form gesellschaftlicher Freiheit nur solange, wie sie ihr zur Durchsetzung ihrer eigenen Klassenherrschaft, der Herrschaft der freien Besitzrechte des Einzelnen und dem alltäglichen Funktionieren des Kapitalismus nützlich ist. Ihr Demokratie- und Freiheitsverständnis ist entsprechend strukturell begrenzt – nur wer Besitzbürger ist, ist ein vollwertiger Mensch. Was sie aktiv durchsetzt und verteidigt, ist die formale Freiheit, die staatsbürgerlich-politische und individualrechtliche Freiheit des Einzelnen. Sie ”vergisst” ihren ursprünglich formulierten allgemein-menschlichen universalen Emanzipationsanspruch. Ihrem Klasseninteresse entspricht es, das auf soziale Freiheit pochende Nachdrängen der unteren Schichten zu bekämpfen. Im kapitalistischen Alltag fehlen der großen lohnabhängigen und eigentumslosen Mehrheit der Bevölkerung die Zeit und die Mittel, tatsächlich Herrschaft auszuüben. Die Herrschaftsausübung wird an eine schmale Elite von Kapitaleignern und deren politische, ideologische und bürokratische Sachwalter ”delegiert”, die in aller Regel ihrerseits den ”Sachzwängen” der kapitalistischen Marktwirtschaft gehorchen. Mit dem Eindringen von Abgeordneten der Arbeiterbewegung in die bürgerlichen Parlamente fand ein Prozess der Auslagerung wesentlicher Entscheidungen in Bürokratie und Exekutive statt, der heute im Agieren formaldemokratisch nicht kontrollierter supranationaler Institutionen einen neuen Höhepunkt findet.

Doch die lohnabhängige Klasse mit allen ausgebeuteten und unterdrückten Schichten der Bevölkerung, ihre sozialistischen Organisationen und Parteien, ihre Vereinigungen und Bewegungen kann ohne demokratische Rechte und Freiheiten ihre gesellschaftspolitischen Ziele nicht erreichen und nicht einmal ernstlich dafür kämpfen.

Die anspruchsvollen marxistischen Versuche, den bürgerlichen Staat auch in seiner demokratischen Form als ”ideellen Gesamtkapitalisten” zu erklären, als Ausgleichs- und Vermittlungsebene der Interessen der ”vielen Kapitale” mit den vorherrschenden Interessen der großen Kapitalgruppe sowie mit denen der Kleineigentümer und der besser gestellten Schichten der Lohnabhängigen, behalten ihre Gültigkeit, obwohl die Herrschenden unter den Bedingungen des Spätkapitalismus bemüht sind, die gesellschaftliche Wirklichkeit Zuständen anzunähern, die eher den vereinfachten vulgärmarxistischen Versionen (”Herrschaft der Monopole”) entsprechen. Selten war der unmittelbare Lobbyismus des Großkapitals so schamlos sichtbar wie heute. Häufig liefert er geradezu die Blaupausen für die Regierungspolitik und die EU-Beschlüsse (Rolle des ERT* ). Darüber hinaus mehren sich die Fälle unmittelbarer Regierungsübernahme durch große Kapitalisten bis hin zum Bereich der großen Lumpenbourgeoisie (Phänomen Berlusconi). Der Internationalisierungsprozess des Kapitals (”Globalisierung”) führt zu einer tiefen Glaubwürdigkeitskrise nationaler Politikansätze und zu starker Bereitschaft bürgerlicher und reformistischer Parteien, dem ”eigenen Standortvorteil” soziale und ökologische Belange unterzuordnen oder zu opfern.

Ein weiterer Aspekt der zunehmenden Krise der bürgerlichen Demokratie ist die wachsende Macht der Exekutive und der bürokratischen Apparate. Die Abgeordneten der Parlamente, ihrerseits der Kontrolle durch ihre WählerInnenschaft enthoben, erweisen sich mehr und mehr als dekorative Anhängsel der wirklichen Entscheidungsträger. Dies ist auf der Ebene der EU am ausgeprägtesten, weil dort die Entscheidungen zwischen der Kommission und den nationalen Regierungen ausgehandelt werden und die Abgeordneten die Vorgaben kaum beeinflussen können, sofern sie überhaupt informiert werden (Beispiel: die GATS-Verhandlungen). Besonders bedrohlich in diesem Zusammenhang sind die demokratisch nicht kontrollierbaren Geheimdienste und Sonderpolizeikräfte, die in der Hand einer rechtsextremistischen Regierung eine tödliche Gefahr nicht nur für die radikale Linke, sondern auch für ArbeiterInnenbewegung bis hin zu den systemkonformen Gewerkschaften und zur verbürgerlichten Sozialdemokratie sein könnten.

Hinzu kommen die immer weniger voneinander unterscheidbaren Politikangebote der etablierten Parteien. Die neoliberale Glaubenslehre mit ihrer Konkurrenzlogik auf allen Ebenen ist scheinbar ohne realistische Alternative. Die Unterschiede sind nur noch durch sorgfältige Analyse zu ermitteln und beziehen sich nicht auf die grundsätzliche Richtung, die im neoliberalen Einheitsdenken nur noch abweichende Nuancen zulässt, die sich wesentlich mehr auf die Vermittlung und Durchsetzung als auf die groben Inhalte der Politik beziehen. Eine glaubwürdige Alternative links von diesem Einheitsbrei ist erst in kleinen Ansätzen vorhanden.

Sichtbarer Ausdruck der Glaubwürdigkeitskrise der bürgerlichen Demokratie ist der um sich greifende Zynismus mit einer der Waschmittelreklame gleichenden Wahlwerbung, der scheinbar unaufhaltsame Rückgang der Wahlbeteiligung und das, was als ”Parteien- und Politikverdrossenheit” bezeichnet wird. Diese Haltungen sind durchaus zweischneidig. In dem Maße, wie es nicht gelingt, eine glaubwürdige linke A
lternative aufzubauen, können diese Stimmungen leicht in Demokratiefeindlichkeit, Demoralisierung und Verzweiflung umschlagen und rechtspopulistischer Rattenfängerei in die Hände spielen.

Die sozialistische Bewegung hat sich in den Bewegungen der dreißiger und vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts (1848) aus dem linken Flügel der radikalen Demokratie entwickelt. Der klassische Sozialismus marxistischer Provenienz teilte die ursprünglichen Ziele und Impulse bürgerlichen emanzipativen Denkens und er ging über sie hinaus, indem er die Aufhebung der Klassen und soziale Gleichheit als Voraussetzung für die freie Entfaltung der Individuen einklagte. Die Erzieher müssen selbst erzogen werden, schrieb Marx in den Thesen über Feuerbach, und zwar durch den kollektiven revolutionären Emanzipationsprozess des zeitgenössischen Proletariats, der lohnarbeitenden Klasse. Individuelle Selbstveränderung und kollektive Änderung der gesellschaftlichen Umstände sind dialektisch vermittelt, fallen ihrem Wesen nach zusammen und machen das aus, was Karl Marx in seiner dritten Feuerbachthese unter revolutionärer Praxis verstand. Nur im Kampf der lohnabhängigen Klasse und aller Ausgebeuteten und Unterdrückten gegen die kapitalistische Klasse treibt die bürgerliche Gesellschaft über sich selbst hinaus. Aus der kollektiven Selbstaktivität und Selbstorganisation des Proletariats zusammen mit anderen ausgebeuteten und unterdrückten Schichten der Gesellschaft allein kann eine wirklich demokratische Herrschaft entstehen, die von Anfang an den Keim des Absterbens der Herrschaft von Menschen über Menschen in sich trägt.

Soweit die Theorie. Im wirklichen zeitgenössischen Bewusstsein jedoch ist die Glaubwürdigkeitskrise der sozialistischen Ideen nach wie vor mindestens so akut wie diejenige der bürgerlichen Demokratie. Die Erfahrung des Stalinismus, einer Geschichte von brutaler Unterdrückung, bürokratischer Gängelung und gesellschaftlicher Bevormundung ist dafür ebenso verantwortlich wie die Bürokratisierung und Verkrustung der weitgehend ins System integrierten sozialdemokratischen ArbeiterInnenbewegung und die von vielen stillschweigend gezogene Bilanz, dass bislang noch jede Freiheitsbewegung und jeder emanzipatorische und sozialistische Ansatz, soweit er wirkungsmächtig wurde, in Stellvertreterpolitik und Anpassung an das schlechte Alte endete. Die Erkenntnis breiter Schichten der Lohnabhängigen und der rebellierenden Jugend, dass Freiheit, Demokratie, umfassende Emanzipation und Sozialismus untrennbar zusammen gehören, muss erst wieder neu erkämpft und vermittelt werden.

Wurde Freiheit vom Bürgertum wesentlich als Abwesenheit politischer Bevormundung und feudaler Fesselung des ”freien Unternehmertums” verstanden, so wurde Freiheit von großen Teilen der sozialistischen Bewegung ebenso negativ gefasst, als Abwesenheit von materiellem Elend, von sozialer Unterdrückung und Entrechtung. Auf dem Erfahrungshintergrund des 19. und frühen 20. Jahrhundert lässt sich dies gut verstehen. Die eigentliche Idee der Freiheit ist jedoch eine positive. Nicht die ‘Freiheit von’ steht hier im Vordergrund, sondern die ‘Freiheit zu’, die Freiheit zu allseitiger Entfaltung der Persönlichkeit. Diese dritte Stufe ist von den ersten beiden unterschieden, indem sie beide untrennbar auf höherer Ebene vereinigt. Diese humanistische Zielsetzung ist es, die die sozialistische Bewegung mit der revolutionär-bürgerlichen verbindet. Die Tragik der sozialistischen Bewegung im 20. Jahrhundert besteht darin, diese beiden Seiten von Freiheit auseinander zu dividieren und die eine gegen die andere auszuspielen – zumeist getrieben vom Eigeninteresse privilegierter und unabhängig von der Masse Macht ausübender Schichten, die alle möglichen Ausflüchte erfanden, um ihren Substitutionismus (ihre Ersatzhandlungen) zu rechtfertigen.

Die Sozialdemokratie, die sich historisch nicht zu Unrecht als Vorkämpferin der Demokratie sah, verwischte im Laufe des 20. Jahrhundert die Grenzen zwischen bürgerlicher Demokratie und Sozialismus und setzte auf eine graduelle Demokratisierung. Sie beschränkte sich dabei auf die erste, die bürgerliche Stufe der Freiheit, und gab sich damit zufrieden, die Arbeiterklasse zum formal gleichberechtigten Bestandteil bürgerlicher Herrschaft zu machen. Der nominalsozialistische Partei-”kommunismus” verabsolutierte dagegen den Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft, und warf mit ihr auch die Errungenschaften der ersten Stufe menschlicher Freiheit über Bord. Beide Hauptströmungen der sozialistischen Arbeiterbewegung im 20. Jahrhundert sahen in der ”Entwicklung der Produktivkräfte” ihr wesentlichstes Ziel, weil sich dadurch größere Spielräume für Freiheit und Selbstbestimmung quasi naturwüchsig ergäben. Das Ergebnis war eine tiefe Entfremdung der verdinglichten Persönlichkeit.

Zur Erneuerung der komplexen Dialektik von Demokratie und Sozialismus braucht es eine Rückkehr zu den Quellen des Sozialismus. Als Aktualisierung eines Freiheitsbegriffs im umfassenden, emanzipatorischen Sinne und als Aktualisierung der klassisch-sozialistischen Erfahrung, dass ein solcher frühbürgerlich-radikaldemokratischer Freiheitsbegriff nur mittels des antagonistischen Klassenkampfes zu realisieren sein wird: Keine wirkliche Demokratie ohne Sozialismus, kein Weg zum Sozialismus ohne Demokratie als umfassende gesellschaftliche Partizipation.

Diese Fragestellung ist nicht abstrakt. Es geht darum, welche gesellschaftlichen Ziele wir als Sozialistinnen und Sozialisten heute anstreben und von welchen grundsätzlichen Werten wir uns dabei leiten lassen. Erst von hier aus erschließt sich der Sinn einer erneuerten Kapitalismuskritik. Erst von hier aus erschließt sich auch die schöpferische Kraft der Vorschläge, die wir in politische und soziale Bewegungen einbringen wollen und können. Wir müssen also sowohl an einem Bezugssystem sozialistischer Theorie und Praxis arbeiten als auch an deren praktischer Umsetzung. Ohne ein alternatives, positiv bestimmtes Bezugssystem bliebe letztlich unklar, dass wir diese Gesellschaft nicht nur aus moralischen Gründen ablehnen. Und ohne praktisches politisches Eingreifen können wir nicht testen, ob unser Bezugssystem mehrheitsfähig oder etwa autoritär-elitär ist und daher verworfen werden muss. Ablehnung jeder Stellvertreterpolitik einschließlich einer gesunden Selbstkritik in Permanenz sind eng mit unseren politischen Zielen verbunden.

Dass Demokratie und Sozialismus, individuelle wie kollektive Freiheit nicht nur als Ziel- und Leitvorstellung zusammengehören, dass zwischen ihnen auch eine produktive Dialektik des Weges besteht, dass ein radikales Verständnis von Demokratie einen gleichsam natürlichen Bün
dnispartner im radikalen Verständnis des Sozialismus findet, wie auch umgekehrt, offenbart sich schnell, sobald wir konkret werden. Alle sozialistischen Vorschläge, Teil- und Übergangsforderungen lassen sich als Bestandteile des Kampfs um wirkliche Demokratie formulieren.

Die Ausweitung der politisch-rechtlichen Freiheit auf die soziale Freiheit bedeutet die Aufhebung von Hierarchien und Ausbeutungsstrukturen in Betrieben und Büros. Die Demokratie darf nicht an den Betriebstoren aufhören. Das geht jedoch nicht ohne die Aufhebung von Profitlogik, Konkurrenzkampf und Eigentum an gesellschaftlichen Produktionsmitteln. Dies wiederum ist nichts anderes als die Überwindung der Marktwirtschaft, die Überwindung des mit dem bürgerlichen Privateigentum unlöslich verschränkten indirekten Vergesellschaftungsprinzips, das den Menschen als schicksalhafte und fremde Macht gegenüber tritt.

Es ist keine grundsätzlich andere Gesellschaft, keine solidarische Gesellschaft denkbar, wenn sie nicht prinzipiell mit den Imperativen der Marktwirtschaft bricht, wenn sie nicht die Trennung von Produktionsmitteln und ProduzentInnenen aufhebt und eine demokratische Verwaltung der Produktion durch die assoziierten ProduzentInnen herbeiführt. Eine ‘sozialistische Marktwirtschaft’ ist schon begrifflich Nonsens. Es geht statt dessen um die Sozialisierung des Marktes, um eine demokratisch geplante Ökonomie, um die planvolle Vergesellschaftung kollektiver Konsumtionsbedürfnisse (Ernährung, Gesundheit und Wohnen, Umwelt, Transport und Energie, Kultur und Erziehung).

Die traumatischen Erfahrungen mit der bürokratisch gelenkten Planwirtschaft stellen uns dabei vor das besondere Problem der Bürokratie und die institutionellen Möglichkeiten einer nachhaltigen Demokratisierung jeder Form von Planwirtschaft. Hierbei genügt nicht die Selbstverwaltung der einzelnen Betriebe, sondern gerade demokratische Entscheidungsprozesse über die großen Richtungsfragen der wirtschaftlichen Entwicklung unterscheiden eine sozialistische Demokratie von jener Art Scheinsozialismus, in der die große Mehrheit Objekt der Entscheidungen von Funktionsträgern bleibt.

Eine nachhaltige Demokratisierung der Politik beinhaltet die Überwindung sozialer Unfreiheit und den Abbau von Hierarchien und sozialen Privilegien. Ohne dies gibt es keine Überwindung der rein politischen, d. h. der nur staatsrechtlichen Emanzipation. Diese Überwindung kann nur im Sinne einer dialektischen Aufhebung gelingen, bei der beide Stufen der Freiheit, die politische wie die soziale, auf höherer Ebene nicht nur erhalten bleiben, sondern sich erst ernstlich verwirklichen. Es geht um die möglichst umfassende Durchsetzung direkter Demokratie und das Zerstören und Absterben rein politischer Herrschaftsformen. An erster Stelle steht dabei die Abschaffung der repressiven Elemente politischer Herrschaft wie Militär, Polizei, Geheimdienste usw., sodann müssen die Voraussetzungen von Bürokratie und Herrschaft überhaupt beseitigt werden. Bei Garantie aller formalen Rechte und Freiheiten kann nur eine radikale Verkürzung des Erwerbsarbeitstags bei Vergesellschaftung und, soweit dies nicht geht, gleichmäßiger Verteilung aller anfallenden unbezahlten Arbeiten eine wirklich demokratische Selbstverwaltung auf allen Ebenen der Gesellschaft ermöglichen. Ohne ein Höchstmaß an freier Zeit ist der Prozess direkter Demokratie immer gefährdet. Direkte Demokratie meint hierbei nicht plebiszitäre Abstimmungen, die der Demagogie Tür und Tor öffnen, sondern demokratische Debatten und Abstimmungen auf den jeweils sachlich gegebenen Ebenen. Da Menschen Fehler machen, müssen sie diese gemeinsam machen, um daraus lernen zu können. Wir lehnen alle Rechtfertigungen von Minderheiten ab, die für sich beanspruchen, für den Rest der Menschheit selbstherrlich zu entscheiden, unter dem Vorwand, dass sie klüger und aufgeklärter seien. Solche Minderheiten verselbständigen sich immer und entwickeln Eigeninteressen, die dem Lern- und Emanzipationsprozess der Mehrheit tausend Mal mehr schaden als jeder Fehler, der aufgrund eines wirklich demokratischen Entscheidungsprozesses gemacht wird.

Unsere Utopie ist die herrschaftslose Assoziation freier Individuen. Alle Erfahrung lehrt, dass wir auch nach einer sozialistischen Revolution noch über längere Zeit politische Repräsentations- und Verwaltungsorgane brauchen – und damit auch eine Form des Staates. Wenn der Schwung der großen Massenbewegung im Wellental ausläuft, werden die institutionellen Garantien der sozialistischen Demokratie besonders wichtig, wie etwa die jederzeitige Abwählbarkeit, die Ausschließung materieller Vorrechte von MandatsträgerInnen, die volle Freiheit der Assoziation einschließlich des Parteienpluralismus, die nach geschriebenem Recht urteilende unabhängige Justiz mit vom Volk gewählten RichterInnen und die Verteilung der Mittel der Meinungsbildung nach demokratischen Kriterien. Solange überhaupt noch ein bestimmtes Maß an Macht- und Entscheidungsbefugnis delegiert werden muss, sind Mechanismen radikal-demokratischer Machtkontrolle unabdingbar.

Den heutigen Zuständen können und müssen wir in Übereinstimmung mit unseren Zielen mit der Forderung nach wirklich demokratischen Verhältnissen entgegentreten. Fortgeschrittene Erfahrungen wie die mit dem Beteiligungshaushalts in Porto Alegre, wo die Bevölkerung über die Prioritäten des Investitionshaushaltes selbst befinden kann, müssen von uns zur Verdeutlichung der Richtung (nicht zur mechanischen Nachahmung) genutzt werden.

Eine Demokratisierung der Kultur verlangt die Überwindung der ausgrenzenden Spaltung von Völkern, Klassen, Schichten, Geschlechtern und Ethnien. Demokratisierung der Kultur heißt Überwindung der herrschenden, vom Markt bestimmten Kultur ebenso wie die Überwindung eines militanten Partikularismus als deren oppositionellem Reflex (Nationalismus, Fundamentalismus, Sexismus, aber auch die verschiedenen Formen von Identitätskulturen). Sie richtet sich gegen bürgerliche Atomisierung und Klassenspaltung, gegen materielles wie geistiges Elend. Es geht ihr um die "Veredelung" des Menschen, um eine Aufhebung des tendenziellen Widerspruchs zwischen Kultur und Leben, zwischen Universalität und Lokalität, kurz: um eine Ethik der Solidarität. Die Neu(be)gründung der Bewegung der Arbeitenden, die wir wollen, schließt die Entwicklung, soziale Verankerung und Stabilisierung von Keimformen dieser Solidarität bereits heute unter kapitalistischen Verhältnissen mit ein.

Auf allen genannten Gebieten zeigt sich schnell, dass jede konsequente Verteidigung radikal-demokratischer Leitwerte zur sozialistischen Infrage
stellung bürgerlicher Demokratie führt.

 

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