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Betrieb & Gewerkschaft

„Die große Wut und die kleinen Schritte“

Von Jochen Sussa | 01.07.2010

Unter dem Titel „Die große Wut und die kleinen Schritte: Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt“ brachte pünktlich zum 1. Mai 2010 der Historiker und Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg Dr. Peter Birke, der auch in den sozialen Bewegungen aktiv ist, ein kleines, aber interessantes Buch heraus.

Unter dem Titel „Die große Wut und die kleinen Schritte: Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt“ brachte pünktlich zum 1. Mai 2010 der Historiker und Lehrbeauftragte an der Universität Hamburg Dr. Peter Birke, der auch in den sozialen Bewegungen aktiv ist, ein kleines, aber interessantes Buch heraus.

In dem Buch wird geschildert, wie in den USA auf die Krise der Gewerkschaften, die seit Jahren an Einfluss und Mitgliedern verlieren, reagiert wurde. Man begegnete dieser Krise mit Techniken der Organisierung, die zuvor in den sozialen Bewegungen erprobt worden waren. „Als Vorbild galten die Protestaktionen der Gebäudereiniger­Innen in Los Angeles. Ihre „Justice for Janitors“-Aktionen wurden weithin bekannt und stilbildend. Seitdem erfuhr der Traum von einer Erneuerung der Weltgewerkschaftsbewegung Auftrieb und Organizing wurde zum Zauberwort.“

„Organizing […] bezeichnet ein Bündel an Maßnahmen für die Mitgliedergewinnung – meist von Gewerkschaften, […] – und für die Stärkung der eigenen Durchsetzungskraft, das in dieser Form erstmals in den Armenvierteln von Chicago in den 1920er Jahren angewandt wurde. […]

Die großen Gewerkschaften im anglo-amerikanischen Raum unterhalten zu diesem Zweck eigene Organizing-Institute, in denen professionelle Aktivisten [„Organizer“] ausgebildet werden, deren hauptamtliche Arbeit darin besteht, in Betriebe mit niedrigen Löhnen, schlechten Arbeitsbedingungen und zumeist geringem Organisationsgrad zu gehen und die Beschäftigten für eine Mitgliedschaft in der Gewerkschaft zu gewinnen. Im zweiten Schritt wird dann gemeinsam mit den Beschäftigten ein Arbeitskampf für vorher konkret definierte Ziele organisiert, in den die Beschäftigten zumeist auch stark eingebunden sind. US-Gewerkschaften konnten so in den letzten Jahrzehnten mehrere Millionen neuer Mitglieder gewinnen.
In Deutschland beginnen die großen Gewerkschaften, Organizing als Strategie in einzelnen Pilotprojekten einzusetzen“ (Wikipedia).
„Organizing“ in Deutschland?
Für die Skeptiker unter den Gewerkschaftskolleg­Innen in Deutschland ist der US-Import „Organizing“ „schon immer nicht viel mehr als eine Sammlung von Psychotechniken, Marketingstrategien und anderen Betrugsmanövern […], die sich der Gewerkschaftsapparat ausgedacht habe, um sich ein neues, jugendliches Image zu verleihen.“ Ein Genosse sagte zu mir, das beste Organizing sei eine anständige Tarifrunde.

Peter Birke stellt anhand einer Reihe von Beispielen die kritische Frage, ob die Methoden, die ein Teil der US-Gewerkschaftsbewegung entwickelt hat, auch auf die Bundesrepublik übertragbar sind. Dazu hat er in seinem sehr materialreichen Buch eine Vielzahl an Literaturhinweisen aus der internationalen Gewerkschaftsbewegung und linken Bewegung aber auch eigene Erfahrungen und Gespräche mit an Kämpfen Beteilig­ten ausgewertet.

Er zeigt auf, wie Gewerkschaften in Organizing-Projekten versuchen auf Veränderungen in der Zusammensetzung der Belegschaften, auf Veränderungen in der Organisation der Arbeitsprozesse und Verschiebungen in den Sektoren der Produktion einzugehen.
Dabei kommen Beschreibungen und Bewertungen von Projekten in der Bundesrepublik nicht zu kurz, wie z. B. die Kampagnen bei Schlecker, Lidl, in Krankenhäusern und in Callcentern. Erfolge, Misserfolge und Probleme werden dabei nicht verschwiegen. Veränderte Formen der Kampagnen führen auch zu veränderten Formen der Zusammenarbeit mit gewerkschaftsexternen Gruppen.
Ein wichtiger Punkt dabei ist für P. Birke die Art des Umgangs miteinander. Er zitiert aus einem Gespräch mit Anton Kobel, pensionierter Geschäftsführer der HBV, der in der Schlecker-Kampagne aktiv war: “ […] es war auch ein Prozess des Suchens und Experimentierens. Schließlich handelt es sich beim Schlecker-Projekt um eine neue, uns auch nicht vollständig bekannte Form der Gewerkschaftsarbeit.“ „Kobel betont, dass die Zusammenarbeit mit außergewerkschaftlichen Individuen und Gruppen davon bestimmt sein sollte, dass die Gewerkschaften niemals versuchen sollten, die andere Seite zu kontrollieren oder zu dominieren. Außerdem käme es darauf an, die Unterstützerinnen in ihren eigenen Anliegen ernst zu nehmen und zu unterstützen.“
Beim Lesen des Buches als absoluter Laie, der in seiner Gewerkschaft mit dem Begriff des Organizing nichts zu tun hatte, fielen mir die ersten Kapitel recht schwer. Hier hätte ich mir gewünscht, dass mehr Fachtermini im Glossar noch mal alphabetisch erklärt worden wären. Insgesamt ist das Buch sehr lesenswert, lehrreich und bietet gerade in der Schilderung der einzelnen Projekte eine Fülle von Anregungen.

 

TiPP!
Peter Birke: Die große Wut und die kleinen Schritte – Gewerkschaftliches Organizing zwischen Protest und Projekt

Assoziation A, 2009
192 Seiten, 12,80 €
ISBN: 978-3-935936-86-6

 

Kurzmeldung
Die Schlecker-Kampagne hatte [einen ersten, wenn auch nur begrenzten] Erfolg. Schlecker verzichtet auf eine Lohnabsenkung für Schlecker-XL-Beschäftigte und will nach einer Vereinbarung mit ver.di jetzt für alle den Flächentarifvertrag anwenden. Näheres zum abgeschlossenen Sozialtarifvertrag in der Pressemitteilung von ver.di vom 01.06.2010: http://is.gd/d0j14

 

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